Von Wolf Südbeck-Baur, Chefredaktor vom aufbruch
Bei den folgenden Ausführungen stütze ich mich auf den Beitrag von Benno Bühlmann aus der aufbruch-Ausgabe 268, S. 49.
Ein waghalsiges Zeitungsprojekt startet 1988
Der aufbruch, die unabhängige Zeitschrift für Religion und Gesellschaft in der Schweiz, kann auf eine bewegte Geschichte zurückblicken. Diese Geschichte beginnt im Jahr 1988 unter aussergewöhnlichen Umständen.
An jenem denkwürdigen 28. November 1988 war es, als ob die Welt aus der Wahrnehmung der Gründungsredaktoren für einige Sekunden ihren Atem anhalten würde: Voller Stolz betrachteten Benno Bühlmann und Louis Zimmermann an diesem Morgen die ersten, noch feuchten Exemplare der neuen Zeitung aufbruch, die damals in Winterthur in einer Startauflage von 100’000 Exemplaren über die Rotationsmaschine lief.
Blenden wir von diesem unglaublichen Moment nochmals sechs Monate zurück. Am 22. Mai 1988 fand bekanntlich in Chur jenes (un)pfingstliche Ereignis statt, das in der katholischen Kirche Schweiz eine einzigartige Dynamik in Gang setzte: Begleitet von lautstarken Protesten wurde an diesem Tag der umstrittene bischöfliche Kanzler Wolfgang Haas zum Bischof von Chur geweiht. Der von Rom ernannte Koadjutor – ein Koadjutor wird nach dem Tod des Diözesanbischofs automatisch der Nachfolger, konnte damals nur durch die Hintertüre – auf dem Umweg durch den Friedhof – in die Kathedrale gelangen, da beim Haupteingang ein langer Menschenteppich den regulären Einzug in die Bischofskirche verunmöglichte. Ein symbolträchtiges Bild, das vielen Katholikinnen und Katholiken bis heute in lebendiger Erinnerung geblieben ist!
Dieses «denkwürdige» Ereignis im Mai 1988 wurde in der Folge zu einem einzigartigen Katalysator für eine breit angelegte Widerstandsbewegung der kirchlichen Basis, wie es sie in der Kirchengeschichte der Schweiz zuvor noch nie gegeben hatte. Durch die zahlreichen Solidaritätskundgebungen «für eine weltoffene, mündige und befreiende Kirche» wurden in der Schweiz ungeahnte Kräfte freigesetzt. Bereits einen Monat später formierte sich in Luzern eine Kerngruppe mitdem Namen «Basiskirchliche Vernetzung» mit dem Ziel, die Gründung einer kirchlichen Basis-Bewegung vorzubereiten und voranzutreiben.
Als junger Theologiestudent stellte sich Benno Bühlmann für die Mitarbeit in einer kleinen Untergruppe zur Verfügung, die diverse Fragen zur Öffentlichkeitsarbeit der Basiskirchlichen Vernetzung abzuklären hatte. Er ahnte damals noch nicht, dass sich dies bald schon als ein Entscheid von grösserer Tragweite herausstellen würde:
Denn am 24. August 1988 fand jene folgenschwere Sitzung im Luzerner Romero-Haus statt, an der Bühlmann in einem Anflug von «jugendlichem Übermut» die Idee einer gross angelegten kirchenkritischen Basis-Zeitung in die Runde warf und damit einen Stein ins Rollen brachte: Louis Zimmermann, Mitglied der Immenseer Bethlehem Mission und einer der Hauptinitianten der Basiskirchlichen Bewegung, liess sich schnell von der Idee begeistern und erklärte sich bereit, bei diesem zweifellos waghalsigen Projekt mitzumachen. In einer Rekordzeit von gerade mal zwei Monaten wurde das inhaltliche und gestalterische Konzept der neuenZeitung aufbruch erarbeitet.
