«Ultraorthodox». Vom Schnürsenkel binden bis zum Paarungsakt in der Hochzeitsnacht ist in der chassidischen Satmar-Gemeinschaft jeder Lebensbereich streng geregelt. Kritische Fragen, zweifeln, suchen sind unerwünscht. Akiva Weingarten wurde dieses Korsett zu eng und kehrte dieser Gruppierung den Rücken, nicht aber dem Judentum. Der neue Basler Rabbi schrieb sich nun seine Erfahrungen von der Seele. Karima Zehnder vom aufbruch-Redaktionsteam erzählt von Weingartens mitreissendem Auftritt kürzlich in Basel.
Von Karima Zehnder (Leiterin Geschäftsstelle Inforel und Mitglied im Redaktionsteam vom aufbruch)
Vom Schnürsenkel binden bis zum Paarungsakt in der Hochzeitsnacht ist in der chassidischen Satmar-Gemeinschaft, einer ultraorthodoxen jüdischen Gruppierung, jeder Lebensbereich strengstens durchritualisiert. Oder anders: «Wir sprechen von einer Gemeinschaft aus dem 18. Jahrhundert», betont Rabbiner m immer wieder, um den Gästen an diesem Januarmorgen das damals wie heute unbewegliche Mindset der chassidischen Bewegung nahe zu bringen.
Wir befinden uns im jüdischen Vereins- und Veranstaltungsraum «Neuer Cercle» in Basel, wo eine jüdische Lesegruppe ihre Türen für eine öffentliche Buchbesprechung geöffnet hat. Die 2022 erschienene Autobiographie «Ultraorthodox» von Akiva Weingarten wird vorgestellt und mit dem anwesenden Autor besprochen. SRF-Redaktorin Dorothee Adrian moderiert das Gespräch, indem sie Fragen aus der Lesegruppe und dem Publikum miteinwebt.
Wir erfahren: Akiva Weingarten ist einen weiten Weg gegangen – geographisch wie geistig. Aufgewachsen in einer streng orthodoxen Gemeinschaft nahe New York, ist er dem für ihn vorgesehenen Weg gefolgt: Mit 18 zum Rabbiner ordiniert, mit 20 arrangierte Heirat, mit 22 bereits zwei Kinder, Übersiedlung nach Israel, daneben Zweifel, sehr viele Zweifel, das Regelkorsett wird immer beengender, und schliesslich – der Bruch: Mit Ende 20 kehrt er seinem Leben den Rücken, lässt seine Familie in Israel zurück und flieht nach Berlin.
Wie erwartet, handelt die Erzählung vom pflichtdurchzogenen Leben, sehr harten Grenzen und hohen Mauern, die als Teil der Gemeinschaft zwischen den «richtigen» und den «anderen» aufrecht erhalten bleiben müssen. Mitreissend wird der Autor an dieser Matinee zum Erzähler, der persönlich Erlebtes mit jüdischen Anekdoten verknüpft, um dem interessierten Publikum das widersprüchliche Weltbild verständlich zu machen. Eine Leserin möchte etwa erfahren, warum sich die in den jüdischen Schriften stark verankerte Dialektik nicht auch im Alltäglichen widerspiegelt. Warum können nicht viele Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten nebeneinander bestehen? Rabbiner Weingarten nickt bedächtig und berichtet, wie er beizeiten tageweise damit verbrachte, die verschiedenen, zum Teil widersprüchlichen rabbinischen Lehrmeinungen zu lernen. Jedoch: dies ausschliesslich um des Lernens willen! Wir erfahren, dass es dabei keinesfalls darum geht, Aussagen multiperspektivisch in den Blick zu nehmen und sich mit der Vielfalt an Auslegemöglichkeiten aktiv auseinanderzusetzen. Nein, es geht um die Disziplinierung der Schülerschaft, die sich devot dem Auswendiglernen ergibt.
Akiva Weingarten hat diese Welt verlassen, aber ganz unverhofft zu einer neuen Welt des Judentums gefunden, in der er seinen eigenen Bezug zu jüdischem Glauben und jüdischer Identität entwickelt hat. Aus diesem Grund ist er auch wieder als Rabbiner tätig. In Basel betreut er eine progressive jüdische Gemeinschaft und in Dresden hat er eine «liberal-chassidische» Gemeinschaft gegründet, wie er sie nennt.
Nicht nur deshalb ist es verkürzt die Geschichte als klassische Aussteigererzählung zu lesen. Denn viel jüdisch-religiöses Wissen ist in diese Autobiographie eingeflochten, sachlich vermittelnd im Ton und dennoch unterhaltend. Schliesslich schlägt der Autor sogar die Brücke: Er berichtet vom Getragen werden, von Sicherheit und Vertrauen und einer gewissermassen heilen Umgebung, die dieses Paralleluniversum seinen Bürger:innen bietet. «Es gibt gute Gründe für andere Erfahrungen!» resümiert Weingarten und macht damit unerwartet Ambivalenzen eines, wenn man so will, Abtrünnigen, sichtbar. Damit gelingt ihm etwas Bedeutendes: eine Position zwischen diesen meist undurchlässigen Welten einzunehmen, die vermittelt, anstatt zu brechen.
Das Publikum will mehr davon wissen. In der Pause sind bereits alle Bücher ausverkauft.