Vor 25 Jahren als Zeuge in der DDR

DDR-Bürger demonstrieren am 4. November 1989 in Berlin. (Bild: Flickr) DDR-Bürger demonstrieren am 4. November 1989 in Berlin. (Bild: Flickr)

Im Oktober 1989 war Arne Engeli zu Besuch in der DDR und geriet unerwartet mitten in den politischen Umbruch. 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hat er seine Tagebuchblätter wieder hervorgeholt.

von Arne Engeli

Ich erinnere mich an die Zeit der Wende vor genau 25 Jahren, die ich mit einer Gruppe in Zwickau, Leipzig und Desden unerwartet „live“ miterleben durfte. Damals waren die Friedensgebete in den Kirchen der Ausgangspunkt für die Demonstration. Die Kirchen haben über viele Jahre hinweg (nicht ohne interne Spannungen) ein Dach angeboten für die vielfältigsten Gruppen und waren der einzige Ort, wo sich die Menschen frei versammeln, aussprechen und lernen konnten, alternative Vorstellungen zu entwickeln. Die konziliaren Versammlungen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung hatten in der DDR all das an Kritik formuliert, was dann durch die Aufbruchbewegung entfaltet worden ist. Die Friedensgebete bündelten die Energie und gaben den notwendigen Mut zu einem gewaltfreien, öffentlichen Protest, der zur Wende führte.

 

Im wahren Sozialismus steckt das Christentum

Samstag, 7. Oktober 1989

Die Königswalder Dorfkirche (bei Zwickau) kann den Besucherstrom zum Herbst-Friedensseminar kaum auffangen. Es sind 400, dicht gedrängt bis hinauf auf den Dachboden und draussen in einem Zelt.

Alle sprechen sich für die Beibehaltung des Sozialismus aus, stecke im wahren Sozialismus doch das Christentum und im Christentum der Sozialismus. Für die Armen in der Zweidrittelwelt bringe der Kapitalismus sowieso keine Hoffnung. Es müssten jedoch Wege einer Demokratisierung und Erneuerung des Sozialismus gefunden werden, welche hinausführen aus der verhängnisvollen Symbiose von Stalinismus und deutscher Gehorsamstradition. Ein offener Dialog zwischen der Regierung und dem Volk sei dringlich, etwa im Zentralstadion zu Leipzig mit offenem Mikrofon (Applaus!).

Die offene Atmosphäre in der Kirche, wo die Menschen an langen weissgedeckten Tischen bei Kaffee und Keksen sitzen, ist beeindruckend. Offenheit, Engagement, eine beeindruckende Gesprächskultur und heitere Gelassenheit prägten die spannende Diskussionsrunde. Die Organisatoren zeigten sich erleichtert über den gewaltfreien Ablauf des Friedensseminars, hatten sie doch erfahren, dass sämtliche Sicherheitskräfte der Region im Hinblick auf die 40-Jahr-Feiern in höchste Alarmbereitschaft gesetzt worden seien.

Montag, 9. Oktober

Wir können abends in Zwickau an einem Treffen aus allen sieben Arbeitsgruppen des konziliaren Prozesses teilnehmen: Friedensbibliothek, Friedensdienst (plant Wehrdienstberatungsstelle), Gerechtigkeit in der 2/3-Welt, Gerechtigkeit in der DDR (vor allem im Bildungswesen), Ökologie, Rumänien, theologische Reflexion.

Um 21.50 Uhr bringt der Superintendent persönlich die heiss erwartete telefonische Meldung aus Leipzig, es hätten heute Abend 70 000 Leute an der Demonstration teilgenommen und es sei entgegen allen Befürchtungen zu keinem Polizeieinsatz gekommen. «Gott sei Dank» — «das hat’s ja noch nie gegeben», quittiert die Runde.

Später erfahren wir mehr über die massiven polizeilichen und militärischen Vorbereitungen (Oberbürgermeister Reitmann: «Wir werden mit aller Härte durchgreifen!») und über den «Aufruf zur Besonnenheit», den acht prominente Leipziger über Rundfunk und an den Friedensgebeten in den Kirchen verbreiten liessen.

