„Ich bin ein Kommunist, der an Gott glaubt“

Im Ringen um mehr Gerechtigkeit gibt der Genfer Soziologe Jean Ziegler mit seinem neuen Buch „Ändere die Welt!“ Einblick in die tragenden Säulen seines Denkens. Das Evangelium führt den Vizepräsidenten des beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrats zu radikalen Einsichten. Und erstmals spricht der Bestseller-Autor öffentlich über seinen Übertritt vom Protestantismus zum Katholizismus.

Jean Ziegler (Foto: Wolf Südbeck-Baur)

Interview: Wolf Südbeck-Baur

Jean Ziegler, Ihr neues Buch „Ändere die Welt!“ ist innerhalb von 13 Jahren Ihr neuntes Buch, das als flammendes Plädoyer im Ringen um mehr Gerechtigkeit in dieser Welt zu lesen ist. Haben Sie ein schlechtes Gewissen, gegen das Sie anschreiben müssen?
Jean Ziegler: Ein schlechtes Gewissen habe ich sowieso. Ein schlechtes Gewissen ist ein lebendiger Feind und den trägst du in dir. Als Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung (2000-2008) war es mir wichtig, mit Erfahrungsberichten wie etwa dem Buch „Wir lassen sie verhungern“, skandalöse Nahrungsmittelspekulationen multinationaler Konzerne offen zu legen. Mein neues Buch „Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen“ will Rechenschaft ablegen darüber, wo die Wurzeln meines Denkens und Handelns liegen. Das Buch verstehe ich als eine subjektive Autobiographie und zugleich als kritische Rückfrage: was hat es bis jetzt genützt? insofern ist das Buch ganz anders.

Der gute Mensch habe die Aufgabe, die gesellschaftlichen und politischen Kalküle ans Licht zu bringen, die Menschenleben zerstören, schreiben Sie. Warum bezeichnen Sie die Weltordnung als eine kannibalische Weltordnung?
Ziegler: Zwei Zahlen: Die 500 grössten Unternehmen der Welt kontrollierten 2014 laut Weltbank-Statistik 52.8 Prozent des Welt-Bruttosozialproduktes. Diese transnationalen Konzerne entfliehen jeglicher sozialen, gewerkschaftlichen oder nationalstaatlichen Kontrolle und funktionieren allein nach dem Prinzip der Profitmaximierung, wobei sie durch ihre Forschungen auch Einiges zum Fortschritt beitragen. Sie haben eine Macht, wie sie noch nie ein Kaiser, ein König, ein Papst auf dieser Erde hatte. Die kannibalistische Weltordnung beruht auf einem System struktureller Gewalt. Schrauben die Chefs dieser Konzerne – wie etwa Nestlé-Chef Peter Brabeck – den Shareholder Value nicht um 20, 25 Prozent pro Jahr hoch, verlieren ihren Posten. Zugleich stirbt im Süden der Welt alle zehn Sekunden ein Kind an den Folgen des Hungers. Und laut dem Welternährungsbericht sind 1 Milliarde von den 7,3 Milliarden Erdenbewohnern unterernährt und verkrüppelt, dies, obwohl die Erde 12 Milliarden Menschen ernähren könnte. Zugleich ist heute der materielle Mangel an Gütern überwunden. Ein Kind, das am Hunger stirbt, wird ermordet. So sehen die Strukturen der Weltdiktatur aus. Punkt.

Was sind die Ketten in unseren Köpfen, von denen Sie in „Ändere die Welt!“ sprechen?

Ändere die Welt von Jean Ziegler
Ändere die Welt von Jean Ziegler

Ziegler: Warum funktioniert die kannibalische Weltordnung in einer demokratisch globalisierten Gesellschaft, wo jeder weiss, dass die Hungerflüchtlinge zu Tausenden im Meer versinken? Warum reproduzieren wir Tag für Tag in unseren Köpfen die neoliberale Wahnidee, die sagt, das wirtschaftspolitische Geschehen habe nichts mehr mit Menschen zu tun, sondern gehorche Naturgesetzen, sprich den „Marktkräften“? Diese neoliberale Ideologie ist von vielen internalisiert worden. Deshalb sind wir uns selbst fremd geworden, wir haben unser Bewusstsein entäussert, wie Theodor Adorno, Philosoph der Frankfurter Schule, sagt. Ausdruck dieser Entfremdung ist der häufig zu hörende Satz: Ich kann doch nichts tun gegen die Übermacht des Marktes. Das sind die Ketten im Kopf.

