Mein Götti-Meitschi ist ein Bub

Ein Pfarrer sieht die Transidentität seines Patenjungen Felix als spirituelle Bereicherung. Aber zuerst ist er mal erschüttert.
Von Philipp Koenig

Ich bin verwirrt, verunsichert, erschüttert: Auf einem Spaziergang offenbart sich mein Göttimeitschi zögernd, sie sei eigentlich ein Bub. Kein Mädchen, ein Bub. Immer schon gewesen. Erst in den letzten Monaten habe sie/er es realisiert. Das Bild meines Göttimeitschis, meines Patenkinds, das ich seit vierzehn Jahren kenne, ist ins Wanken geraten. Wir haben Ferien in Italien zusammen verbracht, wir sind im Wallis Ski gefahren, wir haben am Bielersee gezeltet, wir haben gemeinsam die Zauberflöte gesehen, wir haben uns jeden Silvester mit vielen andern zusammen »Dinner for one« angeschaut. Sie hatte Zahnschmerzen
und Knochenbrüche, sie hat mir selbst gegossene Kerzen geschenkt und Buchzeichen und selbst genähte Picknicksäcke. Wir haben Feuer gemacht an der Sense, Ersten August gefeiert, Geburtstage und Mein Paten-Mädchen ist ein Junge Taufe – ich durfte sie selber taufen vor über zehn Jahren. Und jetzt soll alles anders sein?

»Das bin überhaupt nicht ich«

Ich bin verwirrt, verunsichert, erschüttert. Will sie sich interessant machen? Sitzt sie einer Mode auf? Ist dies Ausdruck einer vorübergehenden Identitätskrise, die zur Pubertät gehört? Wir setzen uns in eine Beiz und allmählich wird mir klar: Das ist nicht lustig. Transidentität ist kein Witz und kein Spiel. Das ist kein Farbtupfer in ihrer/seiner Biografie. Es ist auch nicht vorübergehend. Nein, es ist erschreckend und betrifft alles. Ihr/sein ganzes Leben ist erschüttert.

Mein Bild vom Menschen beginnt zu Wanken:
männlich, weiblich und – ja: was noch?

Ein fremder Mensch sitzt vor mir am Beizentisch, der gleiche Mensch, der aber schmerzhaft überzeugend sagt: Ich bin eigentlich ein Bub. Erschüttert werden und erschreckt merken: Das betrifft alles – das sind mögliche Merkmale eines spirituellen Erlebnisses. »Fürchte dich nicht!« raunen die Gottesboten in der Bibel in diesen Erzählungen als erstes.
Hier muss ich es mir selber zureden. Und ich versuche, dies auch Felix (Name geändert) zu vermitteln: Fürchte
dich nicht! Felix, so heisst er nämlich jetzt, offenbart mir: Zur neuen Identität gehört häufig auch ein neuer Name. Nicht nur beim Eintritt ins Kloster oder häufig bei der Heirat, sondern auch in biblischen Erzählungen: Aus Sarai wird Sara, aus Abram wird Abraham, aus Jakob wird Israel, aus Saulus Paulus. –

Was heisst das für dich, ein transidenter Junge zu sein?, frage ich.

– Mein Leben ist um einiges komplizierter als das der meisten andern, antwortet Felix, und es wird kompliziert bleiben.
– Weil die Gesellschaft dich als Mädchen einteilt?
– Nicht nur; die eigentliche Schwierigkeit ist bei mir, dass ich im falschen Körper lebe.
– Du hast das Gefühl, du genügst nicht?
– Nein, dann könnte ich ja etwas verbessern. Mein Körper, das bin ich überhaupt nicht.
– Aber du bist doch noch der gleiche Mensch, sage ich, mich ängstlich an Bekanntes klammernd.
– Nein, antwortet Felix, nein, ich bin ein anderer Mensch.
– Du willst ein Mann werden, weil du dich wie ein Junge oder Mann fühlst?
– Nein, ich fühle mich nicht nur wie ein Junge, ich bin ein Junge! Die allermeisten Leute vertrauen auf das biologische Geschlecht. Bei der Geburt teilen wir die Bébés ein in männlich und weiblich, weil die Geschlechtsteile so aussehen: männlich oder weiblich.
– Bei dir ist das anders: Du bist zwar biologisch ein Mädchen, aber eigentlich ein Junge.
– Ja.
(Der Dialog mit Felix ist verdichtet wiedergegeben und entspricht nicht dem genauen Wortlaut)

Ein Grundvertrauen ist erschüttert bei mir: das Vertrauen, dass die Biologie recht hat.

Später wird es noch komplizierter werden: Die Biologie liegt nicht nur falsch, sondern zwischen den Polen »männlich« und »weiblich« öffnet sich ein weites Feld an möglichen Identitäten, die mit Biologie nichts zu tun haben, wie der Psychotherapeut
Udo Rauchfleisch betont. Sehr wohl aber hat dieses weite Feld möglicher Identitäten viel mit den Möglichkeiten von Gottes Schöpfungskraft zu tun. Transidentität berührt alle Lebensbereiche eines Menschen: die bio-psycho-soziale und die spirituelle
Dimension des Menschseins. Bei Transidentität geht nicht allein um Sexualität und Politik, auch nicht nur um Medizin, sondern zuerst einmal um Spiritualität:

Wer bin ich eigentlich? Tief drin? Unabhängig von Zuschreibungen, biologischen Tatsachen und psychischen Anlagen? Wer will ich sein? Wer sieht und unterstützt mich dabei? Wer schützt meine Integrität? Welche Hoffnung darf ich haben? Welche Zukunft kann ich mir erarbeiten? Wo gehöre ich dazu? Was kann ich in der Welt bewirken? Welches ist mein Ruf, meine Berufung?

– All dies sind spirituelle Fragen, die aus meiner Sicht tiefer und zentraler sind beim Thema Transidentität als die Fragen nach Sexualität (Wie lebe ich sie?), Medizin (Was will ich angleichen?) und Politik (Welche Rechte habe ich?). Die Fixierung auf Sex, Medizin und Politik lenkt von den wesentlichen Fragen ab, die für Transidente grundlegend sind: von den spirituellen
Fragen, die  bio-psycho-soziale Dimensionen jeweils einschliessen.

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