Die Schwestern Doris (69) und Silvia Strahm (67) sind beide Feministische Theologinnen und Publizistinnen. Ihre Lebensläufe gleichen sich auffällig. Dabei hatten sie zunächst ganz unterschiedliche Pläne. Ein Schicksalsschlag änderte alles.
aufbruch: Haben Sie schon als Kinder alles gemeinsam getan?
Doris: Nicht alles, aber sehr vieles. Wir hatten eine enge Beziehung. Als ältere Schwester habe ich meine »kleine« Schwester lange Jahre unter meine Fittiche genommen.
Silvia: Doris war immer meine engste Vertraute, meine Verbündete. Ich habe mich in vielem sozusagen an ihre Fersen geheftet. Ich hatte Spielgefährt:innen, Schulkolleginnen, aber keine Freundinnen – ausser Doris. Für sie wohl nicht immer ganz einfach, diesen Schatten an ihrer Seite zu haben. Aber ich war, wie sich das für kleine Schwestern vielleicht gehört, frecher, weniger gewissenhaft, weniger ehrgeizig, fauler, verspielter. Keine besonders gute Schülerin, originell ab und zu, aber nicht sehr leistungswillig. So haben sich denn auch unsere schulischen Wege getrennt und sind erst beim Studium wieder zusammengeflossen.
Sind Sie sich bei so grosser Nähe nicht auch ins Gehege gekommen?
Doris: Rivalitäten haben wir nicht entwickelt, aber als wir älter wurden, haben sich unsere unterschiedlichen Charaktere deutlicher gezeigt. Ich habe Silvia für bestimmte Fähigkeiten bewundert, ihre Originalität und Kreativität im Denken und Schreiben, während ich eher einen sachlich-analytischen Stil habe.
Silvia: Ich habe Doris immer bewundert, beneidet nicht. Ich spielte sozusagen nicht in ihrer Liga. Vieles fiel ihr leichter als mir. Also verglich ich mich auch nicht mit ihr. Die Rollen waren festgelegt. Sie die gute Schülerin mit guten Noten, ich die mittelmässige Schülerin mit mittelmässigen Noten, aber dafür etwas kreativer.
Doris: Vielleicht sind diese unterschiedlichen »Begabungen« einer der Gründe, dass nie Konkurrenz zwischen uns aufgekommen ist. Jede war stolz auf das, was die andere machte. Das ist bis heute so.
Ein dunkler Moment in Ihrem Aufwachsen war, als ihr Vater verstarb. Sie waren damals junge Frauen. Wie hat dieses Ereignis Ihren Blick aufs Leben und ihren Entscheid, Theologie zu studieren, beeinflusst?
Doris: Wir waren beide »Vatertöchter«, und sein plötzlicher Tod im Alter von 47 Jahren hat uns den Boden unter den Füssen weggezogen. Er war der leuchtende Fixstern in unserem Leben: warmherzig, witzig, temperamentvoll und ein »Freigeist«. Sein Tod hat bei mir die Frage verstärkt, weshalb ein guter Gott solche »Ungerechtigkeit« und überhaupt Leiden zulassen kann, und hat mich in eine existenzielle Krise geführt. Ich wechselte deshalb vom Psychologiestudium, das ich an der Uni Zürich begonnen hatte, zur evangelischen Theologie, weil ich mir hier Antworten auf meine existenziellen Fragen erhoffte.
Silvia: Der Tod unseres Vaters war ein Rütteln an meinen Fundamenten. Unvorstellbar, unannehmbar, alles aus den Angeln hebend. Ich war kurz vor meiner Matura und wollte eigentlich anschliessend Germanistik studieren. Das hat sich verändert. Ich hatte die naive Vorstellung, ich könnte die Frage, weshalb man überhaupt leben wollen sollte, was das alles für einen Sinn hat angesichts des unerbittlichen Todes, am besten in einem Theologiestudium nachgehen. Dort ginge es doch schliesslich darum, ob diese Welt ein dem Zufall geschuldetes kosmisches Ereignis ist, das ins Leere geht, oder ob man darin auf eine ergründbare Weise aufgehoben sein kann und unverloren. In diesem Zusammenhang kommt mir immer wieder eine Gedichtzeile aus Ingeborg Bachmanns „Böhmen liegt am Meer“ in den Sinn: „Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. Von Grund auf weiss ich jetzt, und ich bin unverloren.“ Dies wollte ich wohl in meinem Theologiestudium erreichen. Eine Illusion.
Welche Antworten haben Sie gefunden?
Doris: Antworten auf die Ungerechtigkeiten in der Welt habe ich nicht wirklich gefunden. Meine Fragen blieben und auch meine Zweifel. Doch die biblischen Traditionen waren wie ein Haus, in dem diese Fragen einen Platz fanden, in dem Menschen jahrhundertelang um Antworten gerungen und die Hoffnung auf eine gerechtere Welt nicht aufgegeben haben. Aber ein richtiges Zuhause für meine Fragen und Worte für meine eigenen Gotteserfahrungen bot mir dann die feministische Theologie. Und dies ist bis heute so.