Diese Ketten wäre mit demokratischen Mitteln beizukommen, erklären Sie in ihrem Buch…
Ziegler: … in einer Demokratie gibt es keine Ohnmacht. Eine Demokratie hält alle Möglichkeiten bereit, diese Ketten zu zerbrechen. Mit den Waffen der Demokratie könnten wir auf parlamentarischen Wegen morgen die Spekulation an den Börsen auf die Grundnahrungsmittel Mais, Reis und Getreide verbieten und damit das Überleben von 1,3 Milliarden Slumbewohnern weltweit sicherer machen. Die Finanzminister sind ja nicht vom Himmel gefallen. Wir können sie zwingen, dass sie bei der nächsten Sitzung des Internationalen Währungsfonds in Washington für die hungernden Kinder eintreten und eine totale Entschuldung der 50 ärmsten Länder fordern und nicht sich für die Interessen der Gläubigerbanken in Zürich, Frankfurt, London und Paris engagieren.

Was setzen Sie der Privatisierung des Staates durch die 500 weltweit grössten Konzerne, die 52,8 Prozent des Bruttoweltsozialprodukts kontrollieren und sich allmächtig wähnen, entgegen?
RousseauZiegler: Die simulative Demokratie ist am Ende. Der französische Aufklärer Jean-Jacque Rousseau, Wegbereiter der französischen Revolution und der repräsentativen Demokratie, schreibt: „Zwischen dem Starken und dem Schwachen ist es die Freiheit, die unterdrückt und das Gesetz, das befreit.“ Die repräsentative Demokratie, in der die Wähler alle vier Jahre einen Teil ihrer Freiheit an die Volksvertreter delegieren, die die Menschenrechte garantiert und den Volkswillen mit Gesetzen umsetzt, ist zu einer simulativen Demokratie verkommen. Es ist heute egal, ob Angela Merkel Kanzlerin ist oder ein SPD-Mann, beide tun dasselbe, nämlich das, was die Konzerne ihnen diktieren. Deshalb glaube ich nicht an eine Wiederbelebung des Nationalstaates, der sich der Macht der Konzerne widersetzen würde. Wenn Nestlé-Chef Brabeck beim Schweizer Bundespräsidenten anruft, steht der stramm. Es genügt der Hinweis auf Marktkräfte und die lauernde Konkurrenz von Unilever oder wem auch immer, und der Bundesrat schweigt zu Menschenrechtsverletzungen zum Beispiel in Rosario, Kolumbien. Ganzen Branchen in der Schweiz werden Gesamtarbeitsverträge verweigert, obwohl die Schweiz die Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation ILO unterschrieben hat. Das ist simulative Demokratie, die echte Demokratie zu einem Hirngespinst verkommen lässt. Aber gegen diese Verrohung steht jetzt ein neues historisches Subjekt auf, die planetarische Zivilgesellschaft.

Wer ist denn diese planetarische Zivilgesellschaft?
Ziegler: Am Weltsozialforum letzten März hat sich diese neue planetarische Zivilgesellschaft in Tunis getroffen. Die weltweit zahlreichen verschiedenen Nichtregierungsorganisationen sind in unterschiedlichen gesellschaftlichen Sektoren aktiv und leisten Widerstand gegen die kannibalische Weltordnung. Von der Frauenbewegung über die Bauernbewegung bis hin zur finanzkritischen Bewegung ist allen gemeinsam, dass ihr Motor kein Parteiprogramm oder ein Zentralkomitee ist, sondern das Identitätsbewusstsein, das in den moralischen Imperativ mündet: Ändere die Welt! Wenn ich ein hungerndes Kind sehe, bricht in mir etwas zusammen. Ich erkenne mich sofort und unmittelbar im anderen. Die planetarische Zivilgesellschaft sind Menschen aller Altersstufen, aller religiöser Provenienz, aller politischen Lager, die diese Weltordnung ablehnen und in sich die Utopie tragen, die im Artikel 1 der universellen Deklaration der Menschenrechte folgendermassen formuliert ist: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Diese planetarische Zivilgesellschaft ist die grosse Hoffnung unserer Zeit.

Was bedeutet Ihnen Jesus und das Evangelium?

