Aufbruch ist immer – Kleine Zeitgeschichte der Zeitschrift für Religion und Gesellschaft

Von Wolf Südbeck-Baur, Chefredaktor vom aufbruch

Teil zwei des Rückblicks.

Kritik an der Kritik

Die damals wie heute richtige und wichtige Kritik an hierarchisch klerikal missverstandenen Machtstrukturen der katholischen Kirche zog gewiss den einen oder anderen polemisch zugespitzten Pfeil aus dem Köcher. Entsprechend zur Mässigung rufende Voten aus der Ende 1989 auf etwa 10000 Abonnenten angewachsenen Leserschaft melden sich in den Leserbriefspalten zu Wort. So schreibt Iso Baumer (1929–2021), damals Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Fribourg, der Redaktion 1991 anlässlich der Ernennung des heutigen Kardinals Christoph Schönborn zum Weihbischof von Wien ins Stammbuch:

»Aber dürfen Bischöfe wenigstens auf Anstand hoffen? (….) Die Charakterisierung von P. Schönborn im aufbruch ist einseitig und sagt mehr aus über jene, die sie abgeben, als über den, den sie zu treffen versuchen. Ich persönlich fand Prof. Schönborns Stellungnahmen zum Fall Bischof Haas auch nicht sehr hilfreich (…). Als Bischof Schönborn seine klare, tiefe, zu Herzen gehende Ansprache am Ende seines Weihe-Gottesdienstes abschloss, zeigte der spontane und langanhaltende Beifall mitten aus dem Volk heraus, dass dieser Bischof akzeptiert war. Ich muss gestehen, dass es mir im Ausland oft schwerfällt, die wahren Anliegen (und Probleme!) der Kirche in der Schweiz deutlich zu machen, wenn ich zuerst den Schutt, den der aufbruch zur Linken und seines Pendants zur Rechten aufhäufen, aufräumen muss.»

Auch wenn die Churer Wirren um Bischof Wolfgang Haas in den folgenden Jahren ein gleichsam identitätsstiftendes Charakteristikum des aufbruch blieben, rückte die inzwischen mit einem katholischen Redaktor und einer reformierten Redaktorin ökumenisch besetzte Redaktion und das mitgestaltende Redaktionsteam zunehmend religiös praxisrelevante Themen theologisch in den Fokus. Ob christologische und/oder sozialethische Fragen, ob befreiungstheologisch und/oder entwicklungspolitisch akzentuierte Verständnishorizonte, ob feministisch-theologisch und/oder praktisch-theologische Aufbrüche in Kirchen und Gesellschaft – die Themenpalette des aufbruch verschob sich mit der Zeit mehr und mehr auf Bereiche, die ein zukunftsfähiges Christsein anvisieren. Dies fand seinen Niederschlag in den jetzt schon seltener werdenden Lesereaktionen. So reagierte Leserin Susanne Lisibach 1994 auf einen Beitrag, der die tabuisierten Beziehungen zwischen Frauen und Priestern thematisiert, wie folgt:

»Auch ich bin eine ehemalige ›Priesterfreundin‹. (…) Selbstverständlich ist es geradezu tragisch, dass ein Priester, nachdem er geheiratet hat, von der Amtskirche einfach ›kalt‹ gestellt wird. Ebenso schlimm aber ist das Verhalten der sogenannten ›Gläubigen‹, die selbstgerecht und oftmals hinterlistig sich Urteile und Einmischungen erlauben, die ihnen nicht zustehen. Aber vielleicht wäre es an der Zeit, dass die Menschen unserer Kirche einmal ganz objektiv vom geschichtlichen Rahmen her aufgeklärt werden, seit wann und vor allem warum das Zölibatgesetz eingeführt wurde. Es steckt sicher viel Unwissenheit hinter dem Verhalten intoleranter Katholiken. Mit einer fairen Aufklärung und offenem Sprechen wäre darum sicher auch ›von unten her‹ etwas zu bewegen. (…) Vielleicht wäre es so möglich, mit der Zeit von der Gemeinde her durchzusetzen, dass so gut ausgebildete Männer wieder in ihr Amt eingesetzt werden können.«

Gesellschaftlich heisse Eisen

Nachdem Wolfgang Haas 1997 endlich seinen Churer Bischofsstuhl räumen musste und ins Fürstentum Liechtenstein beordert worden war, beteiligten sich vermehrt auch evangelische Christinnen an den Debatten im aufbruch.

