Taten statt Worte – Barmherzigkeit statt Dogmatismus

Spiegelonline beginnt seine Berichterstattung über das grosse Papstinterview vom 19.9 spektakulär: „Franziskus, der Reformer: Mit einem sensationellen Interview sprengt der Papst die Verkrustungen der Kirche. Seine für den Vatikan beispiellos progressiven Gedanken zur Sexualmoral sind eine Kampfansage an die Fundamentalisten – und rühren abtrünnige Katholiken zu Tränen“. Eine sorgfältige Analyse des Interviews bestätigt, was der Spiegel ankündigt. 

Um eine Person zu verstehen, ist es wichtig, ihre Art zu reden genauer anzuschauen. Ebenso wichtig aber ist es, zu entdecken, was ihr erkenntnisleitendes Interesse ist. Darüber spricht Franziskus an verschiedenen Stellen im Interview.

„Die Kirche heute braucht die Fähigkeit, Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen.” Hinwendung zu den Menschen ist das Markenzeichen von Papst Franziskus, hier in Wien. „Die Kirche heute braucht die Fähigkeit, Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen.” Hinwendung zu den Menschen ist das Markenzeichen von Papst Franziskus, hier in Wien.

Für ihn ist Gemeinschaft unverzichtbar. Er lebt im Zimmer 207 im Gästehaus Sanctae Marthae, wo er schon während des Konklaves lebte und isst mit den dort einquartierten Gästen und Geistlichen in der Mensa. Er wollte nicht in der päpstlichen Wohnung im Apostolischen Palast leben. „Es ist nicht luxuriös, alt, geschmackvoll eingerichtet und groß. Aber letztendlich gleicht es einem umgekehrten Trichter. Es ist groß und geräumig, aber der Eingang ist wirklich schmal. Man tritt tropfenweise ein. Das ist nichts für mich. Ohne Menschen kann ich nicht leben. Ich muss mein Leben zusammen mit anderen leben.“ Papst Johannes XXIII, der „Vater“ des Zweiten Vatikanischen Konzils, wollte das Fenster der Kirche öffnen, um frische Luft hinein zu lassen. Franziskus öffnet alle Türen und wird sich wohl kaum scheuen, zusätzliche Türen in die feste Burg Kirche zu schaffen.

In seinem Nachdenken will er die Methode, die das Vaticanum II entwickelt hat, weiterführen. Also kein Schritt hinter das Konzil zurück, sondern Schritte nach vorn. Dabei will er unterscheiden, wie ihn Ignatius von Loyola, der erste Jesuit, gelehrt hat: „Die Unterscheidung erfolgt immer in der Gegenwart des Herrn, indem wir auf die Zeichen achten, die Dinge, die geschehen, hören, mit den Menschen, besonders mit den Armen, fühlen. …“ Die Zeichen der Zeit erspüren und mit den Worten der heutigen Menschen reden.

Er trennt sich von einem Kirchenverständnis, das die Kirche als Lehrmeisterin mit absoluten Wahrheitsansprüchen versteht. Papst Franziskus hat sich mit einem Offenen Brief an die Nichtglaubenden gewandt. Darin schreibt er, es sei an der Zeit, dass Gläubige und Nichtglaubende sich gemeinsam engagierten. Der Brief erschien in der linksliberalen italienischen Tageszeitung „La Repubblica“. Franziskus antwortete darin auf Fragen Eugenio Scalfari‘s, der seit Jahrzehnten zu den führenden antiklerikalen Köpfen Italiens zählt Dem Brief des Papstes hat die Zeitung die Überschrift „Wahrheit ist nie absolut“ gegeben: „Sie fragen mich auch, ob es ein Irrtum oder eine Sünde sei zu glauben, dass es keine absolute Wahrheit gebe. Ich würde zunächst auch für einen Glaubenden nicht von, absoluter‘ Wahrheit sprechen – für den Christen ist die Wahrheit die Liebe Gottes zu uns in Jesus Christus, also eine Beziehung! Und jeder von uns geht von sich selbst aus, wenn er die Wahrheit aufnimmt und ausdrückt: von seiner Geschichte, Kultur, seiner Lage usw. Das heißt nicht, dass Wahrheit subjektiv oder veränderlich wäre, im Gegenteil. Aber sie gibt sich uns immer nur als Weg und als Leben. Hat nicht Jesus selbst gesagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit, das Leben? In diesem Suchen bleibt immer ein Bereich der Unsicherheit. Er muss da sein.“… „Wenn jemand behauptet, er sei Gott mit absoluter Sicherheit begegnet und nicht berührt ist von einem Schatten der Unsicherheit, dann läuft etwas schief. Für mich ist das ein wichtiger Erklärungsschlüssel. Wenn einer Antworten auf alle Fragen hat, dann ist das der Beweis dafür, dass Gott nicht mit ihm ist. Das bedeutet, dass er ein falscher Prophet ist, der die Religion für sich selbst benützt. Die großen Führer des Gottesvolkes wie Moses haben immer Platz für den Zweifel gelassen. Man muss Platz für den Herrn lassen, nicht für unsere Sicherheiten.“

Eine Kurzformel des erkenntnisleitenden Interesses des Papstes könnte so lauten: Am Konkreten Alltäglichen, an den Nöten des Menschen, und an den Zeichen der Zeit im Kontext der heutigen Gesellschaft im Lichte der Bibel sich orientieren. Die Optionen des zweiten vatikanischen Konzils aufnehmen und in Gemeinschaft offen für alle leben. Auf eine „absolute“ Wahrheit verzichten, weil – für den Christen die Wahrheit die Liebe Gottes zu uns in Jesus Christus ist, also eine Beziehung! Sich vor der Gefährdung der Ideologisierung schützen und wissen, dass der, der behauptet: „Hier ist Gott“ nur einen Gott nach unserem Mass findet.

