«Die AHV-Reform 21 ist eine verpasste Chance»

Der Lausanner Religionssoziologe Roland J. Campiche lehnt die geplante AHV-Reform ab. Die Gründe des Emeritus für ein Nein sind bedenkenswert. Zudem plädiert der 85-Jährige für die gezielte Förderung von lebenslangem Lernen. Darin sieht Campiche einen Beitrag zur Sanierung der AHV.

Von Roland Campiche

Ein derart schlecht ausgearbeitetes sozialpolitisches Projekt habe ich, ein teilnehmender Beobachter der Bundespolitik seit 50 Jahren, noch nie gesehen! Wie können wir vor die die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger treten und ihnen vorschlagen, die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zu konsolidieren? Ein erster, längst fälliger Schritt ist die Beseitigung der Lohnungleichheit. Das hätte zwei positive Wirkungen: 1) die Verfassung würde respektiert – keine Kleinigkeit! 2) ein Beitrag zur Sanierung der AHV würde geleistet, und zwar durch die Anhebung der Frauenlöhne, was zusätzliche AHV-Beiträge generieren würde. Wer ein Ja zur AHV-Reform in die Urne legt, geht bewusst oder unbewusst von der Vorstellung aus, dass die Frau dem Mann unterlegen ist, und trägt dazu bei, diese unfaire Situation zu zementieren.

Wer ein Ja zur AHV-Reform in die Urne legt, geht bewusst oder unbewusst von der Vorstellung aus, dass die Frau dem Mann unterlegen ist, und trägt dazu bei, diese unfaire Situation zu zementieren.

Roland Campiche
Fotos: Wolf Südbeck-Baur

Nicht nachvollziehbar ist zudem, was in dieser Vorlage unberücksichtigt bleibt. Dabei handelt es sich um das Faktum, dass der Eintritt in die Arbeitswelt immer später erfolgt. In Ermangelung statistischer Daten ist nach meiner Beobachtung davon auszugehen, dass der Einstieg in die Arbeitswelt drei Jahre später als in den 1960er Jahren erfolgt. Das hat mit der Verlängerung des Studiums und den veränderten Lebensgewohnheiten junger Menschen zu tun: Reisen, verschiedene Praktika … Es ist daher verständlich, dass mehrere europäische Länder das Rentenalter auf 66, 67 oder sogar 68 Jahre angehoben haben oder anheben werden.

Für die Schweiz ist das Zukunftsmusik. Zuerst müssen wir jene Sofortmassnahmen ergreifen, die konkret und zunehmend dazu beitragen, den durch die Alterung der Bevölkerung verursachten wachsenden Finanzbedarf zu decken. Regieren heisst vorausschauen – folglich müssen wir dieses Problem rasch angehen, damit wir uns nicht schon bald wieder in einer vergleichbaren Situation befinden!

Roland J. Campiche ist emeritierter Professor für Religionssoziologie an der Universität Lausanne. Er ist Herausgeber und Autor der bahnbrechenden religionssoziologischen Studie «Jede/r ein Sonderfall / Croire en Suisse/s» und des Buchs “Die zwei Gesichter der Religion”

«Eine der möglichen Sofortmassnahmen ist «lebenslanges Lernen» (Long Life Learning, LLL) – eine ergänzende, weil nicht an die Ausübung einer Berufstätigkeit gekoppelte Weiterbildung.«

Roland J. Campiche

Eine der möglichen Sofortmassnahmen ist «lebenslanges Lernen» (Long Life Learning, LLL) – eine ergänzende, weil nicht an die Ausübung einer Berufstätigkeit gekoppelte Weiterbildung. Der Kanton Waadt und nun auch der Bund bieten Erwachsenen ab 40 Jahren eine kostenlose berufliche Standortbestimmung an mit dem Ziel, den Weiterbildungsbedarf zu ermitteln oder berufliche Veränderungen zu fördern. So lässt sich die Tragödie der Arbeitslosigkeit älterer Arbeitnehmender vermeiden und das Risiko einer Verarmung verringern. Schliesslich werden dank der konsolidierten Aktivitäten dieser Arbeitnehmenden weiterhin AHV-Beiträge erhoben.