Silvia: Meine Fragen blieben auch unbeantwortet, aber das Fragenstellenmüssen bleibt. Ich halte mich dabei immer wieder an kluge Sätze – kaum einer stammt aus einem theologischen Werk, die meisten sammle ich aus Romanen, etwa einen wie diesen: »Dass wir alle Fischer im Dunkeln sind, im Sturm der Sinne und verrückten Ereignisse, und dass das Rucken am anderen Ende der Schnur geduldig herangeholt werden muss, mit Fingerspitzen, die empfindlich geworden sind durch das Sandpapier eines scheuernden Glaubens …« (John Updike)
Silvia, Sie haben zwei erwachsene Kinder und sind inzwischen Grossmutter. Doris, Sie sind gewollt kinderlos. Hat das ihre Schwesternschaft beeinflusst?
Silvia: Aus meiner Sicht hat das Muttersein nichts an unserer Schwesternschaft verändert, ausser dem Faktor Zeit. Vielleicht hätten wir schon früher weitere gemeinsame Projekte entwickelt. Auswirkungen hat Elternschaft ja generell auf alles; es verändert die Sicht auf vieles, was man bisher von sich wusste und zu kennen meinte; sie macht einen zur Pragmatikerin, lernt einen, dass man kaum etwas in den eigenen Händen hat, lernt einen aber auch, alte Begriffe wie Gnade und Demut neu zu buchstabieren.
Doris: Aus meiner Sicht hat es unsere Beziehung schon ein Stück weit verändert. Ein ganz zentraler Lebensbereich kam bei Silvia dazu, den wir nicht teilten. Und es blieb einige Jahre lang weniger Zeit für unsere Schwestern-Freundinnenschaft. Vorher waren wir in stetem engem Austausch miteinander gewesen. Aber an der Tiefe unserer Beziehung haben die »Kinderjahre« nichts geändert. Und als Tante und Gotte fühle ich mich ihren Kindern bis heute sehr nahe.
Silvia, Sie wechselten nach vielen Jahren feministisch-theologischer Arbeit an eine Hochschulbibliothek. Hatten Sie genug von Frauenrechtsthemen?
Silvia: Nein, das hatte eher mit etwas zu tun, was in heutigen Frauenbiographien selbstverständlich ist: ökonomische Absicherung. Bis ich 45 war, habe ich freischaffend und in Kleinstpensen gearbeitet. Ich musste mir überlegen, wie ich die nächsten 20 Jahre bis zur Pensionierung beruflich gestalten wollte. Die Kirche war keine Option, die Bibliothek hingegen bot für eine Bücher- und Leseversessene wie mich eine ganz tolle berufliche Perspektive.
Sie waren über viele Jahre auch als Kolumnistin, unter anderem für die Neue Luzerner Zeitung, tätig. Ihre Texte vermitteln persönliche, poetische Blicke auf Alltägliches, aber kaum explizit Theologisches. Warum?
Silvia: Das stimmt nicht ganz. Ich habe in diversen Zeitschriften Kolumnen und auch für die FAMA Texte zu religiösen Fragen geschrieben. Mein Hauptinteresse galt immer dem Versuch, Themen, die die Religionen beschäftigen, Leser:innen zu vermitteln, die das nicht mehr interessiert, die keinen Zugang mehr dazu haben. Als Skeptikerin, die sich nach wie vor in der Nähe religiöser Bilder und Traditionen herumtreibt, war ich immer Fragestellerin wie auch Adressatin meiner Überlegungen.
Doris, Sie traten 2018, empört und mit einem öffentlichen Paukenschlag, aus der römisch-katholischen Kirche aus und nannten es eine Befreiung. An den christlichen Glauben fühlen Sie sich aber weiterhin gebunden. Silvia, wie halten Sie es mit Kirche und Glauben?
Silvia: Ich unterstütze nach wie vor die Institution Kirche vor Ort, also meine Kirchgemeinde, weil sie gute und wichtige Arbeit macht. Ich habe nach wie vor grossen Respekt vor dem Reservoir an Begriffen, Traditionen, Bildern, Räumen, die die christliche Tradition bewahrt. Sie sind vielfältiger, geheimnisvoller und anregender als vieles, was die Amtskirche als Kirche und Glaube vermittelt. Neugierig bin ich nach wie vor, skeptisch auch, zögernd bei allem, was Glauben verlangt. Dieses Zitat von Kurt Vonnegut beschreibt meine Haltung gut: »Ich weiss nicht, wie das bei ihnen ist, aber ich praktiziere eine desorganisierte Religion. Ich gehöre einem unheiligen Unorden an. Wir nennen uns ‚Unsere Liebe Frau des nie enden wollenden Erstaunens’.«
Doris, Sie arbeiteten einige Jahre als feministische Theologin an der Universität Fribourg, hatten später mehrere feministisch-theologische Lehraufträge an verschiedenen Universitäten der Schweiz und haben als freischaffende Theologin seit den 2000er Jahren vor allem auch interreligiös-feministisch gearbeitet. Welches ist für Sie die wichtigste Erkenntnis aus Ihrer interreligiösen Arbeit?
