Zum Tod des Jahrhundert-Theologen Hans Küng

Mit dem Tod des Theologen Hans Küng verstummt eine der bedeutendsten kritischen Stimmen der Christenheit. Der umtriebige Jahrhundert-Theologe hinterlässt tiefe Spuren in der Geschichte des Christentums. Text: Wolf Südbeck-Baur


Bild: Wolf Südbeck-Baur

 

Als Hans Küng 2018 im März 90 Jahre alt geworden war, platzte der Festsaal der Universität Tübingen aus allen Nähten. Symbolträchtig: Margot Kässmann, zurückgetretene Bischöfin und Reformationsbeauftragte des Lutherjahrs 2017, würdigte das Lebenswerk des Schweizer Jahrhundert-Theologen. Das war kein Zufall, denn Hans Küng hatte bereits vor der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) mit seiner ökumenisch wegweisenden Dissertation schlüssig dargelegt, dass die evangelische Lehre von der göttlichen Vergebung bei Karl Barth mit dem katholischen Dogma des Konzils von Trient (1545-1563) zu vereinbaren ist. «Ein Fanfarenstoss in Richtung Ökumene längst vor dem Konzil», wie der Küng-Kenner und frühere Sternstunde Religion-Moderator Erwin Koller neulich im aufbruch betonte.

«Ein Fanfarenstoss in Richtung Ökumene längst vor dem Konzil»
Erwin Koller

Gemäss Lutheranerin Kässmann stellte Hans Küng schon 1964 fest: «Die Wahrheit des Evangeliums und die Wahrheit der Weltreligionen lassen sich dialektisch zueinander in Beziehung bringen. Christliche Identitätsfindung schliesst nach Küng ökumenische Konsensbildung nicht aus, sondern ein, und die praktische Konsequenz für Christen ist damit für ihn: Verständnis, Verbundenheit, Verpflichtung der Kirche als der Minderheit gegenüber den Angehörigen der Weltreligionen als der Mehrheit der Menschheit.» Die Grundlagen für Küngs Projekt Weltethos sind Mitte der 60er Jahre bereits gelegt, sollten allerdings erst ab 1980 zur vollen Blüte kommen. Aber der Reihe nach.

Für Reformen in der Kirche

In den Konzilsjahren wirkte Hans Küng, der 1960 nach kurzer Seelsorgetätigkeit an der Luzerner Hofkirche an der Katholischen Fakultät der Universität Tübingen auf den Lehrstuhl für Fundamentaltheologie berufen worden war, als Konzilsberater in Rom und rastlos für Reformen in der Kirche. Als es in den Jahren nach dem Konzil um die Umsetzung der epochemachenden Zusammenkunft ging, engagierte sich der damals vergleichsweise junge Theologe volle Kraft voraus um die vielfältigen Baustellen zur Erneuerung der Kirche. Küng machte Vorschläge zur Reform des römischen Systems, zur Abschaffung des Pflichtzölibats, für ein zeitgemässes Glaubensbekenntnis, für die Anerkennung der Ämter der anderen Kirchen und ihrer Abendmahlsfeier, für die Einführung demokratischer Elemente insbesondere bei der Bischofswahl, für die Ordination von Frauen, für einen neuen Umgang mit Mischehen und Wiederverheirateten, zur Stärkung des Gewissensentscheids insbesondere im Blick auf Empfängnisverhütung und Sexualität. Die meisten seiner Vorschläge verhallten leider unerhört.

Dabei ging es dem brillianten Rhetoriker um nichts weniger als um die Verlebendigung der neu errungenen Freiheit des Christen, die basiert auf seiner «Christologie von unten». Diese unterscheidet sich beträchtlich von der hellenistisch geprägten Christologie von oben von Papst Benedikt XVI. respektive Joseph Ratzinger. 2007, kurz nach dem Erscheinen seiner zweibändigen Memoiren «Erkämpfte Freiheit» (2002) und «Umstrittene Wahrheit» (2007) kommentierte Küng: «Ich war damals noch der Überzeugung ­– und beziehe mich auf ein konkretes Gespräch in meinem Auto, wo er (Ratzinger) diesen Zugang zu Jesus von unten, von der Bibel und Geschichte her, für möglich angesehen hat: ist ja nicht schlecht, er macht das so, ich machs so. Ich war ohnehin meiner Sache genügend gewiss, dass ich auch einen anderen Ansatz durchaus tolerieren konnte. Ich sah, beide Sichtweisen ergänzen sich. Ich kann ja, wenn ich von unten oben angekommen bin, auch wieder von oben nach unten auf die Gestalt Jesu schauen.»

