Wie viele arabische, israelische, palästinensische, libanesische, jüdische, arabisch-christliche, muslimische Freunde und Bekannte haben Sie? Mit wie vielen dieser Menschen stehen Sie nicht erst seit einem Jahr in Kontakt, sondern pflegen den Austausch schon seit längerer Zeit? Mit wie vielen sind Sie seit mehr als einem Jahr nicht mehr in Kontakt? Und warum? Und gibt es Beziehungen, die sich erst in den letzten zwölf Monaten ergeben haben?
Von Amira Hafner – Al Jabaji
Gehören Sie zum Lager der Antisemiten oder zu den antimuslimischen Rassisten? Oder vielleicht zu jenen, die sich aus Furcht davor, dass ihnen das eine oder das andere unterstellt wird, gar nicht äussern? Oder sind Sie unter die Zyniker gegangen, wie jene zwei jungen Männer, die ich vor einiger Zeit am Nachbartisch im Café sagen hörte: «Die sollen sich doch gegenseitig umbringen, dann ist das Problem gelöst», worauf der andere entgegnete. «Eine Atombombe würde die Sache schneller erledigen.»
Mir stockt der Atem. Ich schlucke leer, kann nicht fassen, was ich da eben gehört habe und überlege einen kurzen Moment mich umzudrehen, um … Ja, was? Was gibt es auf so menschenverachtende Worte zu sagen?
Alle Welt spricht vom rhetorischen Dammbruch, der Hetze und Hassrede in den sozialen Medien. Ich befinde mich aber mitnichten in der digitalen Welt, sondern ganz analog in einem Stassencafé in einem Städtchen am Jurasüdfuss. Und die beiden Männer, von denen ich vermute, dass sie keinerlei persönliche Bezüge zu «Nahost» haben, raunen sich nicht im Flüsterton ihre schändlichen Ideen zu, sondern trompeten sie mit sonoren Stimmen gut hörbar über die Tische.
Ist es so schwierig geworden, einfach Mensch zu bleiben, selbst und gerade als Nichtbetroffener des Konflikts? Einfach auf der Seite der Menschlichkeit, der Menschenwürde und der Menschenrechte zu stehen? Beharrlich und für alle Menschen in gleicher Weise? Soll nicht das der Massstab unserer Beurteilung sein und unsere unerschütterliche Haltung bleiben?
Ich habe viele arabische, israelische, palästinensische, libanesische, jüdische, arabisch-christliche, muslimische Freunde und Bekannte. Sie alle sind direkt oder indirekt in ganz unterschiedlicher Weise betroffen von der Gewalt, die in der Region seit Jahrzehnten herrscht und nun jegliches Mass verloren hat. Viele sind tief erschüttert, resigniert, hoffnungslos und voller Angst, was die Zukunft bringen mag. Mit den meisten stehe ich nicht erst seit einem Jahr in Kontakt, sondern pflege den Austausch schon seit längerer Zeit. Mit manchen herrscht seit einem Jahr Funkstille. Warum?
Vielleicht, weil die einen bei mir eine antisemitische Gesinnung vermuten, vielleicht, weil ich bei anderen antiarabischen oder antimuslimischen Rassismus ahne. Vielleicht, weil ich vermute, dass ich den einen zu radikal und den anderen zu wenig radikal bin. Vielleicht, weil ich den einen zu laut und den anderen zu leise bin.
Sehr wahrscheinlich einfach deshalb, weil wir uns alle voreinander davor fürchten, wir hätten verlernt, Mensch zu sein, wie gerade so viele.
Erstpublikation am 17. Oktober 2024 in der Solothurner Zeitung.
Wir alle sind überall Flüchtlinge – außer im eigenen Land! Welch Stumpfsinn und Ignoranz, nicht auch alle als in der Art GLEICHE anzusehen!
Liebe Leute des „Aufbruch“,
ein markantes Erlebnis – und eine mutige Überschrift, deren Wirkung durchaus offen ist.
Ich wünsche Ihnen, dass die Klärung der Haltungen zu den Ereignissen im Stassencafé, die Sreitgespräche, die es vielleicht anstößt, das Entsetzen, das Ihre Überschrift auslösen kann, dass all das – und nun verzeihen Sie mir die naive Sentenz – Gott wohlgefällige Folgen haben möge.
Aus dem Kandelland grüßt Sie freundlich
Johannes Sumowski