Geld, Macht und Ohnmacht in der Schweiz

Ueli Mäder und sein Team zeigen im Buch macht.ch auf, wer zurzeit in der Schweiz das Sagen hat – und wessen Einflussmöglichen eher am Schwinden sind. Ein Gespräch mit dem Soziologen aus Basel

(Langversion des Interviews im Aufbruch 220)

Gewalt ist für Mäder etwas Amorphes, ein »verwobenes Gefüge«, dessen Struktur er in seinem neuesten Buch untersucht. Er definiert dabei Macht – im Sinn des deutschen Soziologen Max Weber – als Fähigkeit, eigene Interessen auch gegen Widerstände durchzusetzen. Dabei stützt sich Mäder auch auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu, nach dem sich Macht aus den vier Ressourcen ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital speist. Dies ist der Grund für die vielfältigen Erscheinungsformen von Macht und definiert auch, welche Zugänge zu Macht es gibt. Dabei bedeutet die Verfügung über eine dieser Ressource, dass man auch leichter Zugang zu den anderen Ressourcen findet. So kann ein hohes Einkommen eine politische Karriere befördern oder eine hervorragende Vernetzung den Vermögenszuwachs begünstigen.

Ueli Mäder, Autor des Buchs macht.ch. Geld und Macht in der Schweiz. 509 Seiten, Rotpunktverlag, Zürich 2016, CHF 39.–

Mäder untersucht im Buch, wie sich Macht bei einzelnen Personen und Institutionen manifestiert. Dafür hat er mit mehr als 200 Personen Interviews geführt. Zudem haben Mäder und sein Team eine grosse Fülle von Dokumenten und Medienberichten analysiert. Als dritte Grundlage dienen ihm eigene Beobachtungen etwa an Weiterbildungsveranstaltungen von Finanzinstituten, in Beratungsgremien von Unternehmen oder bei gewerblichen und gewerkschaftlichen Anlässen und die dabei entstehenden Gespräche »am Rand«. Daraus ergeben sich Landkarten dominanter Strukturen, Werte und Einstellungen. Diese Vorgehensweisen werden auf verschiedene Bereiche angewandt: auf die Finanzbranche und auf Unternehmen; auf Interessenvereinigungen und Verbände wie Gewerbeverband und Gewerkschaften; auf Justiz und Verwaltung sowie auf das Militär; auf Think Tanks, Netzwerke und Stiftungen.

In der Studie von Ueli Mäder geht es am Beispiel von Geld als einer Ressource für Macht letztendlich um die Frage, wie in einer Demokratie Einflussmöglichkeiten gestaltet werden. Untergräbt die ungleiche Verteilung des Geldes und damit der Macht nicht die Grundgedanken der politischen Gleichheit und der Chancengleichheit? Es geht also um das Verhältnis zwischen Demokratie und Ökonomie und um die Frage, wie diese beiden Bereiche unter den gegebenen Bedingungen zusammenwirken – und welche Korrektive im Sinn des Gemeinwohls es dabei brauchen würde.

aufbruch: Sie stellen in Ihrem Buch die Machtverteilung in der Schweiz als komplexes Geflecht dar. Wenn Sie gewichten müssten: In welchem Bereich konzentriert sich am meisten Macht?

Ueli Mäder: Seit Ende der Achtzigerjahre haben das Geld und die Ökonomisierung ein sehr hohes Gewicht erhalten. Vereinfacht gesagt hat die Finanzindustrie, obwohl sich das nicht unmittelbar in Arbeitsplätzen oder in Wertschöpfung niederschlägt, mit der Globalisierung eine dominante Stellung bekommen. Generell haben alle Bereiche, die mit der Globalisierung verwoben sind – also vor allem transnationale, grosse Konzerne – zugelegt.

Sie vergleichen die Schweiz von heute mit der Schweiz von 1983, als Hans Tschäni seine Studie «Wer regiert die Schweiz?» veröffentlichte. Damals spielte der «freisinnige Filz» aus Politik, Wirtschaft und Militär noch eine grössere Rolle als heute. Der Herr Brigadier, der auch als Nationalrat angesprochen werden will und natürlich auch im Verwaltungsrat verschiedener grosser Firmen sitzt, ist heute eher ein Auslaufmodell. Welche Machtverschiebungen im Vergleich zu Tschänis Schweiz nehmen Sie sonst noch wahr?

