Unheilige „Heilige Schriften“

Der renommierte Fribourger Bibelwissenschafter und Orientalist Othmar Keel revolutionierte das Verständnis des Alten Testaments. Der Benoist-Preisträger sieht das Verhältnis der Religionen in einer vertikalen ökumenischen Linie. Heute leidet der 80-Jährige an Parkinson und stellt gängige Jenseitsvorstellungen in Frage.

Von Thala Linder

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Hier der Essay von Othmar Keel über die Unheiligen heiligen Schriften :

Unheilige „Heilige Schriften“

von Othmar Keel, Freiburg/Schweiz

Dieser Essay thematisiert die Frage, wie weit eine in säkularen Kreisen weit verbreitete Abneigung gegenüber Religionen, besonders gegenüber den monotheistischen, gerechtfertigt ist und inwiefern diese Abneigung einer Korrektur bedarf. Der Beitrag, der eine stark gekürzte Version meines Essays in der Festschrift für Benjamin Sass ist, stellt also eine Art freundschaftliche Einladung dar, ein paar Informationen zur Kenntnis zu nehmen, die einen differenzierteren Blick auf ein Themenfeld erlauben, das heute in der Öffentlichkeit – wie viele andere – nicht selten in Schwarz-Weiss-Manier abgehandelt wird.

In den Heiligen Schriften aller drei monotheistischer Religionen stehen Sätze, wie:

„Eine Hexe darfst du nicht am Leben lassen“  (Ex. 22,17). „Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft … werden beide mit dem Tode bestraft“ (Lev. 20,13).

Im 1. Brief an die Thessalonicher sagt Paulus von den Juden: „Sie haben sogar Jesus den Kyrios … getötet … und missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen (2,15).“ Im Johannesevangelium wendet sich Jesus an die Juden mit den Worten: „Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anbeginn“ (8,44).

Im Koran ist in Sure 9,5 zu lesen: „Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo (immer) ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf!“ In Sure 4,34 steht: „Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie (von Natur aus vor diesen) ausgezeichnet hat …. Und wenn ihr fürchtet, dass Frauen sich auflehnen, dann vermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie!“

Aus allen drei Heiligen Schriften ließen sich zahlreiche weitere „unheilige“ Stellen beibringen, die Ungläubige, Schwule, Frauen, „Hexen“ und manche weitere Gruppen diskriminieren.

Mit ausführlichen, subtilen hermeneutischen Überlegungen wurde und wird immer wieder versucht, diesen und ähnlichen Texten ihre negative Kraft zu nehmen und sie als umstände- und zeitbedingt zu entschärfen. All diesen Versuchen zum Trotz zeigt schon ein kurzer Blick auf die Rezeptionsgeschichte nach dem Prinzip: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ (vgl. Mt. 7,16) ihre schlimme Wirkung überdeutlich. Zwei Beispiele, die beliebig vermehrt werden könnten, sollen das illustrieren! Der Judenhass der Nazis wurde zwar rassistisch begründet. Er knüpft aber nahtlos an eine christlich motivierte Judenfeindschaft an, wenn z. B. Hitler in „Mein Kampf“ sagt: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“ Das Apartheid-System in Südafrika rechtfertigte sich theologisch mit der Polemik gegen die Kanaanäer im 5. Buch Mose. Die Schwarzen wurden als heidnische „Kanaanäer“ diskriminiert, die den bibelgläubigen Buren als den „Israeliten“ gefährlich wurden und deshalb unterdrückt, vertrieben, ja ausgerottet werden mussten.

Man kann nun mit dem Dictum argumentieren, jedes historische Phänomen habe zwei Seiten. Aber damit beraubt man die heiligen Schriften des verpflichtenden Charakters, den sie für sich beanspruchen.

 

Eine andere Art und Weise, an dieses Problem heranzugehen, haben Vertreter der drei monotheistischen Religionen geliefert. Ein erstes Beispiel findet sich im Talmud. Ein Proselyt soll Rabbi Hillel den Alten ersucht haben, ihn die ganze Tora zu lehren, während er auf einem Bein stehe. Rabbi Hillels Antwort sei gewesen: „Was dir unliebsam ist, das tu auch du deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora; das andere ist ihre Auslegung“ (Talmud Schabbat 31a).

Die positive Version der „Goldenen Regel“ findet sich in Matthäus 7,12: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihr ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten.“ Am bekanntesten ist die Frage nach dem Hauptgebot, die Jesus mit dem Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe beantwortet: „Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist grösser als diese beiden“ (Mk 12,29-31; vgl. Mt 22,34-40). Jesus kombiniert in diesem Text Dtn 6,4 und Lev 19,18, also zwei Textstellen aus der Hebräischen Bibel.

