Konya – Hattusa – Ephesus

Die aufbruch-Lesereise war unterwegs in unterschiedlichen Zivilisationen und Religionen Kleinasiens. Ein kleiner Reisebericht.

Knistern liegt in der Luft. Die Blicke der zwölfköpfigen aufbruch-Reisegruppe wandern vom grossen Foto mit Atatürk, dem Gründer der türkischen Republik, und dem Urgrossvater von Scheicha Esin Celebi Bayru zu den dampfenden Teegläsern in der Hand. Grosser Bahnhof also für den «Vater aller Türken» 1925 im Bahnhof der zentralanatolischen Stadt Konya, der Hochburg der Sufis. Vom amtierenden Präsidenten Erdogan, dessen Konterfei nahezu alle öffentlichen Räume ziert, keine Spur.

Wir warten indessen gespannt auf Esin Celebi, die hier im Mevlani Haus, dem Zentrum des Sufismus, als Vize-Präsidentin der internationalen Mevlana Stiftung residiert, zwei Steinwürfe entfernt vom Rumi-Mausoleum. Dichter und Sufi-Mystiker Rumi (1207-1273) ist Begründer und Spiritus Rector des Mevlevi-Derwisch-Ordens, der mit seiner offenen reformislamischen Haltung und der Praxis der Derwische andere Bewusstseinsebenen und damit spirituelle Erfahrungshorizonte eröffnen will.

«Gott hat das Universum und die Menschen erschaffen», sagt Esin Celebi mit geradezu zärtlicher Stimme, nachdem sie mit einer kleinen Verbeugung und der Hand auf dem Herzen ihre aufbruch-Gäste willkommen geheissen hat. Es gehe darum, Gott zu erkennen, um lieben zu können. Wie sieht der Weg dahin aus? Die 74jährige unterstreicht, Gottsuchende sollten schriftlich festhalten, was Gott einem an Geschenken, an Talenten, gegeben habe. «Was dir von Gott mitgegeben ist auf deinem Weg – Mutter, Vater, Ahnen, Talente usw. – macht jeden von uns einmalig», betont die 22. Rumi-Nachfolgerin. Das gelte es zu entdecken. Zur Verdeutlichung greift die Sufi-Scheicha auf ein Beispiel zurück: «Möchten wir jemandem etwas schenken, so suchen wir nach etwas, das ihm oder ihr entspricht, beispielsweise einen roten Kugelschreiber, auch wenn wir selbst den blauen vorziehen würden. Wenn wir so schenken können, wissen wir auch, wie wir lieben können. Erst wenn wir uns selber schätzen und lieben können», fasst Esin Celebi zusammen, «können wir andere schätzen und lieben».

Esin Celebi, 22. Rumi-Nachfolgerin

«Haltet euch moralisch und materiell im Gleichgewicht. Wenn du anfängst zu gehen und unterwegs bist, wirst du wissen, was das Ziel ist.».

Esin Celebi

Vor diesem Hintergrund hebt die hochstehende Sufi-Leiterin hervor, dass alle Religionen im Grunde Ähnliches empfehlten. Die Religionen seien in die gleiche Richtung unterwegs. Nur «die Wege zum Ziel können sich unterscheiden». Der Weg sei das Ziel. Zum Abschluss gibt Esin Celebi allen eine persönliche Empfehlung mit auf den Weg: «Haltet euch moralisch und materiell im Gleichgewicht. Wenn du anfängst zu gehen und unterwegs bist, wirst du wissen, was das Ziel ist.» Dabei richte sie ihr Augenmerk stets hoffnungsvoll auf das halbvolle, nicht auf das halbleere Glas. «So sehe ich alles, was Gott mir geschenkt hat, und ich bemühe mich», lächelt die Scheicha fast ein wenig verschmitzt, «mehr und mehr die leere Hälfte des Glases zu füllen».

Aber «was sagen Sie zu millionenfachem Leid, Krieg und Hunger auf der Welt?» Ohne langes Zögern antwortet die Sufi-Obere, die Menschen seien zu materialistisch geworden, würden dem Körperlich greifbaren zu viel Gewicht beimessen und darüber die Seele vergessen. «Die Seele nährt sich moralisch, geistig, nicht an materiellen Dingen. Ohne Sturm», fährt sie seelenruhig wie eine Weisheitslehrerin fort, «legt sich das Meer nicht». Als Zeichen der Hoffnung wertet Esin Celebi die Beobachtung, dass die wohlwollenden Teile der Zivilgesellschaft «dabei sind, sich mehr und mehr zu organisieren». Diesen organisatorischen Schritt hätte der materialistisch denkende und handelnde Teil der Menschheit hingegen schon hinter sich.

Gut organisiert waren bereits auch die Hethiter, die im kleinasiatischen Anatolien mit ihrer Hauptstadt Hattucha in der Zeit von 1900 – 1200 v. Chr. ein mächtiges Grossreich aufgebaut hatten, das auf Augenhöhe mit Ägypten und Assyrien in einer Liga spielte. Beredtes Zeugnis ist der völkerrechtlich ausgerichtete Friedensvertrag von ca. 1259 v.Chr. zwischen Hethiter-König Muwatalli II. und Pharao Ramses II.. Das Vertragswerk betont nicht nur die Freundschaft zwischen beiden Potentaten, sondern hebt auch ihre Verbrüderung hervor. Die hethitische Keilschrift-Version wurde hier in Hattusa 1906 entdeckt.

