Geschichten über arabische Kinder und Jugendliche.
Es ist eines dieser Bücher, nach deren Lektüre man erkennt: Literatur ist eben doch manchmal der bessere Journalismus. Immer dort, wo es komplex, vielschichtig, facettenreich und uneindeutig ist, da vermag Literatur einen besseren Beitrag zum Verstehen zu leisten. Die zweite wichtige Erkenntnis, die «Kleine Festungen» vermittelt: Kindheiten in arabischen Ländern verlaufen mindestens ebenso unterschiedlich wie hierzulande. Keine abstrakte Statistik und kein UNICEF-Bericht bilden Alltagssituationen, soziale Verhältnisse und menschliche Beziehungsgeflechte, in denen Kinder heranwachsen so detailliert und nuanciert ab, wie es diese 51 literarischen Texte vermögen. In den variantenreich erzählten Geschichten, teils Auszüge aus Romanen, teils Kurzgeschichten-, die zeitlich die letzten vierzig Jahre umfassen, erfährt der/die Leser*in denn auch viel und auf differenzierte Weise, wie Kinder von Marokko über Ägypten bis nach Saudi-Arabien, Syrien, Libanon, dem Irak und Palästina aufwachsen, was sie erleben, wie sie empfinden und vor allem wie sie ihre Welt mit all dem Offensichtlichen, dem Unausgesprochenen, den Widersprüchen, dem Zumutbaren und dem Überforderndem wahrnehmen.
Hierarchie und prekäre Lebensverhältnisse sind Motive, die häufig auftauchen. Das beginnt schon mit der Frage, ob das Kind als Mädchen oder Junge geboren wird, ob es in einem Armenviertel Kairos neben dem Friedhof zur Welt kommt und ob seine Mutter die Geburt überlebt. Es zeigt sich auch im Überlebenskampf eines Strassenjungen in Marokko oder im Dilemma der ärmlichen Eltern, die nicht wissen, ob sie das Herz ihres Kindes zerreissen dürfen, indem sie eines seiner geliebten Haustiere schlachten, um ihren Pächtern die traditionelle Gastfreundschaft und Ehrerbietung gewähren zu können. Gewalt zieht sich in unterschiedlichsten Formen durch viele der Geschichten. Dabei sind Kinder nicht nur Opfer, sondern auch Täter, etwa wenn sie Tiere quälen. Meist aber sind es die Kinder selbst, die Gewalt als Teil ihrer Erziehung durch Eltern, Schule und Staat als Normalität erleben. Drohende und tatsächliche Ohrfeigen, Schläge und auch sexualisierte Gewalt kommen auf die eine oder andere Weise vor und rühren so an zwei grossen gesellschaftlichen Tabus, die gleichzeitig unbedingt mit dem Jugendalter verbunden sind: Autorität bzw. Autonomie und Sexualität. Hingegen ist Religion explizit kaum ein Thema, und wer nicht mit der Religionsvielfalt arabischer Länder vertraut ist, wird kaum fragen, ob es sich bei den Beschreibungen um christliche oder muslimische Familien handelt.
Bei aller Härte und Grobheiten, die den Kindern zugemutet werden, geht in den Texten nicht unter, welche Zartheit, Zerbrechlichkeit aber auch Stärke in den kindlichen Seelen steckt. «Kleine Festungen» ist denn nicht nur titelgebend für eine der Geschichten, sondern für die ganze Sammlung dieses Buches. Das ausführliche Nachwort von Hartmut Fähndrich, der die Texte aus dem Arabischen übersetzt und zusammengestellt hat, offenbart dessen immensen Erfahrungsschatz, seinen wertvollen Kulturvermittlungsansatz und seine jahrzehntelange Verbundenheit mit arabischen Ländern und mit den Autorinnen und Autoren. Man dankt es ihm, dass er die Fülle an Informationen und Einbettung dem literarischen Teil hinten angestellt hat, so dass der/ die Leserin sich diesen unbefangen annähern kann. Angaben und Fotos der Autor*innen vervollständigen das Buch und unterstreichen nochmal die grosse zeitliche, geographische, soziale Vielfalt und Verortung, dessen was allzu oft pauschal als «arabischer Raum» generalisiert wird. Wundervoll illustriert werden die Geschichten mit filigranen Zeichnungen der Architektin und Künstlerin Maha Nasrallah.
Wer in diesem Buch literarisches Erzählen über Kinder sucht, wird ebenso belohnt wie alle, die sich mit den sozialen Realitäten von Kindern befassen. Dazu muss man nicht eine besondere Affinität zur arabischen Kultur haben. Das Buch eignet sich hervorragend zum Vorlesen für Erwachsene und als Grundlage für Diskussionen in der Gruppe. Es regt darüber hinaus an, sich selbst (auto-)biographisch mit Kindheit(en) zu beschäftigen – oder aber mit moderner arabischer Literatur.