Pastorale Barmherzigkeit genügt nicht

Amoris Laetitia – Die Freude der Liebe

Ein Kommentar von Jacqueline Keune*

Papst Franziskus liebt das Bad in der Menge. Die Menschen liebt er auch - selbst wenn sie nicht nach strengen katholischen Regeln leben. (Foto: pa/AP/Riccardo De Luca) Papst Franziskus liebt das Bad in der Menge. Die Menschen liebt er auch – selbst wenn sie nicht nach strengen katholischen Regeln leben.

Mit «Amoris Laetitia» geht es mir ein wenig wie mit dem Freund, der in den Gruppenferien in den Bergen ein Bein gebrochen hat. Was für ein Pech!, haben die einen gemeint. Glück gehabt!, die anderen, er hätte sich auch den Hals brechen können. Zum einen stellt Franziskus mit seinem Schreiben alles, was ich bisher zu Ehe, Liebe und Sexualität aus Rom gehört habe, an Einfühlung, Verständnis und Realitätssinn weit in den Schatten. Zum anderen ist er aber offenbar nicht mutig oder mächtig genug, die Lehre der Kirche auf sein Geschriebenes hin auch zu korrigieren.

Sicher, die Sprache hat sich verändert, der Ton hat sich verändert, die Sicht und die Haltung haben sich verändert – das ist sehr viel. Die theologisch-dogmatischen und kirchenrechtlichen Grundlagen aber, auf dem das geschieht, sind die gleichen geblieben. Und so bleiben auch die, die schon jahrzehntelang aussen vor sind – die wiederverheirateten und homosexuellen Menschen – weiter aussen vor und auf die (zu)geneigte Leseart und Umsetzung ihrer Bischöfe und Seelsorgerinnen und Seelsorger angewiesen. Je nachdem: Pech oder Glück gehabt.

Alle an der Liebe gescheiterten Katholik/innen, die sich nochmals trauen, bleiben grundsätzlich und vor allem schmerzlich von den Sakramenten, insbesondere der Eucharistie, ausgeschlossen. Da wirkt für mich die päpstliche Beteuerung, dass die wiederverheiratet Geschiedenen «immer Teil der kirchlichen Communio sind» (243), nur hohl. Und auch alle homosexuellen Katholik/innen werden weiter im Regen stehengelassen: «Was die Pläne betrifft, die Verbindung zwischen homosexuellen Personen der Ehe gleichzustellen, gibt es keinerlei Fundament dafür, zwischen den homosexuellen Lebensgemeinschaften und den Plan Gottes über Ehe und Familie Analogien herzustellen» (251). Und auch hier wirkt die kirchliche Ermahnung, «dass jeder Mensch, unabhängig von seiner sexuellen Orientierung, in seiner Weise geachtet … werden soll und sorgsam zu vermeiden ist, ihn in irgendeiner Weise ungerecht zurückzusetzen» (250) und gleichzeitig die Liebe zwischen zwei Frauen oder zwei Männern als weniger wertvoll zu betrachten als jene zwischen Frau und Mann, nicht glaubwürdig.

Nach all den wunderbaren, weitherzigen und weisen Worten über die Liebe, gäbe es doch nichts Folgerichtigeres, als die Ausgeschlossenen endlich herein- und an den Tisch des Brotes und der Gemeinschaft zu holen. Aber nicht mal der kleinste konkrete Schritt wird gesetzt und etwa den konfessionsverschiedenen Paaren endlich ermöglicht, gemeinsam an der Eucharistie teilzunehmen. «… kann die gemeinsame Teilnahme … nur im Ausnahmefall erfolgen, und man muss in jedem einzelnen Fall die … Normen … beachten» (247).

Zuvor beklagt Franziskus Zustände im Weltenhaus, die Frauen als zweitrangig betrachten und betont «die identische Würde von Mann und Frau» (54), ohne mit einem Wort zu erwähnen, wie es um die faktische Würde der Frau in seinem eigenen Haus steht, die Frauen – ungeachtet ihrer Begabung oder Berufung – allein aufgrund ihres Geschlechts von den Ämtern ausschliesst.

Pastorale Barmherzigkeit genügt nicht, wo nicht auch Denkweisen und Strukturen aufgeweicht werden, die Menschen fortdauernd verletzen. Menschen aber, deren Lebenssituationen als «irreguläre Verhältnisse» bezeichnet werden, die brauchen nicht zuerst Barmherzigkeit, die ihnen ausgerechnet jene gewähren, die sie gleichzeitig «irregulär» heissen, sondern Respekt, Anerkennung und Gleichberechtigung. Und eine Lehre, die alle Diskriminierung und Verurteilung endlich aus allen ihren Silben verbannt.

Das wichtige nachsynodale apostolische Schreiben ist in Wirklichkeit ein nachsynodales apostolisches, 200 Seiten starkes Buch. Das aber, worauf Hunderttausende, denen ihre Kirche noch etwas bedeutet, weiter warten dürfen, wenn sie denn noch weiter warten mögen, das hätte auf einer einzigen Seite Platz gefunden.