 

Überstrapaziertes System

Dienstag, 10. Oktober

Eine Gruppe besucht eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Sie beeindruckt durch ihre gepflegten, weiten Felder und durch die ansprechenden Leistungen in den Ställen. Schwierigkeiten ergeben sich aus der Grösse. Mit über 5000 Hektaren ist das betriebswirtschaftliche Optimum weit überschritten und die Tierkonzentration ist auch aus hygienischen Gründen zu hoch.

Die Preise für die landwirtschaftlichen Produkte sind für die Erzeuger sehr gut: Für das Kilo Milch wird 1 Mark 72 gelöst, für Schweinefleisch 8 Mark und für das Kilo Rindfleisch 10 Mark, und dies bei einem Lohnniveau von rund 1000 Mark im Monat. Die hohen Erzeugerpreise werden vom Staat subventioniert, so dass die Grundnahrungsmittel erschwinglich bis billig sind. Dieses System scheint aber überstrapaziert zu werden.

 

Erklärung des Dresdner Schauspielhauses

Donnerstag, 12. Oktober

Wir sehen im Theater der jungen Generation Ionescos Stück «Die Unterrichtsstunde». Zum Schluss der Vorstellung wird aus der ganzen Truppe die Erklärung des Schauspielhauses zur aktuellen Lage verlesen (s.u.) und zur Diskussion darüber ins Foyer eingeladen. Frenetischer Applaus und engagierte Gespräche bis weit über Mitternacht.

Wir treten aus den Rollen heraus. Die Situation in unserem Land zwingt uns dazu. Ein Land, das seine Jugend nicht halten kann, gefährdet seine Zukunft. Eine Staatsführung, die mit ihrem Volk nicht spricht, ist unglaubwürdig. Eine Parteiführung, die ihre Prinzipien nicht mehr auf Brauchbarkeit untersucht, ist zum Untergang verurteilt. Ein Volk, das zur Sprachlosigkeit gezwungen wurde, fängt an, gewalttätig zu werden. Die Wahrheit muss an den Tag. Unsere Arbeit stockt in diesem Land. Wir lassen das Land nicht kaputtmachen. Wir nutzen unsere Tribüne, um zu fordern: Wir haben ein Recht 1. auf Information, 2. auf Dialog, 3. selbständiges Denken + Kreativität, 4. Auf Pluralismus im Denken, 5. auf Widerspruch, 6. auf Reisefreiheit, 7. unsere staatliche Leitung zu überprüfen, 8. neu zu denken und 9. Uns einzumischen…

Erklärung des Dresdner Schauspielshauses

 

16. Oktober

Die Nikolaikirche in Leipzig war ein Zentrum der Protestveranstaltungen und Friedensgebete. (Bild: flickr) Die Nikolaikirche in Leipzig. (Bild: flickr)

Wir begeben uns zum Friedensgebet in der Nikolaikirche in Leipzig, zusammen mit dem Marxisten Knopfe. Eine grosse Kirche mit zweitausend Sitzplätzen, übervoll. Draussen warten noch Tausende von Menschen. Seit drei Jahren haben sich ein paar einfache Menschen, die wir kennenlernen durften, in einer kleinen Seitenkapelle beharrlich Woche für Woche zu einem Gebet für den Frieden versammelt.

Heute erleben wir die Erfüllung, wenn wir singen: «Wenn einer alleine träumt, ist es nur ein Traum. Wenn viele gemeinsam träumen, so ist es der Beginn einer neuen Wirklichkeit.»

Nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche soll die Demonstration stattfinden. Nehmen wir daran teil? Gibt es Gewalt? Was passiert mit den Fallschirmspringern (ca. 800), die von der Ostsee nach Leipzig kamen? Gibt es zum ersten Mal Transparente? Wie verhält sich dann die Polizei? Und dann hören wir auf einmal die Rufe: «Wir sind das Volk! Keine Gewalt! Schliesst euch an! Demokratie – hatten wir noch nie! Gorbi, Gorbi! Neues Forum zulassen! Wir bleiben hier! Visa frei – Tschechoslowakei! Freie Wahlen!» Ähnliches steht auf den vielen Transparenten. Man sagt, es seien über 100 000 Demonstranten. Es ist ein sehr friedlicher Abendspaziergang. Die Demonstrierenden strahlen eine grosse Kraft aus. Nur vor dem Gebäude der Stasi stehen bewaffnete Polizisten. Dort wird gepfiffen.