(Foto: Wolf Südbeck-Baur)
Ziegler: „Dass der Papst wirklich ein Christ sein will, glaube ich ihm in dem Moment, wenn er Schätze des Vatikans verkauft.“ (Foto: Wolf Südbeck-Baur)

Ziegler: Das Evangelium ist der revolutionärste Text, den es gibt. Papst Franziskus ist ein kluger und mutiger Mann, der ohne Frage an das Evangelium glaubt. Der Vatikan kann seine 2,7 Quadratkilometer aber nicht mit milliardenschweren Werken von Michelangelo, Rafael und Botticelli vollstopfen und in Rom, Mailand, Florenz oder Neapel ganze Strassenzüge besitzen, während im selben Augenblick alle fünf Sekunden ein Kind verhungert, ein Kind, das nicht sterben würde, wenn es Nahrung erhielte. Diese Nahrung könnte man mit diesen Schätzen millionenfach kaufen. Dass der Papst wirklich ein Christ sein will, glaube ich ihm in dem Moment, wenn er Kunstschätze, Immobilien und Aktienpakete des Vatikans verkauft und den Kirchenstaat auflöst. Ich bin mir natürlich bewusst, dass die erzreaktionäre Kurie die päpstlichen Initiativen sabotiert, wo sie nur kann.

Wollen Sie sagen, der Vatikan könnte dazu beitragen, den Hunger auf der Welt zu beseitigen?
Ziegler: Absolut! Max Horkheimer, Soziologe der Frankfurter Schule, sagt, Reichtum ist unterlassene Hilfeleistung, und der Vatikan hat astronomische Reichtümer. Wegen unterlassener Hilfeleistung sterben Millionen Menschen einen fürchterlichen Tod. „Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben, ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben.“ Ihr habt es getan oder habt es nicht getan, Punkt. Es steht alles im Evangelium, das ist das Unglaubliche. Jesus hat den Pharisäern und seinen Jüngern hundertmal erklärt, dass es mit Gebeten im Tempel nicht getan ist, sondern der Mensch ist, was er tut. Punkt. Das ist die Quintessenz des Evangeliums.

Und den Christen halten Sie das Nietzsche-Diktum entgegen, in dem er festhält: „Wenn die Christen an Gott glauben würden, hätte man das gemerkt…“

Friedrich Nietzsche (1844-1900)
Friedrich Nietzsche (1844-1900)

Ziegler: ….wenn die Christen das Matthäus-Evangelium nachlesen würden – „ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben, ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben…. Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“. Entscheidend ist: Habt ihr es getan oder nicht? Für mich ist aber klar, dass die Geschichte einen Sinn und ein Ziel hat, und das ist die Menschwerdung des Menschen. Und Gott hat keine anderen Hände als die unseren.

Worauf gründen Sie die Hoffnung, dass die Menschheit unterwegs ist in Richtung Menschwerdung des Menschen?
Ziegler: Obwohl die Kluft zwischen arm und reich – laut Oxfam besitzt ein Prozent der Weltbevölkerung so viel wie die restlichen 99 Prozent – immer grösser wird, ist das Bewusstsein kumulativ. Das heisst, das Bewusstsein macht von Jahr zu Jahr, von Generation zu Generation Fortschritte. So hat der Kirchenvater Ambrosius, der im vierten Jahrhundert Bischof von Mailand war, die Sklaverei noch als gottgewollte Ordnung verteidigt. Zwar gibt es heute immer noch Formen der Sklaverei mit Kindern in den Coltan-Minen im Ostkongo (Glencore, Rio Tinto, etc.), aber kein Mensch würde heute wagen, die Sklaverei als Institution zu verteidigen.

Steht hinter Ihrem Widerstand gegen die Ungerechtigkeit in dieser Welt also letztlich die Überzeugung, dass die Welt mit fortschreitender Geschichte besser, gerechter wird?
Ziegler: Ja. Darum glaube ich an die Auferstehung. Das Bewusstsein wird mit dem Tod zwar physisch, aber nicht geschichtlich unterbrochen. Insofern ist der Tod nur eine künstliche Unterbrechung des fortschreitenden Entwicklungsprozesses des Bewusstseins. Und darum ist die Auferstehung eine absolute Notwendigkeit. Dies ist meine Glaubensüberzeugung und eine Sicherheit, die uns der Glaube und die Vernunft gibt.

