Das westafrikanische Land Sierra Leone hat mit massiven Problemen zu kämpfen: Korruption, organisierte Kriminalität und Ressourcenausbeutung sind nur einige davon. Der Journalist Chernoh Alpha Bah nimmt genau diese Probleme seines Heimatlandes in den Blick und macht sie der Öffentlichkeit verständlich, um die Zustände von Sierra Leone zum Wohle der Gesellschaft zu verbessern.
Interview von Ugochi Anyaka
aufbruch: Chernoh Alpha Bah, Sie sind Journalist und Historiker. Können Sie von Ihrer Arbeit erzählen?
Chernoh Alpha Bah: Ich bin Journalist und Historiker aus Sierra Leone und lebe derzeit in den Vereinigten Staaten von Amerika im Exil. Mein Spezialgebiet ist die Medizin-, Rechts- und Wirtschaftsgeschichte Westafrikas. Ich promovierte in Geschichte an der Northwestern University in Evanston, Illinois, wo ich auch als Postdoctoral Fellow im öffentlichen Dienst am Chabraja Center for Historical Studies (CCHS) tätig war. Derzeit bin ich Postdoctoral Research Associate der Afrika-Initiative am Watson Institute for International and Public Affairs der Brown University. Als Historiker konzentriert sich meine Forschung auf die Geschichte der Medizin und medizinischer Experimente, auf Gefängnisse und die Bestrafungen sowie auf Fragen der Zwangsarbeit in Westafrika. Als Journalist untersuche ich das organisierte Verbrechen und die Korruption in Westafrika. In den letzten Jahren habe ich an einem transnationalen Forschungsprojekt gearbeitet, das die Quellen illegaler Finanzströme (IFF) in Westafrika untersucht und dokumentiert. Das Projekt über illegale Finanzströme konzentriert sich auf den westafrikanischen Mano-Fluss-Korridor, der die Länder Sierra Leone, Liberia, Guinea und Elfenbeinküste umfasst. Im Rahmen des Projekts soll die Geschichte multinationaler Unternehmen und wirtschaftlicher Aktivitäten in der Region von den 1970er-Jahren bis heute untersucht werden. Im Rahmen des Projekts soll eine umfassende Datenbank über IFF in der Mano-Fluss-Region erstellt werden, um die historischen Wurzeln, die transnationalen Dimensionen und die aktuellen Netzwerke zu veranschaulichen, die die organisierte Kriminalität in Westafrika unterstützen und aufrechterhalten.
aufbruch: Warum mussten Sie Sierra Leone verlassen?
Chernoh Alpha Bah: Wie ich bereits erwähnt habe, arbeite ich seit mehr als zwanzig Jahren als unabhängiger Journalist in Westafrika. Ich bin einer der Gründungsredakteure von African Press, einer unabhängigen Organisation für investigativen Journalismus, die im Dezember 2002 mit dem Ziel gegründet wurde, Korruption und organisierte Kriminalität zu untersuchen und die Meinungsfreiheit und Demokratisierung in Afrika zu fördern. Seit der Gründung war ich an fast allen Arbeiten der Organisation zu Korruption und Menschenrechten beteiligt. Ab 2020 arbeitete ich beispielsweise zusammen mit anderen Wissenschaftlern und Journalisten an einer mehrjährigen Untersuchung, aus der mehr als 70 investigative Berichte hervorgingen, die Finanzverbrechen in großem Stil in Sierra Leone dokumentierten. Die Berichte beziehen sich auf ungeklärten Reichtum, in den hochrangige Regierungsbeamte verwickelt sind, darunter Sierra Leones derzeitiger Präsident Julius Maada Bio und seine Ehefrau, die laut einem der Berichte 7,89 Milliarden Leones (mehr als 750.000 US-Dollar) öffentlicher Gelder für persönliche Einkäufe ausgegeben haben sollen, und darauf, wie Präsident Bio und First Lady Fatima Bio bis 2022 kumulativ mehr als 71,4 Milliarden Leones (etwa 8 Millionen US-Dollar) als internationale Reisekostenpauschale abgehoben haben und damit gegen die gesetzlichen Verfahren des Landes verstiessen.

