Der kamerunische Historiker Adama Ousmanou forscht zu Macht, Religion und Ethnizität im Tschadbecken. Er hat Feldstudien in Nigeria durchgeführt und kennt den Terror Boko Harams aus eigener Erfahrung. Momentan lebt er in Basel.
Adama Ousmanou wächst in einer polygamen Familie in Maroua im Norden Kameruns auf. Seine Kindheit, die er als friedlich beschreibt, endet damit, dass er ein Internat besucht, welches von Christen geleitet wird. Da werden seine lückenhaften Kenntnisse des Islam zum ersten Mal herausgefordert. «Erst später realisierte ich, dass mein Entschluss, Religion und den interreligiösen Dialog ins Zentrum meiner Studien zu stellen, die Wurzeln wohl in jener Zeit hat.»
Er beginnt, Geschichte zu studieren, weil wichtige Aspekte gesellschaftlichen Handelns wie zum Beispiel militärische Aktionen nicht experimentell untersucht werden können. «Deshalb muss uns die Geschichte als Laboratorium dienen, um zu verstehen, warum unsere komplexe Spezies sich in gesellschaftlichen Zusammenhängen so verhält, wie sie es tut.» Eigentlich hat Ousmanou vor, Diplomat zu werden; als er die Aufnahme ans Institut für internationale Beziehungen aber nicht schafft, entschliesst er sich, den Doktortitel zu machen. Titel seiner Doktorarbeit: «Islam, Volkszugehörigkeit und Macht: eine vergleichende Studie über Kamerun, Tschad und Niger von 1960 bis heute».
Um einem solch breiten Thema gerecht zu werden, ist zusätzliches wissenstheoretisches und methodisches Wissen zu erwerben. Ein japanisches Stipendium ermöglicht es ihm, im Center für vergleichende Studien der Human- und Sozialwissenschaften an der Universität von Nagoya/Japan seine theoretischen und konzeptionellen Zugänge zum Thema zu verbessern. «Das war ein überwältigendes akademisches und persönliches Erlebnis für mich», rekapituliert der Historiker diese Zeit.
Anschliessend beginnt Adama Ousmanou, als promovierter Historiker an der Universität seiner Heimatstadt zu lehren. Ousmanou schildert die Situation an seiner Universität so:«Wir leben, lehren und erledigen unsere täglichen Aktivitäten in ständiger Furcht vor neuen Angriffen von Boko Haram.» Die von der Terrororganisation verübten Selbstmordattentate vom 22. Juli 2015 (zwei Mädchen sprengen sich in die Luft, elf Menschen sterben mit ihnen) versetzen ganz Maroua in Angst. Militär und Polizei sind seither allgegenwärtig. «Am 29. Oktober hat das Militär zwei junge Frauen in der Nähe eines Klassenzimmers, in dem unterrichtet wurde, verhaftet. Gerade noch rechtzeitig. Die Bomben, die sie auf sich trugen, konnten entschärft werden», erzählt Ousmanou.
Die Universität sei ein hochsymbolisches Ziel für Boko Haram, weil sich deren Ideologie strikt gegen die westliche Bildung richte. Der Name der Terrororganisation bedeutet in etwa «Bücher sind Sünde». Wegen der Sperrstunde seien Lernende und Lehrende angewiesen, nachts in ihren Häusern zu bleiben und alle Lehrveranstaltungen müssten um 17.30 Uhr beendet sein. Boko Haram wolle seiner Heimatstadt und -region so viele Verluste wie möglich zuzufügen. Wegen ihres apokalyptischen Bezugsrahmens sei der Verlust von Menschenleben für sie bedeutungslos – nach der Devise: je mehr Opfer, desto besser. Der Verlust eigener Mitglieder zähle für sie ebenfalls wenig, würden für sie solche Opfer durch Vergünstigungen im Jenseits doch mehr als ausgeglichen. Ungläubige, egal, ob als gezielte Opfer oder zufällig Betroffene, verdienten den Tod und sie umzubringen sei für Boko Haram eine moralische Pflicht. Deshalb hätten nicht nur die christlichen, sondern auch die islamischen religiösen Führer von Maroua in ihren Sonntags- und Freitagspredigten unmissverständlich darauf hingewiesen, dass es keinerlei islamische Rechtfertigung der Verbrechen von Boko Haram gebe.
