Die Weisheit der Hebamme

Wider den Wahn, das Leben perfektionierbar zu machen

„Seit Urzeiten … war Schwangerschaft eine Reise ins Unbekannte. Und das wird auch so bleiben.“ Dieser wahre Satz, der im Übrigen nicht nur für die Schwangerschaft, sondern für alles Leben gilt, steht in einem neuen Buch von Barbara Katz Rothman (Schöne neue Welt der Fortpflanzung. Texte zu Schwangerschaft, Geburt und Gendiagnostik, Frankfurt 2012).

Ina Praetorius
Ina Praetorius wendet sich gegen den Machbarkeitswahn der Reproduktionstechnologien.

 

Seit Jahrzehnten verfolgt die US-amerikanische Soziologin die Debatten um die Gen- und Reproduktionstechnologien. Dem Wahn, das Leben kontrollier- und perfektionierbar zu machen, stellt sie heute zuversichtlich das „Hebammenmodell“ der Schwangerschaft gegenüber: Der Jahrtausende alten Weisheit der Geburtshelferinnen zufolge lässt sich die immer wieder neu und anders aufregende Expedition in die nächste Generation sorgsam und liebevoll begleiten, niemals aber im Sinne einer Herstellungslogik absichern und planen. Denn woher wollen wir schliesslich wissen, welches Kind die Welt mit welchen Fähigkeiten beglücken und bereichern wird? Und selbst wenn es dafür objektive Kriterien gäbe: Wie will man sich dagegen absichern, dass der vermeintlich optimale Nachwuchs sich dann doch, zum Beispiel durch einen Unfall, das zuzieht, was wir arroganten Normalen eine „Behinderung“ zu nennen uns angewöhnt haben?

Eine Hebamme mit Namen Diotima stand am Anfang dessen, was man „die westliche Philosophie“ nennt. Ihren Schüler, den Sokrates, hat Diotima gelehrt, durch besonnenes Fragen Einsicht zur Welt zu bringen. So wie die Hebamme durch kluges Tun einer Frau das Gebären erleichtert. Wäre es wohl an der Zeit, die Lehre dieser Vorfahrin neu zu entdecken? Und die Weisheit der Geburtshelferinnen dann, zum Beispiel als Kirche, der ganzen Welt mitzuteilen?

Ina Praetorius, Theologin und Publizistin

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