Unsere Untersuchung deckte auch Beweise für die Veruntreuung von öffentlichen Wahlgeldern durch die Wahlkommission des Landes auf und zeigte, wie Oppositionsparteien und das Parlament die Wahlen in Sierra Leone im Juni 2023 gefährdeten. Unsere Arbeit hatte weitreichende Folgen und erregte internationale Aufmerksamkeit, auch seitens des US-Aussenministeriums, für die Themen demokratische Regierungsführung und Korruption im Finanzsektor. Aufgrund dieser investigativen Arbeit über Korruption und Ressourcenausbeutung befinde ich mich derzeit im Exil in den Vereinigten Staaten und konnte wegen der ständigen Morddrohungen und anderen Formen von Schikanen nicht nach Hause zurückkehren. Seit mehr als vier Jahren bin ich das Ziel von Todesdrohungen und ständigen Cyber-Belästigungen, die von bekannten Vertretern der Regierung und anderen politischen Persönlichkeiten des Landes inszeniert werden. Leider beteiligen sich auch internationale Cyber-Organisationen und ausländische Geheimdienstmitarbeiter an meinen Schikanen und den Angriffen auf unsere Arbeit.
aufbruch: Wenn Sie Gelder nachverfolgen, wohin führen sie Sie dann? Und gibt es Akteure, die die Korruption möglich machen?

Chernoh Alpha Bah: Ja, die Finanzkriminalität wird durch ein transnationales Netzwerk von Banken, Politikern, internationalen Institutionen und hochqualifizierten Fachleuten ermöglicht. Wenn man sich an die Untersuchung von Finanzverbrechen macht, insbesondere von illegalen Wirtschaftsströmen, weiss man nicht genau, wohin die Beweise führen können. Bei der Verfolgung illegaler Vermögensbewegungen beginnt der Journalist als Detektiv also mit der Vorstellung, dass etwas schief gelaufen ist, und startet die Untersuchung oft mit einem leeren Blatt Papier. Doch im Laufe der Ermittlungen werden sie von den Entdeckungen, die sie machen, sowohl überrascht als auch fasziniert sein. Organisiertes Verbrechen jeglicher Art ist immer ein syndizierter Prozess und ein Konglomerat von Organisationen und Einzelpersonen, die riesige Netzwerke betreiben, die solche Operationen auslösen und aufrechterhalten. Diese Netze nehmen keine Rücksicht auf Grenzen und sie respektieren keine territorialen Grenzen; sie sind oft länderübergreifend und so raffiniert in ihren Operationen, dass es zu einem Puzzle wird, die Beweise für die illegalen Operationen, an denen sie beteiligt sind, zu entwirren und zu rekonstruieren.
Das liegt daran, dass sie grösstenteils von den ansonsten legitimen Finanzinstitutionen aus operieren und diese für ihre ruchlosen Operationen nutzen. Tatsache ist, dass ein Grossteil dessen, was wir als illegale Finanzströme bezeichnen, das etablierte institutionelle Netz des globalen Finanzwesens nutzt – das Bankensystem, die Entwicklungsagenturen, grosse Wirtschaftsunternehmen, multinationale Konzerne, die Politik, das Rechtssystem und andere Institutionen. Die Ermöglicher und aktiven Teilnehmer an diesen transnationalen Verbrechersyndikaten sind genau diese Banker, Entwicklungsexperten, Strafverfolgungsbehörden, Politiker und Anwälte. Sie können Ihre Ermittlungen überall in Westafrika beginnen, aber Sie können sicher sein, dass Sie, je weiter Sie in die Details vordringen, auf eine Dreiecksoperation stossen werden, die sich über die gesamte Region bis nach Europa, in die Vereinigten Staaten, die Vereinigten Arabischen Emirate, den Libanon, das Vereinigte Königreich, die Schweizer Banken und in die Karibik erstreckt. Aus diesem Grund sind die Ermittlungen immer voller Überraschungen und faszinierender Details und in die Aktivitäten sind grosse Institutionen und mächtige Personen verwickelt.
aufbruch: Inwiefern behindert dies die Entwicklung der rohstoffreichen Länder?