3300 Jahre alt sind die Steine der Prozessionsstrasse zum Grossen Tempel der Hethiter in Hattusa

So schreitet die aufbruch-Reisegruppe äusserst fachkundig geführt von Reiseleiter Kenan Canak auf der «Prozessionsstrasse», wie er sie nennt, auf grossen, 3300 Jahre alten Pflastersteinen vorbei Richtung Tempelbau. «An den Seiten dieser Prozessionsstrasse befinden sich die Gundmauerreste der Magazinräume», erklärt unser Archäologe. «Sie dienten zur Aufbewahrung all der Opfergaben, die höchstwahrscheinlich nicht nur die Hethiter zum Tempel mitbrachten.» Dabei müsse man wissen, dass der Hethiterkönig zugleich auch der oberste Priester war. Ihm seien die Gaben – sie reichten von einer Gans bis hin zu einem Rind oder etwa auch wertvollen eisengeschmiedeten Gefässen – letztlich zugefallen.

Was die Religion der Hethiter betrifft, kann der Berichterstatter nur zitieren aus dem Reisebegleitbuch, das der zweite, kurzfristig leider verhinderte Reiseleiter Toni Bernet-Strahm verfasst hat. Der Luzerner Theologe hält fest: «Die hethitische Religion präsentiert sich uns in einer eher schlichten Form.» Grundsätzlich beruhe sie auf dem römischen Prinzip «do ut des», gib, damit dir gegeben wird. «In der Praxis nimmt der Hethiter an, dass Wachstum und Gedeihen im Lande im Interesse der Götter selbst lägen. Denn nur so wüchse das für die Herstellung der Opferbrote nötige Getreide. Daher seien die Götter gleichsam gezwungen, ständig ihren Segen walten zu lassen.»

Das Grab von Tudhalija IV. (ca. 1236-1215 v.Chr.) im Felsenheiligtum von Yazilidaya

In seinen Gebeten wie etwa in den Hymnen, «die auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, selbstlose und innige Götterlieder zu sein», erweisen sich die Hethiter als Fordernde. «So rechtet der Hethiter in seinen Gebeten», folgert Toni Bernet-Strahm im Reader, «durchaus mit dem göttlichen Wesen, indem er sie in einer erstaunlich logischen Art und Weise an ihre Aufgaben erinnert». Warum das hethitische Grossreich zwischen 1220-1180 dennoch unterging, ist mangels Quellen bis heute letztlich ungewiss. Hunger der Landbevölkerung? Andere, besser entwickelte Völker wie die Kaskäer zum Beispiel? Soziale Spannungen? Allesamt spannende offene Fragen.

Eine andere Wiege vorab des Christentums ist Ephesus. In dieser damals 200 000 Einwohner:innen zählenden Hafen- und Hauptstadt der römischen Provinz Asia wirkte der unermüdliche Apostel Paulus zwischen den Jahren ca. 52-55 n. Chr. Es dauerte wohl nicht sehr lange, bis sich dieser hochgebildete rastlose Mann gegen den inzwischen etablierten römischen Kaiserkult und damit gegen die geschäftstüchtigen Devotionalienhändler stellte. Die machten kurzen Prozess und brachten den geschäftsschädigenden Störenfried Paulus hinter Schloss und Riegel. Im Gefängnis nutzte Paulus seine Zeit zum Briefe schreiben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit entstanden also in Ephesus die Briefe an die Philipper und an Philemon sowie die erste Epistel an die Gemeinde in Korinth und an die Galater.

Gerade im Brief an die Galater legt Paulus seine Grenzen sprengende Rechtfertigungsbotschaft dar: «Es gibt nicht mehr Juden noch Griechen, nicht mehr Sklaven noch Freie, nicht mehr männlich noch weiblich, denn ihr seid alle einer in Christus Jesus» (Gal 3, 28) . «Seine Rechtfertigungsbotschaft wollte die Grenze zwischen Juden und Heiden durchbrechen», so der Paulus-Experte Gerhard Theissen. «Der eine und einzige Gott ist der Gott aller Menschen.» Paulus’ wichtigste Erkenntnis formuliert Toni Bernet-Strahm in seinem Reise-Reader so: «Was Paulus entdeckte, ist ein Paradox der Tugendhaften. Es gibt eine Tyrannei der Tugend. Gerade die Erfüllung und Einhaltung des Gesetzes führt zum Tode von unschuldigen Menschen (…) Hinter dem Gesetz steht somit die Gier (Sünde bzw. Fleisch nennt es Paulus, die Kapitalisten nennen es Gewinn- und Wachstumsmaximierung), sie treibt dazu an, dass sogar die Erfüllung des Gesetzes blind macht gegenüber den Folgen der Anwendung des Gesetzes.» Dahinter wiederum steht Paulus Erkenntnis, dass Jesus «aufgrund der perfekten Einhaltung des Gesetzes gekreuzigt worden» ist. Das Gesetz und dessen buchstäbliche Einhaltung tötet. «Davon aber macht ein Leben nach dem Geiste Jesu frei.»

«Es gibt nicht mehr Juden noch Griechen, nicht mehr Sklaven noch Freie, nicht mehr männlich noch weiblich, denn ihr seid alle einer in Christus Jesus.»

Paulus (Gal 3, 28)

Text und Fotos: Wolf Südbeck-Baur

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