Ich bin Tschäni sehr dankbar für seine wertvolle Studie. Er hat Politik und Verwaltung als verlängerten Arm der Wirtschaft beschrieben. Dieses Bild enthält viel Stimmiges, ist aber zu einfach. Wichtig ist für mich die Dynamik und Dialektik, die zwischen diesen Bereichen spielen. Es ist komisch, aber heute wünschte ich mit etwas vom viel und zu Recht viel kritisierten Filz beinahe zurück – einfach deshalb, weil dann ein Teil des Kapitals wieder stärker mit dem Gesellschaftlichen verknüpft wäre. Wenn Joseph Jimenez, der CEO von Novartis, an der Aktionärsversammlung einen einzigen Satz auf Deutsch sagt, erntet er dafür frenetischen Applaus. Es gibt im Kontext der finanzgetriebenen Globalisierung wichtige Teile des Kapitals, die der gesellschaftlichen Verantwortung und Verwobenheit völlig entrückt sind. 1983 gab es trotz Filz noch ein stärkeres Verständnis dafür, dass es einen Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit geben sollte. Wer diese Forderung heute stellt, wird als naiv belächelt: Welchen Wert die Arbeit habe, zeige doch der Markt. Ich habe den Eindruck, dass es eine viel stärkere Markt resp. Finanzgläubigkeit gibt als früher. Die Ökonomisierung der Gesellschaft hat deutlich zugenommen.

Inwiefern hat die Normalbürgerin, der Normalbürger Anteil an der Macht in der Schweiz? Der einzelne erlebt sich ja oft als machtlos, ja ohnmächtig, und wird dann rasch einmal zum verführbaren Wutbürger… Hat die Macht des Einzelnen eher zu- oder abgenommen?

Innerhalb der Macht gibt es immer auch ein bisschen Ohnmacht. Auch die ganz Mächtigen herrschen ja nicht völlig unbehelligt, auch bei ihnen gibt es Mechanismen von Kontrolle oder so genannte »Sachzwänge«. Und bei den einfachen Bürgerinnen und Bürgern gibt es ebenfalls nicht nur Ohnmacht, sondern auch ein widerständiges Potenzial an Einflussnahme. Bei beiden spielt der Aspekt der Vernetzung eine Rolle. Es gibt Leute, die sehr reich sind, aber relativ wenig Macht haben, und es gibt Leute, die relativ wenig Geld haben, aber trotzdem einen gewissen Einfluss ausüben können. Die ziemlich kleine Alternative Liste in Zürich hat eine nationale Initiative über die Pauschalbesteuerung auf die Beine gebracht, die national zwar abgelehnt wurde, vorher im Kanton Zürich aber angenommen worden war. Ein ebenfalls kleiner Kreis von Leuten hat die Initiative für das bedingungslose Grundeinkommen realisiert, über die wir demnächst abstimmen. Trotzdem wäre es beschönigend zu sagen, »das Volk« hätte bei uns die Macht. Gewiss, wir sind eine direkte Demokratie und wir können über dieses und jenes abstimmen, wir können Ja oder Nein dazu sagen. Das ist manchmal etwas grobschlächtig, aber immerhin. Ich möchte das nicht verleugnen, aber auch nicht hochstilisieren. Einzelne Menschen haben, wenn sie sich clever vernetzten und enorm engagieren, auch ohne viel Geld die Möglichkeit, einen gewissen Einfluss geltend zu machen. Natürlich überwiegt das Top-Down-Prinzip, aber das Volk lässt sich auch nicht so einfach manipulieren und instrumentalisieren.

Die direkte Demokratie in der Schweiz scheint mir im Moment stärker als auch schon einer Belastungsprobe ausgesetzt. Die SVP, die den Souverän als oberstes Organ gegen die Rechtsstaatlichkeit ausspielt, ist da nur ein Beispiel dafür. Aber auch das Erstarken der rechtspopulistischen Bewegungen in Europa angesichts der Flüchtlingsströme und der damit verbundenen Hetze werfen ein düsteres Licht auf die Demokratie. Anderseits wurde bei der Ablehnung der Durchsetzungsinitiative die Mobilisierung der Zivilgesellschaft festgestellt, die Sie in Ihrem Buch ja auch als Machtfaktor erwähnen. Wie steht es Ihrer Meinung nach um die Demokratie in der Schweiz?