Die zunehmende Präsenz gesellschaftspolitisch heisser Eisen führt ab 2008 vermehrt zu Zuschriften aus reformierten Kreisen der Leserschaft. So widerspricht der Ethiker und ausgebildete Landwirt Thomas Gröbly 2008 einem Kommentar von Pfarrerin Gina Schibler, die damals für die Kernkraft eintrat und das mit der Ernährung der Menschen, vorab der Armen begründete. Gröblys Brief wörtlich:

»Für die Ernährung hat der hohe Energieverbrauch für Dünger, Pestizide, Maschinen und Transporte zu den grossen Problemen wie Klimaerwärmung, Bodendegeneration und Zerstörung kleinbäuerlicher Höfe beigetragen. (…) Neue Atomkraftwerke sind nicht nur ein zu grosses absolutes Risiko, sondern sind zu teuer und verhindern den notwendigen und realistischen Ausbau einer Sonnenenergiewirtschaft. Wir kommen nicht um die Frage herum, wie wir auf einem beschränkten Planeten mit beschränkten Ressourcen allen Menschen ein Leben in Würde garantieren können.«

2015 flackern die Emotionen in katholisch reformorientierten Leserkreisen erneut auf. Wendelin Bucheli, Pfarrer in Bürglen UR, segnet ein lesbisches Paar und droht vom früheren Churer Bischof Vitus Huonder suspendiert zu werden. Leserin Margrit Haas ist eine von vielen, die die Petition gegen die Entlassung von Bucheli unterschrieben hat. Margrit Haas schreibt:

»Meiner Meinung nach gewichtet die katholische Kirche die Doktrin der sogenannten ›reinen‹ Lehre höher als das Evangelium. Sie sollte endlich mit der sturen Paragraphen-Reiterei aufhören und sich der heutigen Realität und den heutigen Problemen stellen. Ich bin überzeugt, dass Jesus nicht so kleinkariert ist. Zum Glück gibt es Menschen wie Pfarrer Bucheli, die es wagen, das enge Korsett zu sprengen.«

Wendelin Bucheli ist nach wie vor Pfarrer in Bürglen und 2022 gegen einen Kandidaten des konservativen Churer Priesterkreises zum Leiter des Dekanats Uri gewählt worden.

Ab 2021 nimmt der aufbruch verstärkt interreligiöse Themen auf

Inzwischen hat sich der Fokus der publizistischen aufbruch-Arbeit in einen weiteren, den interreligiösen Bereich verschoben: Seit 2021 kümmert sich die Redaktion vermehrt darum, wie Religionen verschiedenster Schattierungen in einer pluralistischen Gesellschaft zu einem friedlichen Zusammenleben, Toleranz im interreligiösen Dialog und nicht zuletzt zu mehr Gerechtigkeit und Solidarität in dieser Welt beitragen.

Um zu unterstreichen, wie wichtig der Redaktion heute die pluralistische, die interreligiöse Dimension der Religionen und unseres Zusammenlebens ist, möchte ich Susannah Heschel zitieren, Professorin für jüdische Studien am Dartmouth College in New Hampshire. Im aufbruch unterstreicht sie bereits 2022 anlässlich ihrer Ehrenpromotion an der Universität Luzern:

„Jetzt ist es an der Zeit, über neue Wege nachzudenken: Was sollte die Agenda für das 21. Jahrhundert sein? Zunächst sollten wir uns fragen: Wer vertritt uns? Wer spricht im Namen unseres religiösen Glaubens und ruft zu Gott wie Jesaja: Hier bin ich, sende mich! (…) Der interreligiöse Dialog sollte nicht nur den religiösen Stolz ansprechen, sondern auch Bereiche der Praxis, in denen wir unsere eigenen Grundsätze der Menschenwürde nicht gerecht geworden sind. (…) Besorgniserregend ist die schreckliche Stimmung in der Welt. Polarisierung, Wut, Ressentiment und Unzufriedenheit haben zu anarchistischen Revolten gegen die Demokratie und die sozialen Institutionen geführt. Amerika und Europa fühlen sich, als stünden sie am Vorabend des Untergangs. Die grösste Verpflichtung, der sich die religiösen Repräsentanten gegenübersehen, besteht darin, die Stimmung in eine Stimmung der Dankbarkeit, des Willkommens gegenüber unseren Nachbarn und des Respekts vor der unantastbaren Würde des Menschen zu ändern.»

Vor diesem Hintergrund kommt Susannah Heschel natürlich auch auf den Schatz der Religion zu sprechen. Die jüdische Gelehrte, die für ihre Verdienste um den interreligiösen Dialog von der theologischen Fakultät der Uni Luzern mit dem Ehrendoktortitel ausgezeichnet wurde, betont:

«Religion ist ein Wort, mit dem man heutzutage viel zu leichtfertig umgeht. Als Experten auf diesem Gebiet wissen wir, dass wir in unseren Urteilen vorsichtig und massvoll sein müssen, und wir müssen auch präzise sein. Für zu viele Menschen wird die Hingabe an die Religion gemessen an ihren politischen Interessen, ihrem Nationalismus oder ihrer Bereitschaft, für ihre Überzeugungen den Märtyrertod zu sterben. Kleriker, die nach Reichtum und Macht streben, verkünden eine Theokratie, während das Regime in Wirklichkeit eine klerikal verkleidete Oligarchie ist. All dies ist Betrug. Nennen wir ihn bei seinem Namen. Die Protestanten,die eine Nazifizierung des Christentums anstrebten, waren Betrüger. Diejenigen, die den Märtyrertod oder die Ermordung anderer im angeblichen Namen der Religion anstreben, sind Betrüger, die die grösste aller Sünden begehen. Mögen wir hinausgehen und laut und deutlich über Religion sprechen. »Bleibt stehen und betrachtet die wunderbaren Werke des Herrn«, sagt Hiob in der hebräischen und der christlichen Bibel. Wir Menschen werden nicht aus Mangel an Information untergehen, aber wir können aus Mangel an Wertschätzung untergehen. Die intellektuelle Wahrheit reicht nicht aus und die Liebe, die die Religion lehrt, kann nicht allein stehen; Gott braucht uns.» (aufbruch Nr. 257, 2022)

Aufbruch ist immer. Diesen kleinen Durchgang durch die kleine Zeitgeschichte des aufbruch möchte ich abschliessen mit einem letzten Hinweis: Der aufbruch in seiner jetzigen Form wird Ende dieses Jahres eingestellt. Aber der Geist des aufbruch wird ab 2025 unter dem Dach und im Blatt unseres langjährigen Kooperationspartners PublikForum – kritisch, christlich, unabhängig – eine neue Heimat finden.

1 Gedanke zu „Aufbruch ist immer – Kleine Zeitgeschichte der Zeitschrift für Religion und Gesellschaft“

  1. Kritiker in der katholischen Kirche

    Dass Christen „das meistverfolgte Volk“ in der Welt sind, dafür sprechen Tag für Tag viele Meldungen der Nachrichtenagenturen. Wenn der Papst nun nach Gründen fragt und ihm dazu u.a. einfällt, dass Christen „unangepasst“ seien, so frage ich den Papst zurück, wie er denn in der kath. Kirche mit „unangepassten“ Katholiken umgeht. Dieser Papst – wie alle Vertreter der Amtskirche – verlieren immer wieder dadurch ihre Glaubwürdigkeit, dass sie die von ihnen angewandten Massstäbe nach aussen nicht auch zu den unverzichtbaren Kriterien für die Innenbetrachtung machen.