Dabei wird in verschiedenen neutestamentlichen Schriften der Primat der Nächstenliebe vor der Gottesliebe betont. Der ganze 1 Joh ist ein Aufruf zur Nächstenliebe. „Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht“ (4,20; vgl. Röm 13,8-10; Gal 5,14). Der Jakobusbrief redet, wenn er vom Hauptgebot, dem „königlichen Gebot“ redet, ausschliesslich von dem der Nächstenliebe (2,8). Schon früh wurde die Gefahr erkannt, dass Feindschaft gegen Hexen, Heiden, Juden, Moslem und andere Gruppen als Ausdruck der Gottesliebe gerechtfertigt wurden. Bereits das Joh lässt Jesus zu seinen Jüngern sagen: „Es kommt die Stunde, in der jeder, der euch tötet, meint, Gott einen Dienst zu leisten“ (16,2).

Weniger alt als im Judentum und im Christentum sind die Bemühungen um eine Mitte im Islam. Sie finden sich zuerst bei islamischen Mystikern, wie z. B. Ibn Arabi (1165-1240 n. Chr.). In seinem Gedicht „Dolmetsch der Sehnsüchte“ findet sich die Stelle:

„Mein Herz nimmt an jegliche Gestalt

Eine Weide für die Gazellen und ein Kloster für Mönche,

Ein Tempel für Götzen und eine Kaaba für Pilger,

Tafeln der Tora und das Buch des Korans.

Ich glaube an die Religion der Liebe.

Welchen Weg Gottes Kamel auch nimmt,

So ist doch die Liebe meine Religion und mein Glaube.“

Ähnliche Versuche finden sich auch in der Gegenwart. Der muslimische Münsteraner Theologe Mouhanad Korchide vertritt in seinem Buch „Islam ist Barmherzigkeit“ (2014) die Ansicht, die Verkündigung Mohammeds müsse von ihrer Mitte her verstanden werden, der Botschaft vom einen barmherzigen und gütigen Gott. Dabei kann er sich auf zahlreiche Stellen im Koran berufen wie z. B. die: „Halte dich an das Verzeihen, gebiete, was recht ist und wende dich von den Toren ab. Und wenn du von Seiten Satans (zu Bosheit und Gehässigkeit) aufgestachelt wirst, dann suche Zuflucht bei Gott“ (Sure 7,199-200). Korchide ist für seine Position von zahlreichen Moslems angefeindet worden. Die „Schule von Ankara“ versucht im Koran und der Tradition zeitbedingte Elemente von zeitlos gültigen zu trennen und so eine „Mitte“ zu definieren. Ähnliche Versuche, einen liberalen fortschrittlichen Islam zu entwickeln, gibt es auch in anderen islamischen Ländern wie etwa in Ägypten, aber ihre Vertreter leben oft gefährlich.

In diesem Zusammenhang müssen wir uns fragen, aufgrund welches Prinzips, aufgrund welcher Axiome wir die Diskriminierung von Andersgläubigen, von Homosexuellen, von Frauen etc. als ungerecht empfinden. Die Antwort dürfte sein, aufgrund der Würde, die jedem Menschen zukommt, aufgrund der allgemeinen Menschenrechte. Das Postulat universell gültiger Menschenrechte ist ziemlich neu. Wie bei allen grossen Errungenschaften, gibt es aber eine lange und komplexe Vorgeschichte. Einer der wichtigen Vorläufer der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte durch die UNO-Vollversammlung am 10. Dez. 1948 ist die „Virginia Declaration of Rights“ von 1776, die großen Einfluss auf die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten im selben Jahr hatte. Sie statuiert „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten begabt wurden, worunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit sind.“ Diese Erklärung wurde wesentlich von Angehörigen christlicher Erweckungsbewegungen inspiriert. Ihre Anfänge reichen aber noch viel weiter zurück. Die Idee von der „Gleichheit“ aller Menschen ist in den monotheistischen und sogar einigen ihrer paganen Vorgängerreligionen begründet, etwa dem altägyptischen Amun-Re- oder dem altpersischen Ahura-Mazda-Kult. In ihnen findet sich die Vorstellung, alle Menschen seien gleichermassen Geschöpfe eines Gottes. Vor dem (Schöpfer)Gott gibt es deshalb grundsätzlich keinen Unterschied zwischen Mann und Frau, zwischen Griechen und Juden, zwischen Sklaven und Freien (Gal 3,28). Die vom Standpunkt der allgemeinen Menschenrechte aus geübte Kritik an den „unheiligen (Passagen)“ der „Heiligen Schriften“ schöpft ihre Berechtigung selbst wieder aus den „Heiligen Schriften“, so dass das Paradox „Unheilige, ‚Heilige Schriften’“ gerechtfertigt ist.

Die Langversion als PDF:

Othmar Keel, Essay Unheilige heilige Schriften

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