Theorie und ein Hauch praktischer Erfahrungsberichte

Ein bedeutendes, mit Gewinn zu lesendes Buch mit einem hinkenden Fuss

Ecuador 09 059

Bild: Kirche in Ecuador. Stephanie Weiss

1970 entstanden, in der Folge von Papst Johannes Paul II und Kardinal Josef Ratzinger unbarmherzig bekämpft, lebt die Theologie der Befreiung noch immer. Ein Buch von 5 Autoren, das kürzlich erschienen ist, bezeugt das. Die Autoren legen eine weiterentwickelte Theologie der Befreiung vor.

Der Titel gibt zu denken: „Der himmlische Kern des Irdischen“. Urs Eigenmann sieht in dieser Formel den Kern der Theologie der Befreiung formuliert. Dein Reich komme, heisst es im Vater unser. Reich Gottes ist ein zentrales Wort der Predigt Jesu. Jesus hofft auf den Messias. Konstitutiv für das Christentum ist die Orientierung am Reich Gottes, das der himmlische Kern des Irdischen ist. Für den evangelisch- reformierten Theologe Leonhard Ragaz (28. Juli 1868; † 6. Dezember 1945 ) hat Jesus das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit für die Erde verkündet. So hat das Himmelreich nichts mit dem Jenseits zu tun, sondern heisst einfach Reich Gottes für die Erde. Damit ist nach Eigenmann das Christentum ein von der Option für die Armen geleiteter, pauperozentrischer Humanismus der Praxis.

Die ersten Christ*innen lebten aus dem Reich Gottesglauben und standen im Kampf gegen das römische Reich und seine Götter. Die Bewegung der Jesusgläubigen wurde bis zur konstantinischen Wende verfolgt. Der gepeinigte Jesus am Kreuz war gleichsam ihre Ikone. 311 wurde das Christentum durch das Toleranzedikt des Kaisers Galerius allen Religionen gleichgestellt. 313 hat Kaiser Konstantin, der zum Christen wurde, das Christentum zur Staatsreligion gemacht. Ab da war „Christus pantokrator“ die Ikone. Die so erfolgte fundamentale Wende war aber kein Sieg über das römische Reich, sondern eine Imperialisierung des Christentums. Das bedeutet die Errichtung einer Zwei-Klassenkirche von Laien und Klerikern. Frauen werden aus Leitungsämtern verdrängt, die sie bei Paulus noch innehatten.

Der Glaube als Hoffnung und Hingabe wird durch einen Glauben ersetzt, der das Für-wahr-Halten ewiger Wahrheiten zum Zentrum des Glaubens macht. Das bedeutet eine Macht über die Kirche des Kaisers, der im Konzil von Nicäa 325 in die Diskussion eingriff. Die so veränderte Kirche war bis zum Zweiten vatikanischen Konzil normbestimmend. Erst dieses Konzil (1962-1965) brachte eine neue Wende, die die Rede von der Kirche bestimmte und in der Praxis der Kirche umgesetzt, aber auch hart bekämpft wird.

An die Umsetzung in die Praxis machten sich beispielhaft die lateinamerikanischen Bischöfe. Dom Helder Camara war der Inspirator dieser Bewegung. 1970 setzte Gustavo Gutierrez mit seinem Buch «Teología de la Liberación» das grundlegende Werk der Theologie der Befreiung, das ihr auch den Namen gab. In ihm beschrieb er deren Selbstverständnis und Methode und markierte so den Beginn einer neuen Art, Theologie zu betreiben. Leonardo und Clodovis Boff, Jan Sobrino, dessen Jesuitenfreunde in San Salvador ermordet wurden, Erzbischof Oscar Romero, der während einer von ihm in einer Krankenhauskapelle in San Salvador zelebrierten Messe von einem durch die Fuerza Armada de El Salvador mit dem Mord beauftragten Soldaten erschossen wurde.

Mit einem Artikel von Walter Bochsler zur Sozialgeschichtlichen Aspekten der frühen Entwicklung des Christentums und einem praktischen Beitrag von Joseph Thali-Kernen zu einer befreiungstheologischen Pfarreiarbeit schliesst das Buch. Dazu gehören die Überlegungen von Maria Klemm-Herbers, die vom inneren Leben des collège de brousse berichtet, einem Arbeitskreis befreiungstheologisch denkender Theologen.Das Buch gibt zu denken und führt in eine Theologie ein, deren Bedeutung noch immer unterschätzt wird.

Trotzdem stelle ich zwei bedeutsame Mängel fest. Erstens: mulier taceat in teologia liberationis – die Frau schweige in der Theologie der Befreiung. Gerade mal nur eine Frau wird im zentralen Artikel von Urs Eigenmann erwähnt. Als ob es die Brasilianerin Ivonne Gebara oder die Mexikanerin Elza Tames, die deutschen Dorothee Sölle und Elisabeth Schüssler Fiorenza, die ihre Theologie ausdrücklich als Theologie der Befreiung versteht, und Luise Schottroff nicht gäbe. Zweitens: In der theoretischen, theologischen Reflexion verfängt sich das Buch. Befreiungstheologie ist praktisch, ist überall zu lesen. Einzig der Beitrag von Joseph Thali-Kernen berichtet von befreiungstheologischer Praxis. Mir ist das Buch deshalb einseitig blind.

Xaver Pfister

 

Der himmlische Kern des Irdischen. Hrsg. Von Urs Eigenmann, Kuno Füssel, Franz J. Hinkelhammert. Edition Exodus Luzern 2019E, dition ITP-Kompass Münster

1 Gedanke zu „Theorie und ein Hauch praktischer Erfahrungsberichte“

  1. „Sag mir, wie die Frauen sind, wo sind sie geblieben?“ das habe ich mich auch gefragt! Und da wären noch die beiden mit dem sechs Jesuiten 1989 ermordetetn zu erwöhnen: Die Haushälterin der Herren Elba Julia Ramos und ihre Tochter Celina.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar