Tausende Menschen baten im Zweiten Weltkrieg den Heiligen Stuhl in Briefen um Hilfe. Am 25. und 26. Oktober 2024, jeweils um 19.30 Uhr in der Heiliggeistkirche Bern, wurde ein Teil dieser Bittschriften vorgelesen. Thema der Abende war auch die Reaktionen des Vatikans und von Papst Pius XII. auf diese Briefe und ob sich durch die Öffnung des vatikanischen Archivs unter Papst Franziskus unsere Sicht auf die Haltung der katholischen Kirchenleitung während des Zweiten Weltkriegs ändern könnte.
Von Christian Urech
Eine Kooperation mit der Berner Kirchgemeinde Heiliggeist, der Westfälischen Wilhelmsuniversität Münster, der Buchhandlung Stauffacher und dem Theater an der Effingerstrasse sowie dem das Theater Baden-Baden machten diese Veranstaltung möglich. Gelesen wurden die Briefe von Heidi Maria Glössner, einer «Grande Dame» des Schweizer Schauspiels, die von 1987 bis 2008 ohne Unterbruch am Stadttheater Bern und am Luzerner Theater und im Film «Die Herbstzeitlosen» eine der Hauptrollen spielte, und Aaron Frederik Defant, einem deutschen Schauspieler, der, kurioses Detail, nachdem er eine Rolle als Juwelendieb in der ZDF-Sendung «Aktenzeichen XY … ungelöst» übernommen hatte, am 19. April 2012 von der Polizei in Stuttgart für den echten Dieb gehalten und auf dem Hauptbahnhof kontrolliert wurde. Musikalisch begleitet wurden die beiden von Sandro Corbat, einem Gitarristen, der als freischaffender Musiker hauptsächlich als Theater- und Live-Musiker tätig ist. Für die Lesung wurden fünf Geschichten ausgewählt.
Die fünf Briefwechsel zwischen Flüchtenden, dem Vatikan und seinen Nuntiaturen (Botschaften) zeigen einen kleinen Ausschnitt aus der Sammlung von damals rund 15’000 Bittbriefen von Menschen an Papst Pius XII. für die Rettung vor allem jüdischer Menschen in Not.
Erst unter Papst Franziskus vollzog sich die Öffnung dieser Geheimarchive des Vatikans. Der Kirchenhistoriker Prof. Dr. Hubert Wolf leitet nun an der Universität Münster das Forschungsprojekt «Asking the Pope for Help» – die Sichtung, Systematisierung und digitale Editierung dieser Briefe. Nicht nur der Nuntius in Bern spielte hier eine wichtige Rolle, sondern in Rom auch Substitut Giovanni Battista Montini, der spätere Papst Paul VI., der 1965, am Zweiten Vatikanischen Konzil, das «Nostra Aetate» nachhaltig geprägt hat, die Haltung des Vatikans zum Judentum.
Diese Briefe waren bisher unbekannt. Sie wurden in den Akten aus dem Pontifikat Pius’ XII. (1939-1958) in den vatikanischen Archiven («Geheimarchiven») entdeckt, die erst seit dem 2. März 2020 der Forschung zugänglich sind. Sie bilden einen in dieser Dichte einmaligen Bestand von Egodokumenten jüdischer Opfer des Holocaust, die uns jedes einzelne Schicksal unmittelbar miterleben lassen. Oft sind es die letzten Texte, die sie vor ihrer Ermordung schrieben.
Durch die Aufarbeitung dieser einzigartigen Dokumente erfahren wir aber auch Neues zur Haltung Pius’ XII. zum Holocaust sowie zur Organisation und Funktionsweise der Römischen Kurie. Wir stossen dort auf Antisemiten und Judenfreunde. Im Mittelpunkt aber stehen die Opfer. Ihre Briefe warnen uns heute vor einem neuen Antisemitismus und dem Wegschauen – unentbehrliche Stimmen aus der Vergangenheit für unsere Zukunft.
Der Rabbinerkandidat Martin Wachskerz aus Berlin zum Beispiel flieht Ende 1942 bis Toulouse. Er ist dem Schlimmsten bisher entronnen, doch nun droht die Deportation nach Auschwitz. Er hofft auf Asyl in der Schweiz und schreibt an den Papst nach Rom. Die Post geht weiter an den Apostolischen Nuntius in Bern, Filippo Bernardini, und dieser wird vorstellig bei der Eidgenössischen Fremdenpolizei. Diese lehnt das Gesuch ab mit der Begründung, «dass die Familie keine Verwandten in der Schweiz habe und die Schweiz keine weiteren jüdischen Flüchtlinge aufnehmen würde, da es schon zu viele gäbe.» Im Mai 1943 informiert der Vatikan Martin Wachskerz über den Schweizer Entscheid. «Für den Vater, Chaim Wachskerz, bedeuten die verschlossenen Schweizer Grenzen das Todesurteil. Er wird nach Auschwitz deportiert und ermordet. Martin, sein Bruder Heinz und die Mutter Czarna überleben die Shoah. Eine katholische Familie nahe Marseille versteckt sie auf ihrem Hof bis zum Kriegsende», schreibt Annalena Müller im «Pfarrblatt Bern» vom 28.10-2024.
Eine andere Geschichte betrifft Alex Weissberger, einen getauften Juden, dem 1939 knapp die Flucht nach Paris gelang. «Von dort», wir zitieren wiederum das «Pfarrblatt Bern», «schrieb Weissberger an den Papst und bat um ein Darlehen von 1000 Pfund. Ohne diese Summe würden die australischen Behörden ihm und seiner nicht-jüdischen Braut, Gerda Buchmann, die Einreise nach Australien verwehren.» Weissberger verfüge nur über 500 Pfund und flehe den Heiligen Vater an, ihm das Geld zu leihen, das er nur «vorzeigen muss und, das ich nach unserer Ankunft in Australien sofort wieder zurückgeben werde». Der Brief habe den Krieg im vatikanischen Archiv überdauert. Genau wie der Vermerk: n.d.f.: niente da fare (nichts ist zu machen). Der Vatikan habe den Brief direkt nach Eingang zu den Akten gelegt. Über das weitere Schicksal von Alex Weissberger und Gerda Buchmann sei nichts bekannt.
Die Briefe geben Einblicke in eine „Bürokratie des Grauens“, wie Annalena Müller es im Berner «pfarrblatt» treffend beschreibt. Die bedrängten Menschen bitten darum, ihnen bei der Gewährung von Transitvisen behilflich zu sein oder um das rettende Schiff in Lissabon zu erreichen. Es mangelt ihnen an Geld für die stets steigenden Preise der Fahrkarten. Sie bitten den Vatikan, bei der Polizei in Bern, in Rom, in Paris zu intervenieren. In schätzungsweise 60-70 Prozent der Fälle sei der Vatikan aktiv geworden, sagt Jana Haack, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftsmanagement und beim EVZ-Projekt «Asking the Pope for Help» in Münster an der Veranstaltung. Er habe seine örtlichen Vertreter kontaktiert und sich für die Bittstellenden eingesetzt. Häufig seiern die vatikanischen Vertreter ihrerseits an die Grenzen der Bürokratie gestossen: zum Beispiel im Fall der getauften Jüdin Meta Sommerfeld. Zwei Tage vor der Zusage für die Finanzierung ihrer Überfahrt nach Argentinien durch den Vatikan hätten die Nazis plötzlich die Ausreise von jüdischen Menschen unter 60 Jahren verboten. Meta Sommerfeld sei «erst» 59 gewesen. Sie sei im Dezember 1944 in Auschwitz ermordet worden, wenige Monate vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Den Kampf ums Überleben gewannen die wenigsten der Opfer.
Wie das «pfarrblatt» Bern weiter berichtet, fanden gut besuchte szenische Lesungen, wie an diesem Abend in Bern, auch in Deutschland statt, die zum Teil wegen der angespannten politischen Stimmung rund um den Nahostkonflikt und dem aufkeimenden Antisemitismus sogar unter unter Polizeischutz gestellt werden mussten. In Bern ist das Publikumsinteresse sehr viel geringer. Nur gerade knapp 50 Personen, meist ältere Semester, haben den Weg in die Berner Heiliggeistkirche gefunden. Vor der Kirche nimmt das gewohnte Alltagsleben seinen Lauf.
Für Heidi Maria Gössner ist das Forschungsprojekt, das hinter der Lesung steht, von grosser Bedeutung. Die Theaterfrau erinnert sich an die Zeit, als das Theaterstück «Der Stellvertreter» (1963) von Rolf Hochhuth, das die Rolle von Pius XII. als der Papst, der zum Holocaust geschwiegen hat, thematisierte. Im September 1963 versammeln sich wegen einer Aufführung bis zu 10’000 Bürgerinnen und Bürger auf der Strasse. Der Grund: Das Stadttheater (heute Theater Basel) zeigte als erstes ausserhalb Deutschlands das papstkritische Schauspiel, was viele Katholik:innen empörte. War Papst Pius nun der «Papst Hitlers», wie Hochhuth meinte, oder ein stiller Freund der Jüdinnen und Juden? Das Forschungsprojekt zeige, meint Gössner, «dass die Kirche durchaus aktiv war, auch wenn der Papst sich öffentlich nicht geäussert hat.» Prof. Hubert Wolf betont an anderer Stelle in einem Interview, dass der Papst wohl nicht alle Bittschreiben persönlich zu Gesicht bekommen habe, da seine Post vorsortiert worden sei, dass es also von der Einstellung dieser «Vorsortierer» abhängig gewesen sei, welche Briefe dem Papst vorgelegt worden seien und welche nicht-. Die Wahrheit ist, wie meistens weder schwarz noch weiss, sondern liegt irgendwo dazwischen im Graubereich.