Dienstag 17. Oktober

Als Einstieg in die Umwelt- und Energieprobleme besichtigen wir südlich von Leipzig den Braunkohletagebau. Alles ist gigantisch: die Bagger, die Mengen an Abraum, welche anfallen, um an die Kohle heranzukommen, die Grösse und Tiefe der Gruben. Die DDR bezieht ca. 90% ihres Energiebedarfs aus der Braunkohle. Jährlich werden 300 Mio. Tonnen Braunkohle abgebaut und der grösste Teil davon in Kraftwerken zur Stromerzeugung und für Heizzwecke verfeuert oder zu Briketts verarbeitet und exportiert. Da die Braunkohle und ihre Verarbeitung zur Hauptsache im Bezirk Leipzig konzentriert ist, ist die Belastung der Luft und der Gewässer hier besonders gross.

 

Honecker ist zurückgetreten

Mittwoch, 18. Oktober

Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht: Honecker ist zurückgetreten! Wer wird sein Nachfolger werden? Man hofft auf Modrow, den Dresdner SED-Bezirkssekretär, und befürchtet, es sei Krenz. Übrigens ist von Tag zu Tag in den Medien erheblich mehr Transparenz zu erkennen.

 

Frauenperspektiven in der DDR

Donnerstag, 19. Oktober

Zu Besuch bei einer Frauengruppe im Neubaugebiet Brünau. Wie schön ist das Ankommen im Kirchgemeindehaus! Ein grosser Tisch, liebevoll gedeckt und mit vielen brennenden Kerzen geschmückt, ein gluschtiges Buffet mit selbstzubereiteten Spezialitäten, dazu die herzliche Aufnahme: Mir ist’s von Anfang an wohl in dieser Runde.

Bei der persönlichen Vorstellung bekennen drei der acht Frauen, dass sie einen Antrag zur Ausreise in den Westen gestellt haben. Für mich ist es ein Schock. Bis jetzt haben wir immer von unsern Kontaktpersonen gehört, sie möchten sich in der DDR selber für Veränderungen einsetzen. Die 40jährigen Frauen nennen ihre Gründe: Das Gefühl, gegen Mauern anzurennen, ihr fruchtloser Einsatz, dazu eine persönliche Erfahrung, wegen eines westdeutschen Freundes die Stelle zu verlieren und persönlich diffamiert zu werden.

Frauenperspektiven in der DDR: Frauen sind voll ins Berufsleben integriert, die verschiedenen Berufszweige stehen sowohl Frauen wie Männern offen. Aber die Untervertretung der Frauen in Funktionen des öffentlichen Lebens erlebe ich auf der ganzen Reise. Viele Männer reden zu mir und nur wenige Frauen.

 

Im Lachen  ein Stück menschlichere Zukunft

Freitag, 20. Oktober

So wie der erste Tag unserer DDR-Reise mit einem kirchlichen Friedensseminar begann, endet der letzte mit der Teilnahme an einer kirchlichen Solidaritätsveranstaltung zugunsten bei Demonstrationen Verhafteter, welche mit Ordnungsstrafen zu rechnen haben, die zwischen 500 und 5000 Mark liegen. Bekannte Musiker, Liedermacher und Kabarettisten bestreiten mit kühnen aktuellen Beiträgen den Abend, Grafiken werden versteigert. Im Lachen der Leute gewinnt ein Stück menschlichere Zukunft an Boden.

 

Zum Autor: Arne Engeli, Politologe und ehemals Leiter des Tagungszentrums Schloss Wartesee und Programmbeauftragter des Heks. Heute ist er Koordinator des Bodensee-Friedensweges und Geschäftsführer der Stiftung Kriegstrauma-Therapie.

Die ungekürzte Fassung von Arne Engelis DDR-Erinnerungen erschien erstmals in den internen Wartensee-Nachrichten und vor 10 Jahren in der Zeitschrift Neue Wege Heft 11/1999.

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