Über die Berufstätigkeit hinaus trägt «lebenslanges Lernen» dazu bei, auch im Ruhestand Wissen zu erhalten und zu erwerben. Das befähigt Seniorinnen und Senioren, freiwillig viele Aufgaben zu erfüllen: So haben etwa zur Zeit der Pandemie viele Grosseltern Unterstützung geleistet – und die Zahl der Beispiele liesse sich beliebig verlängern.

Noch ein Letztes, um den Nutzen des «lebenslangen Lernens» zu verdeutlichen: Das Training der Neuronen erhöht das kognitive Kapital und schützt so vor dem Alzheimer-Risiko. Ein Wundermittel dagegen? Heute ist das der einzig bekannte Schutz vor diesem Übel, das Chaos anrichtet und der Gesellschaft teuer zu stehen kommt.

Die Zukunft der AHV hängt deshalb von einer Vielzahl von Massnahmen ab, die koordiniert und vor allem umgesetzt werden müssen. Erforderlich ist die Zusammenarbeit mehrerer Eidgenössischer Departemente, insbesondere des Departements des Innern mit Bundesrat Alain Berset an der Spitze und des Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung, dem Bundesrat Guy Parmelin vorsteht. Ist das zu viel verlangt?

Übersetzung aus dem Französischen und Überarbeitung: Elisabeth Mainberger-Ruh

9 Gedanken zu „«Die AHV-Reform 21 ist eine verpasste Chance»“

  1. Ich bin enttäuscht, dass aufbruch.ch die AHV Reform ablehnt. Sie ist ausgewogen, die Übergangsphase wird von Kompensationen abgefedert. Für ein NEIN an der Urne zu plädieren, ist verantwortungslos und gefährdet die AHV.
    Natürlich muss die Lohnungleichheit endlich verschwinden, um der Bundesverfassunggerecht zu werden. Und das lebenslange Lernen ist eine Selbstverständlichkeit, wo das nicht der Fall ist, müssen fördernde Massnahmen eingeführt werden. Und natürlich muss die Altersgrenze auch in der Schweiz – in vernünftigem Rahmen und flexibel – bald angehoben werden.
    Veränderte Lebensgewohnheiten sind nicht zu verhindern; „die Verlängerung des Studiums…, Reisen, verschiedene Praktika“ sind wichtige Bausteine, um junge Menschen auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten.

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  2. Es gut mir leid, aber eine so schräge Argumentation habe ich noch selten gelesen. Kaum jemand bestreitet, dass es nach wie vor Ungleichheit bei dem Löhnen gibt. Korrigieren wir das und stellen Gleichberechtigung her, aber auch beim Rentenalter. Lebenslanges Lernen als „Sofortmassnahme“ zur Sanierung der AHV? Ja zur Reform heisst Zementieren der Unterlegenheit der Frau? Sorry, ich kann nicht folgen…

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  3. Seit wann ist „Aufbruch“ Sprachrohr der Gewerkschaften? Mit griffigen Slogans wie „zuerst Lohngleichheit“ lassen sich die Probleme der Altersvorsorge nicht lösen. Dies scheint aber ohnehin nicht das Ziel zu sein. Schade, dass sich „Aufbruch“ für eine Diskussion auf diesem Niveau hergibt.

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  4. Alles was Herr Eggenberger schreibt kann ich bestätigen. Es geht hier um die AHV. Frauen beziehen viel länger AHV und Männer zahlen aus verschiedenen Gründen mehr ein in diese Kasse. Das Umlageverfahren geht nicht mehr auf. Junge Menschen finanzieren immer mehr Renten.
    Zudem finde ich nicht gut, dass sich Frauen in der Opferrolle sehen.
    Grosse Ungerechtigkeiten bestehen tatsächlich in der Altersvorsorge aber bei der zweiten Säule. Wer Familienarbeit oder die Betreuungsarbeit (kranke Eltern, behinderte Familienmitglieder) übernimmt, kann keine bezahlte Arbeit übernehmen oder nur kleine Pensen. (oft weniger bezahlte Arbeit). Sie sind in keiner PK auch wenn sie drei mal 20% arbeiten. Jemand muss aber die Arbeit in der Familie übernehmen welche keine Rente generiert. Hier muss dringend etwas passieren und all die Frauen, die jetzt zur AHV ja sagen, werden genau hinschauen welche Lösungen das Parlament vorlegt.