Die demokratischen Strukturen sind über viele Jahrzehnte hinweg gewachsen, da haben sehr viele Leute sehr vieles dazu beigetragen. Aber es ist eine Demokratie von beschränkter Reichweite. Wir hatten 1970 das Gefühl, eine Superdemokratie zu sein, obwohl es damals noch kein Frauenstimmrecht gab. Und heute macht die Demokratie immer noch vor den Pforten der Wirtschaft halt. Unser demokratisches System ist eine wichtige Errungenschaft, die man wertschätzen soll, aber es muss darum gehen, die demokratischen Prozesse auszuweiten. Dabei spielt die gängige Politik natürlich eine Rolle. Ich komme aus der 68-er Bewegung, die zu den staatlichen Kontrollen und Strukturen eine kritische Distanz hatte und ich habe diese Distanz eigentlich immer noch; trotzdem nehme ich heute die offizielle Politik manchmal mehr in Schutz, als es mir lieb ist. Wenn sich in der Wirtschaft immer stärker Konzentrationsprozesse vollziehen und gleichzeitig die Gegenkräfte in Politik und Gesellschaft geschwächt werden, wird es gefährlich. Dann entsteht ein Vakuum, das rechtspopulistischen und autoritären Kräften Aufwind verleiht. Also braucht es ein gutes Korrektiv im Sinn einer demokratischen Gegenmacht – nicht einen staatlichen Moloch, der von oben nach unten regiert, sondern ein Gegenüber, das mit der Wirtschaft Verbindlichkeiten aushandeln und Rahmenbedingungen festlegen kann. Ich möchte aber auf keinen Fall nur auf die gängigen Strukturen setzen. Es gibt auch in ihnen fragwürdige Entwicklungen. Heute kommen nicht nur in der Wirtschaft – sei es als Eigentümer oder CEO – über 80 Prozent aus der gehobenen Mittelschicht, sondern auch in der Politik. Vor dreissig Jahren war es für jemanden, der aus einfachen Verhältnissen kam und sich in der Partei hochdiente, immerhin möglich, in führende Positionen aufzusteigen. Heute spielt auch in diesem Bereich das liebe Geld eine immer wichtigere Rolle. Umso entscheidender sind für mich zivilgesellschaftliche Strukturen. Die Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative ist für mich in der Tat ein Zeichen dafür.

Wie lässt es sich erklären, dass eine Partei von Milliardären wie die SVP ausgerechnet bei den »kleinen Leuten« Erfolg hat?

Ich habe den Eindruck, dass die Verunsicherung dabei eine Rolle spielt – über eine Gesellschaft, die sich immer schneller verändert, über eine Globalisierung auch, die einseitig auf den wirtschaftlichen Aspekt fixiert ist. Diese Verunsicherungen betreffen vor allem den Arbeitsmarkt: die Angst, als Working Poor voll erwerbstätig zu sein und trotzdem nicht auf einen grünen Zweig zu kommen. Interessanterweise gehört auch jener Teil der Mittelschicht zu den Verlierern, die das tun, was die Wirtschaft immer von ihnen gefordert hat, nämlich flexibel und mobil zu sein. Wenn man früher flexibel und mobil war, wechselte man den Job und verdiente mehr. Wer heute den Job wechselt, tut es oft nicht freiwillig und buchstabiert finanziell zurück. Diese Verunsicherung verleitet manche dazu, jenen zuzustimmen, die einfache Erklärungen haben und Ruhe und Ordnung fordern – daran kann man sich klammern. Einen sozialpsychologischen Aspekt zeigt das folgende Beispiel: Eine Verkäuferin sagte mir, es sei schon gut, dass die Mietpreise so stiegen – obwohl sie fast nicht weiss, wie sie ihre Miete zahlen soll. Das klingt absurd. Im dritten oder vierten Gespräch erklärte sie mir den Hintergrund ihrer Haltung so: Wenn sie sage, die hohen Mietzinse seien nicht okay, dann gebe man ihr zu verstehen, dass sie von der Sache nichts verstehe und eben ein bisschen dumm sei. »Ich bin ein Leben lang für dumm gehalten worden. Jetzt sage ich einfach immer zu allem, es sei okay. Wenn ich früher in der Schule besser aufgepasst hätte, würde ich heute mehr verdienen.«

Und indem man sich an Sündenböcke hält, die an allem schuld sein sollen.

Das macht mich auch bei jenen Armutsbetroffenen wütend, die dem Mechanismus des Tretens nach unten folgen. Die sogenannt Schwachen treffen dann die noch Schwächeren. Das trägt dazu bei, Ungleichheit zu stabilisieren. Jene auf der Verliererseite identifizieren sich mit denen, die es geschafft haben. Ich thematisiere im Buch den Gewerbeverband, der eine ganze Maschinerie in Gang setzt, über Dienstleistungen, Magazine, Zeitungen eine Ideologie bis an die Basis zu verbreiten, die sich sehr stark an den Interessen des Grosskapitals orientiert. Das führt dazu, dass mancher einfache Schreiner, von dem man eigentlich eher erwarten würde, sich gewerkschaftlich zu orientieren, politische Positionen vertritt, die seinen eigenen Interessen eigentlich zuwiderlaufen.

