George Floyd: sein Tod rüttelt die Schweiz auf

George Floyd ruht nun in Houston, seiner Heimat in Texas. Proteste in aller Welt begleiteten sein Begräbnis. In Genf demonstrierten am 9. Juni 10‘000 Bewegte. Der gewaltsame Tod berührt und empört. Er rüttelt auch die Schweiz auf. Text: Ueli Mäder

Bild: Patrick Behn auf Pixabay

Rassismus vollzieht sich offen und verdeckt. Er hierarchisiert Menschen nach beliebigen Merkmalen. Zum Beispiel nach ihrer Hautfarbe oder zugeschriebener Eigenart. Rassismus legitimierte den Kolonialismus. Europäische Mächte beherrschten drei Viertel der Erde. Sie versklavten Millionen von Schwarzen. Die Schweiz profitierte mit. Günstige Rohstoffe beförderten unsere Industrialisierung. Heute ermöglichen sie erkleckliche Handelsgewinne. Wir erhalten mehr Geld für unsere Exporte, bezahlen aber tendenziell immer weniger für den Kaffee und andere Importe. Wir beeinträchtigen so arm gehaltene Länder und treiben damit Benachteiligte zur Flucht.

Rassistische Diskriminierungen

Rassistische Diskriminierungen äussern sich in direkter Gewalt oder Beschimpfungen. Ebenso im verwehrten Zugang zu Arbeit und Bildung. Dahinter stecken Abwertungen. Das Strafgesetz (Art. 261) verbietet Diskriminierungen wegen Rasse, Ethnie und Religion. Opfer stammen häufig aus der jüdischen, muslimischen, dunkelhäutigen und ausländischen Bevölkerung. Zwischen 1994 und 2018 kam es in der Schweiz zu 910 Rechtsfällen. Zwei Drittel führten zu Verurteilungen. Von 2017 bis 2018 sanken diese von 24 auf 20. Im gleichen Zeitraum verdoppelten sich indes die Sorgen über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (Barometer 2018). Das Eidgenössische Departement des Innern (EDI 2019) stellte zudem mehr rassistische Diskriminierung in Schulen fest. Und Soziologe Ganga Jey Aratnam zeigt in seiner Dissertation (Basel 2020) auf, wie schwierig die berufliche Integration selbst für „Hochqualifizierte Migrierte“ ist.

«Die strukturelle Diskriminierung verlangt jedoch mehr. Vor allem mehr soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit.»

Jede zehnte Person hat in der Schweiz (laut EDI) rassistische und jede vierte fremdenfeindliche Einstellungen. Diese Dispositionen schüren Vergehen, die klar zu ahnden und (über rechtliche Schritte hinaus) mit gezielten Projekten anzugehen sind: gegen rechtsextreme, polizeiliche und andere Gewalt. Die strukturelle Diskriminierung verlangt jedoch mehr. Vor allem mehr soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit. Im Sinne eines regionalen und globalen Ausgleichs. Sonst häufen sich Konflikte und Gefährdungen, die Ängste wecken.

Fremdenängste angehen

Fremdenängste mobilisieren rassistische Diskriminierungen im Alltag. Etwa bei schikanösen Kontrollen ausländischer Gäste. Sie fordern uns heraus, mutig einzugreifen. Fremdenängste schüren ebenfalls Ressentiments, gegen die niemand gefeit ist. Das verlangt von uns, sich mit eigenen Anteilen und Projektionen auseinander zu setzen. Dabei ertappen wir uns wohl, wie wir andere abwerten, uns über sie erhöhen und an ihnen kritisieren, was wir uns selbst vorwerfen oder mehr wünschen.

«Vielleicht verständigen wir uns eher, wenn wir uns eingestehen, was uns bei uns selbst und bei andern fremd ist.»

Damit alle Menschen gleichwertig am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, müssen wir uns dafür zivil couragiert und auf Augenhöhe engagieren. Und zwar ohne uns anzumassen, andere zu verstehen. Vielleicht verständigen wir uns eher, wenn wir uns eingestehen, was uns bei uns selbst und bei andern fremd ist. So fördern wir eine respektvolle Distanz, die Nähe ermöglicht. Corona-Erfahrungen deuten darauf hin. Ebenso der Tod von George Floyd. Er geschah weit weg, rüttelt die Schweiz aber auch deshalb auf, weil er uns an eigene Diskriminierungen erinnert.

Ueli Mäder, Soziologe

 

2 Gedanken zu „George Floyd: sein Tod rüttelt die Schweiz auf“

  1. Alles richtig, dennoch …

    Die verschiedenen Fakten und die soziologische Draufsicht stimmen alle. Dennoch kommt mir der Aufsatz eher einer Sonntagspredigt gleich oder einem längeren Eintrag in das Poesie-Album; nicht wirklich ernsthaft.

    Natürlich kann ein Einzelfall auf ein größeres Problem hinweisen, er tut das hier auch. Was generell fehlt, – vor allem gesellschaftlich gesehen und damit soziologisch bedeutsam -, das ist die zur Kenntnis genommene systematische Verfolgung Andersgläubiger, insbesondere Christen, von dem die Leit-Medien so gut wie nicht berichten; passt vielleicht nicht ins Narrativ.

    Als einen besonders krassen Fall, der für weitere steht, nenne ich nur „Asia Bibi“, wo eine Christin in Pakistan nach unbewiesenen Anklagen sechs Jahre unter einem Todesurteil stand, ihre Sache immer wieder verschleppt wurde.

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