Sie haben sich mal als Kommunist bezeichnet…
Ziegler: … das bin ich noch immer, ein Kommunist, der an Gott glaubt.

Ist das kein Widerspruch angesichts der vielen Millionen Getöteten, die sinnlos im Krieg, an Hunger oder auf der Flucht gestorben sind?
Ziegler: Was die Halunken in Moskau gemacht haben, hat nichts mit Kommunismus zu tun – so wenig wie die Borgia-Päpste, diese Schwerverbrecher, etwas mit dem Evangelium zu tun hatten, obwohl sie es dauernd im Munde führten. Die kommunistische Maxime, jeder nach seinen Fähigkeiten, für jeden nach seinen Bedürfnissen, ist das Organisationsprinzip der kommenden Gesellschaft. Diesen Horizont als Sozialformation können wir aufgrund des Stadiums unserer Entwicklung heute begreifen. Das meint Kommunismus.

Sie sind als Protestant geboren und zum Katholizismus übergetreten. Wie kam es dazu?
Ziegler: Ich antworte mit Victor Hugo: Ich hasse alle Kirchen, ich liebe die Menschen. ich glaube an Gott. Die Kirchen mit ihren Dogmen sind Zwangsapparate. Der Vatikan ist ein fürchterlicher Feudalstaat, in dem die Kardinäle in Gold bestickten Gewändern umher wandeln. Das hat nichts mit dem Evangelium zu tun. Christus hat weder Zwang noch Befehle erlassen, sondern den Analphabeten in einfachen Gleichnissen von der Liebe als einziges Gebot erzählt….

… für diese Einsicht ist aber kein Übertritt zum Katholizismus nötig…
Ziegler: … beim Übertritt war ich 21 Jahre alt, aufgewachsen in einem streng calvinistischen Milieu in Thun in einer liebenden Familie. Mein Grossvater war Pfarrer, mein Vater ein introvertierter Gerichtspräsident, meine Mutter eine temperamentvolle Bauerntochter mit einem grossen Herz. Eines Tages sah ich mit meinem glitzernden Velo aus dem Villenviertel kommend unten am Viehmarkt die Verdingkinder, die als Kindersklaven in zerlumpten Kleidern auf Schweizer Bauernhöfe verdingt, verkauft wurden, weil ihre Eltern kein Geld hatten, während die Grossbauern im Restaurant sassen und es sich bei Bier und Sauerkraut gut gehen liessen. Zuhause protestierte ich, diese unerträglichen Zustände müssten geändert werden. Mein Vater antwortete mit der calvinistischen Prädestinationslehre: das ist die Welt, die Gott so gemacht habe, da kann man nichts tun. Alles was du tun kannst, ist: mach deine Sache, also Matur, Studium, Anwalt. In dem Moment habe ich plötzlich mein Leben vor mir gesehen. Wie in einer Betonzelle sah ich mich erstarrt: Studieren, Frauen, Kinder haben, Anwalt und Notar in Thun und dann sterben.

Wie haben Sie reagiert?
Ziegler: Da habe ich mich gegenüber meinem Vater unglaublich schlecht benommen, ihn beschimpft und mit ihm gebrochen. Weil er ein liebender Mensch war, der viel Gutes tat, habe ich bis heute noch ein schlechtes Gewissen. Viel später haben wir wieder miteinander geredet und uns versöhnt.

Das war ein Schlüsselerlebnis…?

Jean Paul Sartre (1905-1980) war Vorbild von Jean Ziegler
Jean-Paul Sartre (1905-1980) war Vorbild von Jean Ziegler

Ziegler: …ja. Später in Paris lernte ich in der kommunistischen Jugendorganisation „Clarté“, Klarheit, Francis Janson kennen, der Sekretär von Jean-Paul Sartre war. Janson organisierte Geldtransporte, um die algerische FLN zu unterstützen. Als kleiner Schweizer fiel mir eine gewisse Rolle zu, weil ich einen Schweizer Pass hatte. Den hatte ich offiziell immer wieder verloren, um auf der Schweizer Botschaft alle drei Monate einen neuen zu beantragen. Tatsächlich aber konnte die Untergrundorganisation FLN-Mitgliedern mit den falschen Papieren helfen, damit sie unbehelligt ins Ausland reisen konnten. Die Clarté wurde vom Politbüro aufgelöst, weil die kommunistische Partei Frankreichs anders als wir für das Kolonialregime in Algerien Partei ergriff.