«Ich glaube nicht, dass mich das Konsensdenken in der Schweiz geprägt hat»
Hans Küng

Den Einwand, dass diese Haltung fast so pragmatisch klinge wie beim Dachdecker und womöglich im Konsensdenken der Schweiz verwurzelt sei, konterte Hans Küng: «Ich glaube nicht, dass mich das Konsensdenken in der Schweiz geprägt hat. Ich bin auch nie dadurch aufgefallen, dass ich besonders für eine Konsensdemokratie im negativen Sinn geworben hätte. Ich war vielmehr vom Pathos der Freiheit bestimmt. Bei meiner Rede zur 700-Jahr-Feier der Schweiz 1991 habe ich bis hin zu den Mythen von Tell, von Winkelried und vom Rütli meine Position klar bestimmt. So war mir zum Beispiel der Satz „Wir beugen uns nicht vor Gessler-Hüten“ wichtiger als der Konsens der Demokratie. Ich habe immer gesagt: wir beugen uns in der Schweiz nicht vor Gessler-Hüten, auch wenn sie Bischofsmützen sind.» Und Küng doppelte nach: «Ich kämpfte schon damals für ein schriftgemässes und zeitgemässes Christentum, das sich an Jesus von Nazareth selber orientiert. Darum kämpfe ich gegen ein autokratisches, autoritäres und bisweilen totalitäres römisches System.» Auch jetzt nach seinem Tod gilt trotz mancher Bemühungen von Papst Franziskus nach wie vor Küngs Diktum: «Heute wird man feststellen, dass es ein Verhängnis war, dass diese Reformen nicht in Angriff genommen werden durften. Ein Verhängnis bis heute!»

Von Rom verstossen

Nach den Aufbruch-Jahren in der postkonziliaren Zeit der 60er Jahre drehte sich der Wind innerhalb der katholischen Kirche mehr und mehr gegen Reformen. Der inzwischen weltbekannte und weltweit vernetzte Theologe aus Sursee musste dies in seinen wohl bittersten Stunden 1979 erleben, als Rom ihm die Lehrerlaubnis entzog wegen seiner kritischen Anfragen an die Unfehlbarkeit des päpstlichen Systems, die 1871 als Dogma ex cathedra behauptet und verkündet worden war. Küng hielt dagegen mit der heute weit herum unstrittigen Überzeugung: «Päpstliche Lehräusserungen können und dürfen nicht als unfehlbar verstanden werden.» Auch wenn die Nachricht vom Entzug der kirchlichen Lehrerlaubnis, die ihn beim Skifahren im österreichischen Lech erreichte, für Küng ein „gewaltiger Schock“ war, haute sie den Schweizer Theologieprofessor nicht um.

«Päpstliche Lehräusserungen können und dürfen nicht als unfehlbar verstanden werden.»
Hans Küng

Zwei Dinge waren für ihn klar: „Wer von Rom weltweit öffentlich gebrandmarkt ist, wird nicht mehr dieselbe Stellung in Kirche und Universität haben wie zuvor. Das kuriale Kalkül ist durchsichtig: Man will mich endlich als katholischen Theologen erledigen! Ich soll zwar Katholik und Priester bleiben, aber die kirchliche Lehrbefugnis und damit auch das kirchliche Prüfungsrecht und damit auch Studenten, Doktoranden und Habilitanden und schliesslich meine Fakultät verlieren“, sagte Küng im Gespräch mit dem Autor 2007. Er wich der römischen Inquisition nicht, sondern setzte alle legitimen Mittel ein, um den Ausschluss aus der Tübinger theologischen Fakultät zu verhindern. Schliesslich sei gegen keines seiner Bücher ein ordnungsgemäßes Verfahren durchgeführt worden. Nie war ihm Akteneinsicht, nie eine faire Chance der Rechtfertigung geboten worden, nur die Möglichkeit der demütigen Unterwerfung.  „Ich war der Überzeugung: Komme, was da kommen mag, ich lasse mich nicht so ohne weiteres vom Fenster wegbewegen!“ Nach ebenso dramatischen wie erfolglosen Vermittlungsversuchen kippten sieben seiner zwölf Tübinger Professorenkollegen um und wechselten auf die römisch-kuriale Seite. So musste Küng anfangs 1980 gezwungenermassen an der katholischen Fakultät seine sieben Sachen packen, behielt aber immerhin als Professor der Theologie mit seinem ökumenischen Institut alle akademischen Ehren und einen Platz an der Universität, ohne einer Fakultät anzugehören.