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  5. Entgegen der Kommentare von Christoph Eggenberger und Dominik Weber-Rutishauser finde ich es sehr gut, dass der Aufbruch die Überlegungen von Roland Campiche veröffentlicht. Es geht nicht darum festzustellen, ob er Recht oder Unrecht hat. Vielmehr ist es wichtig, dass eher unbekannte Gedankengänge publiziert werden und zu noch mehr eigenem Denken führen. Sonst hört man immer nur die gleichen Gründe für ein JA oder ein NEIN.

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  6. Wir haben viele Baustellen, um die tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter voranzutreiben. Leider sind Gesamtlösungen wegen der Blockade von ganz Links und ganz Rechts weder in der Altersvorsorge (Altersvorsorge 2020) noch in der Energiepolitik (CO2-Gesetz) mehrheitsfähig, sodass die Veränderungen nun häppchenweise angegangen werden. Nun geht es um die Stabilisierung der AHV, dem Sozialwerk, von dem die Frauen am meisten profitieren. Der SKF Schweizerischer Katholischer Frauenbund hat bereits vor der Abstimmung zur Altersvorsorge 2020 im Jahr 2017 die Strategie aufgegeben, andere gleichstellungspolitische Forderungen als Pfand für die Rentenaltererhöhung zu benutzen – so die Lohn(un)gleichheit. Wir befürworten daher diese Reform mit einem grossen ABER, indem wir uns auch auf den anderen grossen Baustellen engagieren – der Revision des BVG, der gerechteren Verteilung der unbezahlten CareArbeit, der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf und und und.

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  7. Auch ich kann der Argumentation des Professors nicht folgen. In einer Demokratie gibt es nur Verbesserungen durch Kompromisse. In jedem Kompromiss sind aber Dinge verpackt, die ich nicht gut finde. Wenn ich aber mit einem Ja warte, bis alles stimmt, warte ich ohne Ende und ich habe nichts beigetragen, dass es für viele Menschen besser wird. Ich untedrstütze voll die Argumengtation von Simone Curau-Aepli.

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  8. Soeben sind die Stimmcouverts verteilt worden, genau die richtige Zeit, um die noch unentschlossenen Bürgerinnen und Bürger auf seine Seite zu ziehen. Das ist reinster Kampagnenjournalismus. Zudem verkennt der Artikel, dass Demokratie von Kompromissen lebt. In diesem Sinn ist er sogar demokratiefeindlich. Schade, dass sich der „aufbruch“ für sowas einspannen lässt. Er könnte die Leser verlieren, die nicht zur eigenen „Blase“ gehören.

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  9. Ich halte die AHV-Reform vor allem aus zwei Gründen nicht für ausgewogen, obwohl sie wirklich dringlich ist:
    1. sollte nicht ein Rentenalter festgelegt werden, sondern eine Beitragszeit. Diese beträgt heute 44 Jahre und könnte für beide Geschlechter auf 45 erhöht werden. Wer früh – etwa ab Alter 18 – AHV-Beiträge leistet, könnte dann auch früher – im Beispiel im Alter 63 eine volle AHV-Rente beziehen.
    2. entspricht das Niveau der minimalen AHV-Rente längst nicht mehr der Vorgabe der Bundesverfassung, nämlich die Sicherung des Grundbedarfs; auch dann nicht wirklich, wenn die Ergänzungsleistungen hinzugenommen werden. Darunter leiden vor allem die Frauen. Wenn sie im Alter gegenüber den Männern nicht ungebührlich benachteiligt werden sollen, müssen Beiträge aus der zweiten Säule auf die erste umgelagert werden.

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