In Paris wurde Jean-Paul Sartre eine wichtige Figur für Sie….
Ziegler: Sartre unterstützte Clarté und lud uns Studenten immer wieder zu Diskussionen zu sich in die Rue Bonaparte ein. Von Sartre habe ich alles gelernt! Er hat mir mit seinem Beispiel gelehrt, was ein engagierter Intelektueller tun muss, nämlich sich in den Dienst der Ärmsten und Unterdrückten zu stellen. Nach der Ermordung Lumumbas 1961 übernahm die UNO die Verwaltung des Kongos. Ich erhielt eine kleine Beamtenstelle bei der UNO. Als ich zum ersten Mal nach Europa zurückkehrte, besuchte ich natürlich Sartre. Er hörte mir zu, befragte mich eindringlich und am Schluss sagte er: „Das müssen Sie schreiben.“ Mein Essay wurde von seiner Zeitschrift „Les Temps Modernes“, der heiligen Schrift der Weltlinken damals, veröffentlicht. Bevor dort mein Essay erschien über „Die weissen Söldner in Katanga“, die Söldner der Minengesellschaften, las ihn Simone de Beauvoir. Sie machte mit einem Federstrich aus dem biederen deutschschweizer Hans den französisch wohlklingenden Jean. Sarte verschaffte mir Zugang zum grössten französischen Verlag Gallimard. Dort erschienen meine ersten Bücher.

Sie haben nie ein Blatt vor den Mund genommen und die Verantwortlichen für Ungerechtigkeiten dieser Welt beim Namen genannt. Das mussten Sie teuer bezahlen. Sie wurden wegen übler Nachrede verurteilt zu mehreren Millionen Schweizer Franken Schadenersatz. Sie sind insolvent, heisst es und trotzdem lassen Sie sich nicht entmutigen…
Ziegler: … alle neun Prozesse habe ich verloren. Das Haus, in dem wir wohnen, gehört meiner Frau. Als noch an der Universität Genf Professor war, hatte ich Lohnpfändung. Aber man stirbt nicht am Hunger. Die nerven zermürbenden Angriffe damals waren für mich und meine Familie nicht angenehm. Ich hatte Polizeischutz, zweimal gab es Sabotage an meinem Auto, in einem Fall hätten die Folgen tödlich sein können. Ich will diese Dinge nicht verniedlichen. Aber der Kampf im Gerichtssaal macht die Dinge transparent. Safran, Kopp und alle diese Beutejäger mussten vor Gericht Rede und Antwort stehen. Einen Banker hatte ich Betrüger, einen anderen Geier genannt Auch wenn die Prozesse damals verloren gingen, würde ich sie heute gewinnen. Der Schweizer Banken-Banditismus ist heute evident. Die gewaschenen Drogengelder, die Verurteilungen der UBS und der CS in den USA sprechen eine deutliche Sprache.. Das ist vom Sachverhalt her faktisch alles bewiesen.

Warum fechten Sie Ihre Verurteilungen dann heute nicht an?
Ziegler: Zum einen habe ich kein Geld für die horrenden Anwaltskosten, zum anderen wäre das nicht gut, weil es dann hiesse, der Ziegler will einfach Recht haben. Mir geht es um die soziale Kontrolle der Banken. Seit 2000 habe ich Immunität aufgrund meines UNO-Mandats. Ohne diese Immunität hätte ich mein neues Buch „Ändere die Welt!“ nicht in dieser Klarheit schreiben können. Auch die Angriffe auf die Nahrungsmittelspekulanten – sie töten Menschen – hätte ich ohne Immunität nicht in dieser Klarheit machen können.

Sie sind nun 81 Jahre alt und gehen auf den Tod zu. Wie geht es Ihnen mit der Vorstellung, es gibt Sie eines Tages nicht mehr?
Ziegler: Ich werde erwartet, so hat es ein französischer Jesuit ausgedrückt. Ich glaube, so ist es. Wie die Auferstehung vor sich geht, kann unser gebrochenes Bewusstsein nicht wissen. Aber die Zeichen der göttlichen Liebe sind in meinem Leben so unglaublich evident, so dass ich glaube, dass ich erwartet werde.

Jean Ziegler, Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen, C. Bertelsmann, München 2015, 288 Seiten

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