Im Gespräch mit den Weltreligionen

Derart ausgestattet mit neuer Freiheit und mit aufrechtem Gang zog Hans Küng 1980 erneut in die Welt und erkundete die Kontinente auf den Spuren der ökumenischen Grundidee in den Weltreligionen. Seine Spurensuche – viele werden sich an die gleichnamige TV-Serie erinnern – drehte sich um Fragen wie: Welche Bedeutung haben der Islam und das Judentum für das Heil der Menschen? Wie verhalten sich der Buddhismus, der Hinduismus und der Konfuzianismus zur Botschaft des Mannes aus Nazareth? Und wie ist das Verhältnis zu Agnostikern und erklärten Atheisten zu charakterisieren? Küng pflegte intensiv das interreligiöse Gespräch, wobei er anderen Religionen nie als Konkurrenten begegnete, sondern «immer als Erweiterung und als Herausforderung des eigenen Glaubens», wie der holländische Theologe Hermann Häring urteilt.

Diese ökumenisch der Sinnsuche der Menschen verpflichtete ehrliche Suche nach Antworten bei den Religionen führte Hans Küng mit seinem unabhängigen Ökumene-Institut im Rücken zum nächsten Kraftakt, der Entwicklung und dem Aufbau eines Weltethos-Projekts. Dieses Mammut-Projekt hätte es ohne sein unabhängiges Institut nie gegeben. «Ich hätte nicht die Zeit gehabt, mich auf all die neuen Forschungen einzulassen – weder auf Theologie und Literatur mit Walter Jens, noch auf die Weltreligionen, Indologie, Islamkunde, Buddhologie, chinesische Religion, weder auf die Naturwissenschaften noch auf die Politologie und Psychologie», räumte Küng ein.

Der umtriebige Gelehrte hatte in einer Welt der Kriege und der Missachtung der menschlichen Würde, in der Gewalt mancherorts heute wieder ideologisiert religiös gerechtfertigt wird, elementare Gemeinsamkeiten der Religionen herausdestilliert: «Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen. Kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen. Kein Dialog zwischen den Religionen ohne globale ethische Massstäbe. Kein Überleben unseres Globus ohne ein globales Ethos, ein Weltethos.» Zentral, so schärfte Küng bei seinen Vorträgen rund um den Globus ein, sei die Besinnung auf die Gemeinsamkeiten in den Religionen.

«Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen. Kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen. Kein Dialog zwischen den Religionen ohne globale ethische Massstäbe. Kein Überleben unseres Globus ohne ein globales Ethos, ein Weltethos.» Hans Küng