    Dieser Papst – wie auch seine Vorgänger – führen ein rigoroses Regiment, wenn es um den eigenen Machterhalt geht. Hier werden Kritiker und Querdenker immer wieder „kaltgestellt“, indem man diesen Personenkreis vor die Wand laufen lässt, sie ihrer Ämter enthebt, Kadavergehorsam einfordert, mit einer Inflation von Eiden ihnen einen Maulkorb verpasst, Bussschweigen verhängt, Professoren mit nicht konformen Meinungen werden von ihren Lehrstühlen entfernt oder es wird ihnen das nihil obstat vorenthalten ….

    Querdenker wurden früher mit dem Scheiterhaufen bestraft. Heute ist die schärfste Waffe der kath. Amtskirche die „Nicht-Beachtung“! Man lässt die Rufer in der Wüste vor die Wand fahren – koste es was es wolle, mögen die Kirchen noch leerer werden, die Kirchenaustrittszahlen weiterhin sich in ständig steigenden Höhen befinden, mag das im Potential der engagierten kritischen Christen schlummernde Potential an Mitwirkungsbereitschaft auch noch so hoch sein.

    Der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner gibt zu Protokoll: Konstruktive Kritik bleibt ein unverzichtbarer Bestandteil eines jeden Staatsbürgers und eines jeden Glaubensangehörigen von heute. „Es kann Sünde sein, wenn um des Wohls der Kirche willen nicht Kritik geübt wird“. Der Mindener Propst i.R. Paul Jakobi formulierte in der Osterausgabe 2012 der Paderborner Kirchenzeitung „Der Dom“ zum Thema „Kritiker in der katholischen Kirche“ Folgendes: „Darf man auch eine abweichende Meinung vertreten, ohne Nachteile zu haben? Die Erfahrung, die vor einigen Jahren die Theologieprofessoren, die die »Kölner Erklärung« unterschrieben hatten, machen mussten, ist nicht ermutigend. Darf man auch über »viri probati« sprechen, die ein Ausbluten der Gemeinden verhindern könnten? Wenn es stimmt, dass jede Gemeinde einen Anspruch auf die sonntägliche Eucharistiefeier hat (Bischof Tenhumberg) und die Kirche der »orthaften Verleiblichung« (K. Rahner) bedarf, dann muss die Kirche über andere Zulassungsbedingungen zum Priestertum ernsthaft nachdenken. Hat der von mir sonst durchaus geschätzte Kardinal Kasper recht, wenn er behauptet, das grundlegende Problem sei die Gotteskrise? Viele Katholiken, die aus der katholischen Kirche ausgetreten sind oder evangelische Gottesdienste besuchen, haben doch nicht den Glauben an Gott verloren; sie sind über ihre Kirche enttäuscht. Kann es gerade umgekehrt sein, dass die Kirchenkrise sogar die Gotteskrise fördert?
    …..
    Kritiker der Kirche sind keine Nestbeschmutzer oder Katholiken, denen es am Sentire cum ecclesia fehlt. Sie betreiben keine Kirchenspaltung, sondern verhindern sie gerade. Ich persönlich nehme für mich in Anspruch, mit meiner Wortmeldung der Kirche, der ich als Priester 58 Jahre leidenschaftlich gedient habe, meine Sympathie zu zeigen, weil ich die Kirche liebe und weil es mich schmerzt, tatenlos ihrer weiteren Auszehrung zuschauen zu sollen.

    Jesus belehrte die Schriftgelehrten damals mit den Worten: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.“ ( gemeint sind die Selbst-Gerechten!!!) – Mk 2.13-17. Rom schätzt keine Querdenker,es möchte die katholischen Christen zu willenlosen und entmündigten Marionetten erziehen. Haben Papst und Glaubenskongregation tatsächlich vergessen, dass alle Querdenker in Jesus ihr grösstes Vorbild feiern können?

    Paul Haverkamp, Lingen

    P.S. Sie schreiben, dass die Ausgabe der Zeitschrift „Aufbruch“ zum Ende des Jahres in dieser Form eingestellt wird. Ich bedauere diesen Schritt ausserordentlich!!! Mir werden die kritischen Beiträge in dieser Zeitschrift sehr fehlen!!!

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