Seit dem Ausbruch des Kriegs gegen Boko Haram hält Ousmanou die Faktenlage laufend fest. Die Front bleibe begrenzt auf die Region im äussersten Norden Kameruns und verlaufe um drei Verwaltungseinheiten herum. Einbrüchen würden – gewissermassen als «Kollateralschaden» – wesentlich mehr Tote fordern als Attentate ohne Einbruchsabsicht.
Das sei aber nicht der einzige Tribut, den die Region auf Kosten der Sekte zahle. Mitglieder von Boko Haram würden systematisch Vieh stehlen, was die hohe Zahl getöteter und verwundeter Hirten erkläre. Hunderte von Rindern, Ziegen und Schafe hätten seit April 2015 die Grenze zwischen Kamerun und Nigeria passiert. Während dieser Zeitperiode seien etwa ein Dutzend Soldaten aus Kamerun an der Front getötet worden, während rund 40 Boko-Haram-Mitglieder gefallen seien.
Auch habe er einen Methodenwechsel in der Art der Angriffe beobachtet. Ousmanou erläutert das an Beispielen in Nord-Nigeria und in Tschad. Dort würden junge Selbstmordattentäter an die Türen der Zielhäuser klopfen und dann ihre Bomben explodieren lassen, statt ihre Opfer im Kreuzfeuer oder aus dem Hinterhalt zu erschiessen. Diese Änderung könne man aus dem Erfolg einer Präventionskampagne erklären, welche die Bevölkerung darüber aufgeklärt habe, wie man einen Selbstmordattentäter durch sein Benehmen in der Öffentlichkeit erkenne; ein anderer Grund liege in der erfolgreichen Eindämmung des Aufstands durch die Streitkräfte.
«Der Kampf gegen den Terrorismus ist keine Aufgabe, die von einer einzelnen Behörde übernommen werden kann, sondern erfordert Teamwork und den Einsatz einer grossen Auswahl von nationalen und internationalen Organisationen», ist Ousmanou überzeugt. Der Schlüssel zum Erfolg bestehe in Organisation, Zusammenarbeit und Koordination. Voraussetzung dafür sei eine gute Regierungsführung mit einer effektiven Verwaltung der staatlichen Ressourcen, Rechtsstaatlichkeit und der Entwicklung einer starken Zivilgesellschaft. Nur wenn es in den betroffenen Ländern eine solche Struktur gebe, könne der Krieg gegen den Terror, der von Unzufriedenheit und Unwissenheit genährt werde, gewonnen werden.
Für Ousmanou ist «Dialog» ein Schlüsselwort im religiösen Pluralismus: «Dialog ist ein Prozess, in welchem Individuen und Gruppen lernen, Furcht und Misstrauen voreinander zu überwinden und eine neue Beziehung zu entwickeln, die auf gegenseitigem Vertrauen basiert. Man muss den Dialog als Einladung sehen, Unwissenheit, Überheblichkeit und Stolz zu überwinden. Es ist eine Einladung, unsere Isolation, Selbstbezogenheit und Selbstgenügsamkeit zu durchbrechen, den anderen zu erkennen und anzuerkennen und das Leben verantwortungsvoll zu leben – was miteinschliesst, im Dialog mit unseren Nachbarn, mit der Schöpfung und mit Gott zu sein.»
Vor wenigen Wochen ist sein Stipendium als Postdoc-Stipendiat am Zentrum für Afrikastudien Basel ausgelaufen, bald kehrt der 37-jährige Forscher nach Maroua zurück. Wie sehen seine Zukunftspläne aus? «Einige meiner Kollegen aus Südkamerun beantragten ihre Versetzung von der Universität in Maroua in andere staatliche Universitäten des Landes.» Das komme für ihn nicht in Frage. Er habe vor, seine Studien zu Religion, Volkszugehörigkeit und Macht im Taschadbecken fortzuführen. Durch Forschung und Lehrveranstaltungen an der Maroua Universität und anderswo werde er die Bemühungen der Regierung unterstützen, gegen religiösen Fundamentalismus und Terrorismus in seiner Region und darüber hinaus zu kämpfen. «Wir untersuchen die Ursachen und Konsequenzen dieses asymmetrischen Kriegs und Antwortmöglichkeiten darauf. Das gibt meiner Universität die Möglichkeit, sich ein neues Studiengebiet zu erschliessen; meine Arbeit am Zentrum für afrikanische Studien in Basel hat den Grundstein dazu gelegt.»
Ein beeindruckendes Zeugnis von Konsequenz und Mut.