Die Idee des Weltethos

Dabei grenzte Küng sein Konzept des Weltethos stets ab von der Vorstellung, er propagiere die Bildung einer einzigen Weltreligion. Fragen nach Leben und Tod, Fragen nach dem Sinn des Lebens, die Begründung des sittlichen Bewusstseins, dies seien allen Menschen gemeinsame Fragen, bei deren Beantwortung «Religion und Philosophie viel ausrichten können», erklärte der Gründer der Stiftung Weltethos 2007 anlässlich einer Weltethos-Ausstellung in Basel. Dabei war für Küng klar, dass ein für alle Religionen verbindliches Weltethos von Gläubigen und Ungläubigen nur durch den gemeinsamen Dialog Anerkennung finden könne. Dazu sei es jedoch nötig, dass die Menschen aller Religionen voneinander wissen. Tatsächlich allerdings wüssten sie, so Küng, vor allem über das Gemeinsame in all den religiösen und ethischen Traditionen viel zu wenig. Daher rückte der Schweizer Theologe unermüdlich zwei Grundsätze menschlichen Zusammenlebens ins Zentrum: Jeder Mensch soll menschlich behandelt werden. Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu! Auf diesem gemeinsamen Gut basieren vier, in allen Weltreligionen anerkannte Grundgebote:  Achte das Leben, das Eigentum, die Wahrheit und die Partnerschaft oder in den Worten von Küngs langjährigem Weggefährten Hermann Häring: «Aus dem (1) Tötungsverbot lassen sich Gewaltlosigkeit und die Ehrfurcht vor allem Leben erschliessen, aus dem (2) Verbot des Diebstahls die modernen Forderungen nach Solidarität und sozialer Gerechtigkeit entfalten. Das (3) Verbot zu lügen, erhält im gegenwärtigen Medienzeitalter als Ablehnung von Manipulation und Korruption neue Dringlichkeit, und die Brücken zu einer Kultur der Toleranz und Wahrhaftigkeit sind einfach zu schlagen. Manchen mag schliesslich frappieren, wie nahe das oft belächelte (4) Verbot der sexuellen Untreue mit den hochmodernen Forderungen nach einer Kultur der Gleichberechtigung und Partnerschaft, aber auch mit der Treue- und Fürsorgepflicht gegenüber Kindern, den Alten und den Schwachen zu tun hat.» Diese Handlungsmassstäbe «können von religiösen und nicht-religiösen Menschen mitgetragen und gelebt werden», meinte Küng. Diese seine felsenfeste Überzeugung bildete denn auch das Grundgerüst der Schlusserklärung der Versammlung der Weltreligionen, die 1993 in Chicago stattfand.

Mit der Idee des Weltethos hat Hans Küng ein Fundament gelegt, «auf dem nicht nur die Ökumene der Religionen, sondern auch die Zusammenarbeit für ein gemeinsames Ethos in Politik und Wirtschaft vorangetrieben werden kann», bringt es Küng-Kenner Koller auf den Punkt. Mit der «Einbeziehung anderer Religionen in sein katholisch-ökumenisches Denken und mit dem Projekt Weltethos», resümiert Hermann Häring Küngs Leistung, «ist es ihm gelungen, der christlichen Theologie und den Religionen in einer säkularen Weltöffentlichkeit ein Gehör von grosser Intensität zu verschaffen». Davon zeugen sein Auftritt vor der UNO 2001 ebenso wie die weltpolitisch einflussreichen Staatsmänner, die in Tübingen eine Weltethos-Rede hielten – von Kofi Anan über die frühere Staatspräsidentin Irlands Mary Robinson bis alt Kanzler Helmut Schmidt.

«Die christlichen Kirchen würden gut daran tun, die von hier ausgehenden Impulse aufzugreifen und ihre Botschaft vorbehaltlos in den Dienst einer versöhnten Menschheit zu stellen.» Hermann Häring

Mit dem Tod von Hans Küng verstummt ein Jahrhundert-Theologe, der vorgelebt hat, «wie interessant und einflussreich eine für die Welt offene Theologie sein kann». Und Hermann Häring liegt alles andere als falsch, wenn er betont: «Die christlichen Kirchen würden gut daran tun, die von hier ausgehenden Impulse aufzugreifen und ihre Botschaft vorbehaltlos in den Dienst einer versöhnten Menschheit zu stellen.» Dabei wird Hans Küng der Welt fehlen.

 

5 Gedanken zu „Zum Tod des Jahrhundert-Theologen Hans Küng“

  1. Dem exzellenten Kommentar von Hugo Krebser möchte ich nichts hinzufügen. Nur eine Frage: Warum hat Papst Franziskus nicht den Mut gehabt, Hans Küng zu rehabilitieren? Für mich eine grosse Enttäuschung.

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  2. Schade, dass seine Idee „Weltethos“ noch nicht zu einer Veränderung der katastrophalen „Weltverhälnisse“ geführt hat. Wir brauchen keine Religion, das sagt auch der Daleilama, was wir aber alle dringend brauchen, das ist die Kraft des guten Gottes.

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