Im Interview nennt er Perspektiven einer Kirche, wie er sie sieht: „Was die Kirche heute braucht, die Fähigkeit ist, die Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen – Nähe und Verbundenheit…. Gott ist größer als die Sünde. Die organisatorischen und strukturellen Reformen sind sekundär, sie kommen danach. Die erste Reform muss die der Einstellung sein. Die Diener des Evangeliums müssen in der Lage sein, die Herzen der Menschen zu erwärmen, in der Nacht mit ihnen zu gehen. Sie müssen ein Gespräch führen und in die Nacht hinabsteigen können, in ihr Dunkel, ohne sich zu verlieren. Das Volk Gottes will Hirten und nicht Funktionäre oder Staatskleriker. Die Bischöfe speziell müssen Menschen sein, die geduldig die Schritte Gottes mit seinem Volk unterstützen können, so dass niemand zurück bleibt. Sie müssen die Herde auch begleiten können, die weiss, wie man neue Wege geht.“

Die Kirche soll mit offenen Türen ausgestattet werden und „aus sich heraus und zu denen zu gehen, die nicht zu ihr kommen, die ganz weggegangen oder die gleichgültig sind.“….„Ich sehe die Heiligkeit im geduldigen Volk Gottes: Eine Frau, die ihre Kinder grosszieht, ein Mann, der arbeitet, um Brot nach Hause zu bringen, die Kranken, die alten Priester, die so viele Verletzungen haben, aber auch ein Lächeln, weil sie dem Herrn gedient haben, die Schwestern, die so viel arbeiten und eine verborgene Heiligkeit leben. Das ganze Volk Gottes- Frauen und Männer, Bischöfe und Papst machen die Kirche aus. Subjekt der Kirche ist dieses Volk Gottes. Dieser Papst will sich nicht abschotten, hinter sicheren Mauern vor dem Zeitgeist schützen. Er sucht aktiv den Kontakt mit Menschen. Er begegnet jedem mit Respekt. „Diese Kirche, mit der wir denken und fühlen sollen, ist das Haus aller – keine kleine Kapelle, die nur ein Grüppchen ausgewählter Personen aufnehmen kann. Wir dürfen die Universalkirche nicht auf ein schützendes Nest unserer Mittelmäßigkeit reduzieren. Und die Kirche ist Mutter. Die Kirche ist fruchtbar, und das muss sie sein. Schau, wenn ich negative Verhaltensweisen von Dienern der Kirche oder von Ordensmännern oder -frauen bemerke, ist das Erste, was mir in den Sinn kommt: , eingefleischter Junggeselle!‘ oder, alte Jungfer!‘. Sie sind weder V Väter noch Mütter. Sie sind nicht imstande gewesen, Leben weiter zu geben“. Auch von der Stellung der Frau in der Kirche redet er und will ihr Zugang überall dort geben, wo Entscheidungen gefällt werden „Die Reden, die ich über die Rolle der Frau in der Kirche höre, sind oft von einer Männlichkeits-Ideologie inspiriert.“

Die Petition „ Frauen als Kardinäle“, die bereits von bedeutenden Theologinnen der römisch- katholischen Kirche unterschrieben wurde, formuliert ein Anliegen in dieser Sache.

Franziskus sieht die Sexualmoral nicht im Zentrum der kirchlichen Verkündigung, wie wir es bis jetzt gewohnt waren. „„Wir können uns nicht nur mit der Frage um die Abtreibung befassen, mit homosexuellen Ehen, mit der Verhütungsmethoden. Das geht nicht. Ich habe nicht viel über diese Sachen gesprochen. Das wurde mir vorgeworfen. Aber wenn man davon spricht, muss man den Kontext beachten und nicht endlos davon sprechen…. Sie soll Schwulen und Lesben mit Anstand und Respekt begegnen, Geschiedenen, die wieder heiraten, mit Barmherzigkeit, Frauen, die abtreiben, mit Anteilnahme“….“ Einmal hat mich jemand provozierend gefragt, ob ich Homosexualität billige. Ich habe ihm mit einer anderen Frage geantwortet: ‚Sag mir: Wenn Gott eine homosexuelle Person sieht, schaut er die Tatsache mit Liebe an oder verurteilt er sie und weist sie zurück?

Der lapidare Satz: „Es darf keine spirituelle Einmischung in das persönliche Leben geben“ unterläuft das übliche Deuten der Kirche als Lehrmeisterin in allen Dingen. „ Die Kirche hat zuerst die Wunden und Verletzungen der Menschen zu heilen statt sie moralisch zu kategorisieren“…. „Die Lehren der Kirche – dogmatische wie moralische – sind nicht alle gleichwertig“. Das Kirchenbild des Papstes ist keine Umkehrung der dogmatischen Aussagen über die Kirche. Es ist aber eine fundamentale Wendung zu einer neuen Praxis der Kirchen.

Xaver Pfister, römisch-katholischer Theologe


Den integralen Text des Interviews finden Sie auf stimmen-der-zeit.de.

Der Brief an die Ungläubigen ist als Audio zu hören unter:
https://media01.radiovaticana.va/audio/ra/00389871.RM

Die Petition Frauen zu Kardinälen findet sich hier»

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