Gabriele Gornaya, Autorin des Stücks «Der Vergessene Prozess», in welchem es um ein Verbot der antisemitischen und hetzerischen «Protokolle der Weisen von Zion» geht und das am 23. März am Theater an der Effingerstrasse uraufgeführt wurde, beeindruckt die Perspektive der Einzelschicksale, «die in dieser hochkomplexen Maschinerie gefangen sind». Selbst wenn man es aus Nazi-Deutschland herausgeschafft habe, sei man nicht gerettet gewesen. Fluchtmöglichkeiten seien oft durch die Bürokratien anderer Länder (wie zum Beispiel der Schweiz) verunmöglicht worden.
Corinne Merlin von der Jüdischen Gemeinde Bern glaubt nicht, dass sich durch das Forschungsprojekt die Rolle der katholischen Kirche im Zweiten Weltkrieg in einem besseren Licht darstellen lasse, Die wenigen Geretteten änderten nicht am grossen Grauen der Shoah.
Das Projekt bzw. die Lesung öffnen neue Räume in der Schoah-Forschung. Beim Zuhören in der Berner Heiliggeistkirche wurde plötzlich erfahrbar, dass Menschen zwar als Juden rassisch verfolgt wurden, einige von ihnen aber den „Heiligen Vater“ / Vatikan als tiefgläubige Katholiken anschrieben. Das Wording von den „getauften Juden“ scheint mir hier problematisch: so übernimmt die Forschung die primäre Zuschreibung als „Juden“ wie vollzogen durch die rassische Verfolgung. Der individuellen Vielfalt von Identität / Selbstverständnis als nichtjüdisch Gläubige oder Atheisten müsste jedoch auch eine Vielfalt von Begrifflichkeiten folgen.
Doch die Uni Münster scheint sich dieser Fragestellung bewusst. Auch für die Holocaust-Forschung eröffnen sich hier neue Räume. Spannend!
Dr. Hannah Einhaus, Historikerin
Bürokratie des Grauens: Das gilt auch heute immer wieder in aktuellen Fluchtgeschichten.
Als Seelsorgerin für Asylsuchende erlebte ich, dass Schutzsuchende aus der Psychiatrie geholt wurden zur Abschiebung; die jahrelang verzögerte Familienzusammenführung, die minderjährige, bedrohten Mädchen in Afghanistan betrifft, und das schreckliche Leiden der Mutter; den Selbstmord eines hochqualifizierten Asylsuchenden – er wurde im europäischen Erstasylland von Landsleuten wegen „Apostasie“ mit dem Tod bedroht – und fand keinen Schutz bei der dortigen Polizei. Vor der Abschiebung dorthin brachte er sich um.
Dies alles total legal im Rahmen des Dublin-Systems – aber total illegitim aus einer menschenrechtlichen Perspektive.
Neben der Ohnmacht angesichts des Leidens das bittere Gefühl: Unser Land als Ganzes hat kaum etwas gelernt aus der grauenvollen „Das Boot ist voll-Haltung“, die für so viele bedrohte jüdische Menschen das endgültige Todesurteil war. Und womit sich die Schweiz mitschuldig gemacht hat an der Shoa.
Heute nennt sich das: Stopp dem (angeblichen) Asylchaos, Ruf nach Auslagerungsmodellen von Asylverfahren in angeblich sichere Länder ausserhalb des Schengen-Raumes (bloss nicht die Leute nach Europa lassen; sie könnten ja profitieren wollen – God bewahre – vom Reichtum der Welt, der hier ungerecht gehortet wird!) und mehr Härte im Abschiebevollzug.
Vielen Dank für diesen Artikel. Gerne wäre ich an diesem Anlass dabei gewesen. Ich schliesse mich den Worten von Frau Neubauer an. Wir hier in der Schweiz und Europa können die Welt nicht retten, aber wir haben alle Mittel und Möglichkeiten, sie besser zu machen. Europa hat vielen Menschen Schutz gewährt, angesichts der vielen Millionen Vertriebenen/Schutzsuchenden ist dies aber ein Tropfen auf den heissen Stein. Autokratien wie z.B. Saudi-Arabien Syrienkrieg) nehmen keinen Menschen auf, hingegen ärmere Nachbarländer wie Jordanien und tragen damit eine riesige Last.