Doris: Immer wieder einen Perspektivenwechsel vorzunehmen und die Innensichten der anderen Frauen kennenzulernen und zu respektieren. Anders gesagt: Das Eigene nicht als Norm für alle anderen zu setzen und stets die Asymmetrien und Machtverhältnisse in interreligiösen Begegnungen zu reflektieren, auch zwischen Frauen.
Ihr Buch »Mächtig stolz« über die feministische Theologie und kirchliche Frauenbewegung in der Schweiz vermittelt den Eindruck einer bunten und kreativen Bewegung jener Zeit. Einige ihrer damals mitbegründeten Projekte (z. B. FAMA oder IG Feministische Theologinnen) existieren noch. Welche Bedeutung kommt diesen Projekten heute zu?
Doris: Eine grosse, weil sie das Thema »Feministische Theologie« am Leben halten und in die Öffentlichkeit tragen! Die IG, in deren Vorstand ich mitarbeite, vertritt rund 140 feministische Theologinnen; die Zeitschrift FAMA gibt es seit 37 Jahren und wird von einer neuen Generation weitergeführt. Es braucht solche Gefässe, damit das Thema sichtbar bleibt.
Wie verlief Ihre Zusammenarbeit zum Buch?
Doris: Ich hatte schon einige Bücher herausgegeben, Silvia noch nie. Ich war gespannt, wie wir die grosse Redaktionsarbeit von fast hundert Texten gemeinsam bewältigen würden. Es lief rundum gut! Wir teilten uns die Hauptverantwortung für die Artikel und warfen dann gegenseitig einen zweiten Blick drauf. Das war aufwändig, aber funktionierte wunderbar. Es war eine sehr intensive Zeit, in der wir fast täglich in Kontakt waren. So war die Herausgabe des Buches auch ein „Highlight“ in unserer Schwesternbeziehung.
Silvia: Es war eine ganz wunderbare Erfahrung. Auch wenn Doris einiges mehr als ich mit dem Buch zu tun hatte und sie es war, die die Verhandlungen mit der Verlegerin führte und viele administrativen Aufgaben übernahm, so war die unterschiedliche Erfahrung nie ein Problem. Es war einfach eine intensive, spannende, schöne gemeinsame Zeit mit einem herausfordernden und beglückenden Projekt.
Was sagen junge Theolog:innen zum Buch?
Doris: Generell kann ich das nicht sagen. Aber ich weiss von ein paar jungen Theologinnen, die total begeistert, aber auch erstaunt waren, als sie lasen, was alles in den vergangenen 40 Jahren geschehen ist, von dem sie nichts wussten, oder dass wir uns bereits in den 1980er- und 90er-Jahren mit Themen wie z.B. Antijudaismus, Rassismus, Intersektionalität beschäftigten. Das zeigt, wie wichtig es war, die Geschichte der feministischen Theologie und der kirchlichen Frauenbewegung zu dokumentieren und vor dem Vergessen zu bewahren!
Was war rückblickend für Sie persönlich das grösste Highlight bei der Entstehung des Buches?
Doris: Für mich war es der Kontakt mit den vielen Autorinnen. Die meisten von ihnen kannten wir ja aus der früheren Zusammenarbeit an Projekten oder von Veranstaltungen. Berührend war vor allem bei den älteren Autorinnen, wie durch das Schreiben ihres Beitrags die Erinnerungen wieder lebendig wurden und sie nun im Rückblick mit Stolz ihre Arbeit würdigen konnten.
Silvia: Dass so viele Frauen mitgearbeitet haben, bereitwillig, unentgeltlich, voller Freude und mit viel Ausdauer. Zu sehen, wie aus einer guten, weil wichtigen Idee – die letzten rund 40 Jahre feministisch-theologischer Bewegung und Frauenkirche zu dokumentieren – etwas wurde, das dem, was oft schon vergessen war, wieder Gewicht und Bedeutung gab und noch gibt. Es bot uns und den Frauen, die mitgearbeitet haben, einen Blick zurück in die eigene Vergangenheit, in das, was geleistet wurde und was wir auch selber geleistet und beigetragen haben, einen Blick auf das, was spannend war, schwierig, verrückt und einfach schön und gelungen.
Ein wunderschönes Portrait über eine toll gelebte Schwesternbeziehung aus der heraus ein so schönes Buch wie ‚mächtig stolz‘ entstanden ist!