In der Finanzindustrie, so scheint es dem aussenstehenden Betrachter, läuft grundsätzlich etwas falsch, indem diese ihre eigenen Interessen weit über die Interessen der Realwirtschaft, aber auch über staatliche Interessen und die Interessen der Gesellschaft stellt. Welche Perspektiven sehen Sie für die Zukunft? Wenn es so weitergeht, führt das doch unweigerlich in eine Katastrophe.

Es gibt einige Banker, die diese Katastrophe prognostizieren. Aber auch unabhängig von einem möglichen  Crash ist da eine Entwicklung im Gang, die sehr problematisch ist, weil es zu einer immer grösseren Konzentration von Kapital in den Händen von immer weniger Leuten kommt. Einer Gesellschaft geht es gut, wenn es möglichst allen gut geht. Es existiert auch ein Widerspruch zwischen der Finanzindustrie und dem Werkplatz, indem dem Gewerbe zum Teil Mittel entzogen werden, weil sie anderswo spekulativer eingesetzt werden können. Es gibt inzwischen wohl Korrektive, die man vor wenigen Jahren noch für unmöglich gehalten hätte – wie der automatische Informationsaustausch oder die erhöhten Eigenkapitalien –, aber gemessen an dem, was nötig wäre, ist es der berühmte Tropfen auf dem heissen Stein. Es müsste ein viel stärkeres demokratisches Korrektiv geben und es bräuchte eine viel stärkere Umverteilung all dieser Finanzströme. Die Schweiz ist weltweit das grösste Offshore-Land – diese führende Position ist der politischen Stabilität und vor allem der Verschwiegenheit der Banker verdankt, aber auch der Bereitschaft, Geld am Fiskus vorbeizuschieben. Vielleicht gilt es da jetzt gewisse Abstriche zu machen, aber die Finanzwelt wird zweifelsohne Wege finden, solche Einbussen wettzumachen. Auch gab es Versuche der Raiffeisenbank und der Kantonalbanken, einen eigenen Verband neben der Bankiervereinigung zu gründen und damit den beiden Grossbanken CS und UBS die Stirn zu bieten. Das haben sie zwar geschafft, aber die Machtverlagerung hat sicher noch nicht stattgefunden. Die alles sind Zeichen für die inneren Widersprüche in der Finanzindustrie und dafür, dass einige Banker gemerkt haben, dass die Spirale nach unten dreht, wenn es mit den sozialen Gegensätzen so weiter geht.

Der Rohstoffhandel ist eng mit der Finanzindustrie verflochten. Ganga Jey Aratnam spricht in Ihrem Buch vom Rohstoffrhizom und spielt damit auf die weltweite Verflechtung dieses Wirtschaftszweig an. Ähnlich wie die Finanzindustrie scheint die Rohstoffindustrie dubios, obskur und von keinerlei ethischen Bedenken beeinflusst. Neuerdings machen diese Firmen – z.B. Glencore – infolge der tiefen Rohstoffpreise – allerdings auch Verluste. Wohin geht die Reise bezüglich Rohstoffhandel?

Wie ist die kleine Schweiz überhaupt gross geworden – nur durch den grosse Fleiss und die genialen Innovationen der Schweizer? Die Schweiz  hat enorm vom kolonialen System und dessen sognannten Hinterländern profitiert, indem sie Rohstoffe zu günstigsten Konditionen beziehen konnte. Das ist auch heute noch ein neokolonialer Mechanismus, der fest etabliert ist. Tendenziell sind die Preise der Rohstoffe und der Primärgüter gesunken und jene für die industriellen Kreativgüter gestiegen – wir alle profitieren enorm davon. Aber wir blenden dabei aus, dass sich die Lebenssituationen an anderen Orten dadurch verschlechtern. Wenn man heute über Fluchtbewegungen spricht, denkt kaum jemand über solche Ursachen nach. Wenn sich die Erde weiter erwärmt und der Grundwasserspiegel steigt, wird das wieder Abermillionen von Menschen auf die Flucht treiben. Der andere Widerspruch besteht darin, dass man mit den Rohstoffgiganten in der Schweiz ein Staat im Staat toleriert und ihm sogar noch hofiert wird, obwohl dieser Wirtschaftszweig relativ wenige Arbeitsplätze schafft und wenig Steuern einbringt. Und das auf der Grundlage von Geschäften in Kolumbien oder anderswo, die ethischen Prinzipien schlicht widersprechen. Wir stehen in Kontakt mit einer Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern, der Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien, die nach Kolumbien gereist sind und sich zusammen mit Glencore-Chef Ivan Glasenberg da die Kohlenminen angeschaut haben. Sie berichteten uns darüber und legten uns gegenüber Wert darauf, dass wir das Thema moderat behandeln, um Möglichkeiten von Einflussnahme nicht zu gefährden. Letzte Woche habe ich einen Brief bekommen, in welchem sich diese zum Teil christlich motivierten Leute sehr enttäuscht zeigen, dass all das, was ihnen vor einem Jahr vor Ort versprochen wurde, nicht eingehalten wurde.