*Jacqueline Keune ist Theologin in Luzern und Mitglied der Pfarrei-Initiative Schweiz

3 Gedanken zu „Pastorale Barmherzigkeit genügt nicht“

  1. Franziskus, sei Dank, dass eine neue Sprache gesprochen wird! Nichts wird dabei im Gespräch unter den Bischöfen ausgenommen bleiben, trotz erneuter Resignation über fehlende Neuausrichtung im Blick auf Zulassung wiederverheiratet Geschiedener zur Feier der Sakramente oder der Lebensführung gleichgeschlechtlich Liebender.

    Die von Franziskus favorisierte Methode des Unterscheidens, Begleitens und Eingliederns stützt nun die pastoralen Lösungen, auf die hin das letzte Konzil hingearbeitet hatte. Der Fokus muss nun also konsequent auf die ‚Wahrung der Würde des Einzelnen‘ in seiner jeweiligen Lebensform und Gemeinschaft gerichtet werden. Vielleicht bleibt dies nur ein Wunsch – wenn sich nicht Kirchen-Leitungen, wo sie sich am Gespräch über intim-persönliche Einstellungen beteiligen, dazu entscheiden, im Zweifel für und mit den Einzelnen begleitend den Weg gehen. Es sollte Ende sein mit dem Vorgehen, sich zu letzten Richtern über den Glaubensweg von Getauften und Gefirmten zu erheben.

    Wie bereits in einer längeren Wortmeldung in der Schweizerischen Kirchenzeitung 173 (2005) 916 ausgeführt, geht es um zentrale Fragen, die nun im neuen ‘Franziskus-Modus’ in den einzelnen Ortskirchen beantwortet werden müssen. Ich muss dieselben Zeilen zitieren, die ich z. Zt. als Seelsorger und Theologe schrieb.

    Am Beispiel der Ortskirche in der Schweiz braucht es eine Revision des ökumenischen Direktoriums vom 25. März 1993, demnach die Diözesanbischöfe im Blick auf die Möglichkeiten eucharistischer Gastfreundschaft in Einzelfällen „die ernsten und dringenden Notwendigkeiten“ der jeweiligen Situationen bewerten sollen.

    Im Blick auf die kirchliche Situation einzelner Personen, Familien und Gemeinden muss also neu geklärt werden:

    Wer definiert am Ort das „geistliche Bedürfnis“ (spiritualis necessitas) der Einzelnen und der Gemeinschaften – die einzelnen Seelsorgenden oder die Seelsorgenden in einem Pastoralraum?
    Wie entwickelt sich am Ort menschennahe Ökumene, welche eine notwendig grössere Verbindlichkeit anzielen lernt?
    Wann ist in höherer Kontinuität die gegenseitige Einladung zu eucharistischer Gastfreundschaft realisierbar?
    Was ist einzuholen an der verlorenen Verbindlichkeit untereinander, um vor allem den konfessionsverbindenden Ehen die seit Jahrzehnten dringende Anerkennung entgegenzubringen und so ein starkes Brückenelement in der faktisch-gelebten Ökumene menschlich ernster zu nehmen?
    Welchem Kirchenbild sieht man sich verpflichtet?
    Wieviel liturgische Einheitlichkeit ist in der Ökumene nötig, wieviel Vielfalt in den Formen möglich?

    Bereits mit ‚Evangelii Gaudium‘ und nun ‚Amoris laetitia‘ zeigt sich, dass Papst Franziskus selber feststellt, dass und wie bei der Vielfalt von soziokulturellen und religiösen Lebenswelten einer nomadisierenden Bevölkerung universalistische Uniformität nicht mehr angemessen ist. So gesehen ist für alle jene, die sich zur Feier des Glaubens versammeln, die Beheimatung im geistlichen Ereignis dort ‚menschen-möglich‘ gegeben, wo der Sozialkörper einer liturgischen Feier-Gemeinschaft nicht ausschliesslich wird.

    In meinen Augen hat der notwendig-umfassende LERN-Prozess in unserer Weltkirche erst begonnen. Er wird nun nicht mehr als LEHR-Prozess auf einer einzigen Ebene und unter Ausschluss der Vielfalt an familialen Lebensmöglichkeiten mehr möglich sein.

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  2. Ich gebe Jaqueline Keune vollkommen recht: Ohne kirchenrechtliche Ratifizierung der schönen Worte wird sich an den Grundfesten der katholischen Kirche nichts verändern. Deshalb revidiert auch jeder Verein als erstes seine Statuten, wenn er wirklich etwas verändern will. Ich bin erstaunt, was namhafte Theologen alles an Veränderung aus dem Papstschreiben herauslesen, aber niemand sagt, dass das erst wirklich gilt, wenn die Kirche auch ihre rechtliche Basis revidiert hat.

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