Chernoh Alpha Bah: Sie behindert die soziale und wirtschaftliche Entwicklung in rohstoffreichen Ländern, die häufig von korrupten Syndikaten ausgebeutet werden und auf vielfältige Weise verarmen. Der Mano-Fluss-Korridor in Westafrika ist ein Beispiel für eine Region mit immensen natürlichen Ressourcen wie Diamanten, Gold, Bauxit, Aluminium, Uran, Holz und landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Dieser Reichtum hat lange Zeit zu kolonialen und neueren Kämpfen geführt, bei denen es nicht nur darum ging, wie die Ressourcen abgebaut werden, sondern auch darum, wer sich die Gewinne sichert. Multinationale Konzerne aus Europa, Nordamerika und zunehmend auch aus Asien konkurrieren aktiv um die Kontrolle über diese Ressourcen. Dieser Wettbewerb um die Kontrolle der Ressourcen wirkt sich negativ auf die Erbringung sozialer Dienstleistungen aus, insbesondere auf die reproduktive Governance in der Region. Die Auswirkungen der finanziellen Korruption auf die Mütter- und Säuglingssterblichkeit in Sierra Leone, Guinea, Côte d’Ivoire und Liberia haben direkte Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung. Bei näherer Betrachtung werden Sie den direkten Zusammenhang zwischen Finanzkorruption und schlecht finanzierten Gesundheits- und Armutsbekämpfungsprogrammen erkennen. Einnahmen, die zur Finanzierung des öffentlichen Gesundheitswesens, der Abwasserentsorgung, der Ernährung, der Versorgung mit sauberem Wasser und anderer Armutsbekämpfungsprogramme verwendet werden sollten, werden häufig von Politikern mit aktiver Billigung der internationalen Finanzinstitutionen und Entwicklungsagenturen abgezweigt. Dies ist der Grund, warum Strukturanpassungs- und Armutsbekämpfungsprogramme die chronischen Unterentwicklungsindizes nicht verringert haben. Die Statistiken über die Mütter- und Neugeborenensterblichkeit in den Ländern des Mano-Flusses werden von Jahr zu Jahr schlechter. Aus diesem Grund sind wir der Meinung, dass wir die Region des Mano-Flusses unbedingt untersuchen müssen, um die historischen Wurzeln, die transnationalen Dimensionen und die aktuellen Netzwerke zu verstehen, die das organisierte Verbrechen in Westafrika unterstützen und aufrechterhalten.Wir müssen diese Themen ins Rampenlicht rücken.Dies ist auch der Grund, warum ich ins Visier genommen werde.
aufbruch: Es sind Ihre Landsleute, die Sie ins Visier nehmen. Was sagt das über sie und ihre Loyalität zu ihrem Land aus?
Chernoh Alpha Bah: In Sierra Leone geht es in der Politik und an der Macht vor allem um die Möglichkeit, öffentliche Mittel zu plündern. Die Beamten in meinem Land sehen ihre Berufung in den öffentlichen Dienst als Freibrief, sich auf korrupte Weise zu bereichern. Sie haben sich nicht wirklich dafür eingesetzt, die Entwicklungsbedürfnisse des Landes zu befriedigen und die Hoffnungen der Menschen auf bessere Lebensbedingungen zu erfüllen. Es handelt sich um eine nationale Entwicklungskrise, eine Art Regierungsepidemie, mit der das Land seit seiner so genannten Unabhängigkeit vor mehr als 60 Jahren zu kämpfen hat. In den ersten 30 Jahren indigener Regierungsführung wurden die von den Kolonialherren geschaffenen strukturellen Hindernisse für Wirtschaftswachstum und Entwicklung nicht angegangen.

Die lokalen Eliten, die die koloniale Architektur der Regierungsführung geerbt hatten, setzten denselben kolonialen wirtschaftlichen Kurs fort, der Wachstum und Entwicklung bremste. Die verstärkte staatliche Repression unter dem Kommando einheimischer Tyrannen und eine vom IWF und der Weltbank strukturell angepasste Wirtschaft untergruben jedes Potenzial für sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt und führten zu einem zehnjährigen Bürgerkrieg, der vor etwas mehr als 20 Jahren beendet wurde.
aufbruch: Was ist Ihr Traum für Ihr Land, für Afrika und wie sollten Regierungen und kapitalistische Unternehmen zum Wohle der Einheimischen zusammenarbeiten?
Chernoh Alpha Bah: Ich vermisse mein Land auf jeden Fall. Es hat keinen Tag gegeben, an dem ich nicht über das Land nachgedacht habe und darüber, was getan werden kann, um die Lebensbedingungen für unsere Menschen zu verbessern. Ich mache mir Sorgen um die Stabilität des Landes, um die Aussichten auf eine echte Entwicklung, auf Wohlstand und Fortschritt für die Mehrheit der Bevölkerung, deren Lebensbedingungen sich von Tag zu Tag verschlechtern. Die Menschen verdienen etwas Besseres. Internationale Beziehungen, ausländische Direktinvestitionen und Geopolitik müssen auf einem humanen Ansatz beruhen. Es muss ein faires Gleichgewicht zwischen dem Wunsch nach kapitalistischem Profit und dem kollektiven Streben der Mehrheit nach der Lebensqualität geben, die sie verdient.
Übersetzung aus dem Englischen: Wolf Südbeck-Baur