Konzipiert wurde der aufbruch damals als „Forum für eine offene Kirche“, für eine Kirche, in der Männer und Frauen gleichberechtigt sind, Frauen zu Priesterinnen geweiht werden können, der Klerus, die Priester also, mit den Gemeinden auf Augenhöhe mit den Gläubigen unterwegs sind hin zu einer geschwisterlichen, befreienden Kirche, die solidarisch ist mit Armutsbetroffenen und Menschen, die mühselig und beladen den Alltag bestreiten müssen. Die Resonanz auf dieses weit herum überraschende medien- und kirchenpolitische Ereignis, auf die Lancierung des aufbruch war wesentlich grösser als die Initianten je erwartet hatten: Täglich, wohlgemerkt täglich kamen hundert Briefe mit Bestellungen und erleichterten Reaktionen. Nur ein Jahr später verzeichnete der aufbruch bereits stolze 10’000 Abonnentinnen und Abonnenten.
Aus heutiger Sicht mögen solche Anekdoten aus der Anfangszeit vom aufbruch reichlich «anachronistisch« klingen. Sie zeigen allerdings, wie stark sich das kirchliche und gesellschaftliche Umfeld in der Schweiz seither verändert hat. Die einst ironisch gemeinte Frage «Wer war Bischof Haas?», wie sie am 17. Juni 1990 auf einem Kleber von ein paar Studenten anlässlich einer Grosskundgebung gegen die Einsetzung von Wolfgang Haas als Bischof von Chur in Umlauf gebracht wurde, wäre inzwischen aus dem Munde einer Gymnasiastin, eines Gymnasiasten natürlich sehr wohl ernst gemeint!
Erleichterung, Ernüchterung und Kritik
Im Folgenden möchte ich Veränderungen im Hinblick auf Haltungen, Stimmungen und Emotionen in Sachen Religion, Kirche und Gesellschaft darlegen, wie sie sich mit der Zeit aus der Perspektive der aufbruch-Leserschaft entwickelt haben. Bemerkenswerte Einblicke in die Seele der Schreibenden liefern die Leserbriefe. Ein kleiner, freilich selektiver Rückblick auf 35 Jahre Briefe im aufbruch erzählt von offenen Wunden und offenen Hoffnungen.
Gefühlt sind es weit über tausend Briefe, die die aufbruch-Leserschaft seit 1988, dem Gründungsjahr dieser unabhängigen Zeitschrift für Religion und Gesellschaft, an die Redaktion geschickt hat. Wenig überraschend: Im ersten Jahrgang füllten die Leserbriefe nahezu in jeder aufbruch-Ausgabe eine ganze Seite – damals wohlgemerkt noch im traditionellen Format einer Tageszeitung. Inhaltlich fokussierten sich die Leserinnen und Leser auf den traditionalistischen, ultrakonservativen und höchst unbeliebten Churer Bischof Wolfgang Haas, der wie gesagt unter Umgehung verbriefter Wahlrechte des Domkapitels widerrechtlich unter der Ägide von Papst Johannes-Paul II. auf den Bischofsstuhl gehievt worden war.
In der zweiten Ausgabe jedoch sprach zunächst eine befreiende Erleichterung aus fast jeder Zeile der Zuschriften, war doch mit dem aufbruch ein romkritisches Blatt von selbstbewusst mündigen Katholikinnen und Katholiken aus der Taufe gehoben worden, das sich als »Forum für eine offene Kirche« verstand. Stellvertretend für viele sei hier die Reaktion von Antoinette Brem herausgegriffen. Die Theologin und heutige Trauerbegleiterin (lebensgrund.ch) schreibt Anfang 1989:
»Als ich von der neuen Zeitung hörte, (…) hatte ich grosse Befürchtungen, die könnte allzu polemisch ausfallen. Dass dies dann – bis auf wenige Ausnahmen – nicht der Fall war, hat mich so sehr beeindruckt, dass ich vor lauter Freude am Abend nicht einschlafen konnte. Ich wünsche mir, dass diese selbstkritischen Lichter auch alle weiteren Nummern mitprägen werden – und darüber hinaus ganz besonders auch unser Engagement, damit wir ›gelassen, befreit und befreiend an einer neuen, geschwisterlichen Welt mitarbeiten können‹.«
Wie hätte es anders sein können, mischen sich bald mahnende Stimmen aus der Leserschaft in die Verkrustungen aufbrechen wollende aufbruch-Stimmung.
Mehr zur Geschichte des aufbruch gibt es im Blog-Beitrag der nächsten Woche.