Peter Steckeisen spricht in Ihrem Buch von der «Macht des  ökonomischen Denkens». Inwiefern hat das etwas mit dem Ende des »real existierenden Sozialismus« und des eiserenen Vorhangs zu tun?

Ich habe schon den Eindruck, dass wir seit 1989 einen Paradigmenwechsel haben – auch in der Schweiz. Das hat sich schon vorher in einer starken Deregulierung innerhalb der Reaganomics und des Thatcherismus abgezeichnet. Aber in der Schweiz hat man in den 50er- bis 70er-Jahren noch mehr Verständnis gehabt für den sozialen Ausgleich. Und es gab ja wirklich eine Zeit, in der die Einkommensschere kleiner wurde. Der West-Ost-Gegensatz, von dem man ja eigentlich froh sein kann, dass er in dieser Form vorbei ist, hat dazu geführt, dass das Kapital seither sehr viel offensiver dorthin fliesst, wo es sich optimal oder gar maximal verwerten lässt. Von daher hat sich das Denken vom politisch liberalen zu einem stark finanzgetriebenen Denken gewandelt, in dem nur noch das Geld wichtig ist. Es gibt eine neue Gläubigkeit, die Finanzgläubigkeit. Sie durchdringt alles. Eine Studentin hat mir berichtet, dass vor der Unibibliothek ein alter Mann gestürzt sei. Sie habe dem blutüberströmten Senior aufgeholfen und  den Krankenwagen gerufen. Als sie beim Alters- und Pflegeheim, in welchem der Mann wohnte, anrief, war das erste, was die Person am Telefon sagte: Was das wieder kostet! Dass es immer ums Geld geht, bringt etwas Ungutes in die Gesellschaft hinein. Das meint Peter Steckeisen, wenn er von der Ökonomisierung des Denkens spricht.

Aber es kann doch heute niemand mehr im Ernst behaupten, dass diese Art des Kapitalismus erfolgreich ist, sondern vielmehr destruktiv wirkt.

Es gibt Reiche und Reiche, es gibt Mächtige und Mächtige, ich könnte eine Reihe von Beispielen anführen, die mir mit grösstem Vergnügen berichten, wie sie Abermillionen am Fiskus vorbeisteuern, nach dem Motto «genug ist nie genug» – obwohl sie ohnehin schon viel zuviel haben. Aber für sie ist Steuerhinterziehung fast wie ein Sport. Die Studien von Wilkinson und anderen haben ganz klar gezeigt, dass, wenn die finanzielle Schere derart auseinandergeht, soziale Spannungen immer mehr zunehmen; je grösser die Einkommensunterschiede, desto grösser auch die Gefahr von Bürgerkriegen. Das sagen sich auch viele Unternehmer: Die momentane Entwicklung macht uns das Geschäft kaputt, also müssen wir da zurückbuchstabieren.

Gibt es aus Ihrer Sicht Hoffnung? Könnten – ja müssten – nicht Impulse für ein neues Wirtschaftsmodell auch aus dem Christentum kommen – Stichwort Solidarität, Nächstenliebe, Bereitschaft, Schwächeren zu helfen, die Einsicht, dass Geben seliger als Nehmen ist – oder würden Sie das als naiven Idealismus bezeichnen?

Nein. Im Moment habe ich zwar eher den Eindruck, dass sich die soziale Brisanz noch verschärft. Aber die Menschen sind lernfähig. Und das System ist es auch. Ich glaube, es gibt heute wieder mehr Leute, die fragen: Was ist eigentlich wichtig? Worum geht es letztlich im Leben? Was ist der Sinn des Ganzen? Das kann eine Chance, eine Kraft sein. Ich hoffe, dass sie in Zukunft noch mehr zum Tragen kommt. Von daher ist für mich die Zukunft offen. Es gibt keine Alternative dazu, zumindest zu versuchen, die Welt zum Besseren zu verändern. Ohnmacht ist dabei ein schlechter Ratgeber und ich hoffe nicht, dass mein Buch dazu beträgt. Ich hoffe vielmehr, dass es mögliche Wege aufzeigt, die zu gehen wären.

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