Mehr als tschüss, goodbye und au revoir

Was würdest du tun, wenn du heu­te wüsstest, dass du noch zwei Wochen zu leben hast? Diese Frage war der Ausgangspunkt eines langen Gesprächs unter Freundinnen; über das Ab­schiednehmen. Mit zunehmendem Alter nehme ich Ab­schiede bewusster wahr. Vor Jahren notier­te ich mir noch die »ersten Male«, die neu­en Abenteuer, die Aufbrüche in mein Tagebuch. Heute füge ich dieser Liste auch die »letzten Male« hinzu.

Von Amira Hafner-Al Jabaji

Trauer empfinde ich darob nicht, eher Dankbarkeit. Das Sinnieren über Abschiede bringt mich zu neuen Perspektiven: Als ich unser letztes Kind zu Welt gebracht hatte, drehte sich alles um die Ankunft des neuen Wesens und sein Aufbruch in diese Welt. Für mich war es aber gleichzeitig der Abschied vom Ereignis »Schwangerschaft«, das ich nie mehr durchleben würde und dessen ich still und leise für mich gedachte. Heute, fast zwanzig Jahre später und 50+ nehme ich Abschied von einer Lebenspha­se und von meiner Tätigkeit als Redaktorin beim aufbruch. Das Trauerjahr zum Tod meiner Eltern ist vorüber. Es fängt wieder an in mir zu wünschen, planen, umzuset­zen: In einigen Jahren will ich meinen jetzigen Wohnort verlassen. Mit diesem Vorhaben beginne ich jetzt schon innerlich von Menschen, Orten, Dingen, Gewohn­heiten und unzähligen Begebenheiten Abschied zu nehmen und mich bewusst mit Veränderungen, mit Endlichkeit und Neuanfang auseinanderzusetzen.

Der Wunsch nach Frieden

Das Wort »Abschied« stammt vom alt­ hochdeutschen »absceid«, was sowohl »Trennung« als auch »Entscheidung« be­deutet. Diese beiden Bedeutungen spiegeln den inneren Konflikt wider, der oft mit Abschieden einhergeht: Wir verlassen et­was, was uns lieb ist, und gleichzeitig ent­scheiden wir uns, wenn auch nicht unbe­dingt freiwillig, für einen neuen Weg.

Abschied, egal in welchem Kontext, trägt eine universelle Sehnsucht in sich: den Wunsch nach Frieden. Ob wir Freundin­nen und Bekannte nach einem Besuch oder auf eine Reise verabschieden, einen Lebensabschnitt hinter uns lassen oder uns am Ende unseres Lebens auf den Tod vor­bereiten – der Gedanke, in Frieden zu ge­hen, ist ein zentraler Bestandteil des Ab­schiednehmens.

In vielen Kulturen und Religionen drückt sich dieser Wunsch in den Ab­schiedsritualen und Worten aus. Die Be­griffe »Schalom« im Hebräischen und »Salam« im Arabischen sind eingängige Beispiele dafür. Beide Worte bedeuten Frieden und werden sowohl als Begrüssung als auch als Abschiedsgruss verwendet. Doch ihre Bedeutung reicht tiefer: Sie symbolisieren nicht nur die Abwesenheit von Konflikt, sondern auch einen umfas­senden inneren und äusseren Frieden – den Zustand des Wohlbefindens, der Harmo­nie und des Heilseins.

Im Judentum ist »Schalom« weit mehr als nur ein alltägliches »Tschüss«. Es drückt den Wunsch aus, dass der Gehende in Frie­den geht und die Bleibende in Frieden lebt. Beim Abschied eines Verstorbenen wird traditionell der Segen »Ruhe in Frieden« ausgesprochen. In diesem Kontext bedeutet »Schalom«, dass die Verstorbene in der kommenden Welt Olam Haba Frieden und Ruhe findet. Der Abschied wird also nicht als endgültige Trennung, sondern als ein friedvoller Übergang in eine andere Dimension des Daseins betrachtet.

Der Gruss »Salam« im Islam hat eine ganz ähnliche Bedeutung. Muslime verabschieden sich oft mit »As-salāmu alaikum« – »Friede sei über dir« oder mit »Ma’a Salām« – »(Gehe) Mit Frieden«. Auch hier wird Frieden nicht nur als körperliches Wohlsein verstanden, sondern als spirituelle Ruhe und Harmonie. Da As-Salām gleichzeitig auch ein Gottesname ist, bedeutet die Formel auch »(Gehe) mit Gott«. Das Englische »Goodbye«, das von »God be with ye« kommt, ist eine Analogie – ein tiefgehender Segenswunsch, der sich über die Jahrhunderte in eine alltägliche Abschiedsformel verwandelt hat.

Auch im Tod wird der Frieden betont: Wenn ein Muslim stirbt, heisst es »Inna lillahi wa inna ilayhi raji›un« – »Wir gehören Allah und zu Ihm kehren wir zurück«. Der Tod ist kein Ende, sondern der Übergang in ein neues Leben in der anderen Welt (ah ̆ īra). »Salām« drückt also beim Abschied die Hoffnung aus, dass der oder die Gehende in Frieden weiterzieht, sowohl im diesseitigen Leben als auch im Jenseits.

Bei den Zulu in Südafrika wird jemand mit »Hamba kahle« (»Geh in Frieden«) auf den Weg geschickt. Ebenso vermittelt der koreanische Gruss »Annyeong« denselben Wunsch: ob zur Begrüssung oder zum Abschied, der Frieden steht im Mittelpunkt.

Auf diese Weise erhält Abschiednehmen eine hoffnungsvolle Dimension, und zeigt, Abschied ist nicht immer nur mit Trauer oder Verlust verbunden ist, sondern auch ein Akt der Freilassung und des Loslassens – in Frieden.

Abschiede nach Möglichkeit zu feiern, sie bewusst zu gestalten und den Emotionen, Erinnerungen und Wünschen Raum zu geben, ist daher eine wichtige Praxis, um den Übergang zu erleichtern, den Schmerz des Loslassens zu mildern und zugleich den Wert dessen zu würdigen, was war. So kann Abschied zu einem Akt der Anerkennung und Dankbarkeit werden, der nicht nur den Verlust betont, sondern auch den Neuanfang ermöglicht. Tatsächlich dreht sich in meinem Freundinnengespräch denn auch vieles um die Frage, wie würdest du deinen Abschied gestalten? Dankbarkeit gegenüber jenen zu äussern, die Wegbegleiter:innen waren, scheint ein wesentliches Element bei allen zu sein. Die eine würde lange Briefe schreiben, die andere eine Abschiedsfeier mit Danksagungen organisieren.

Freiheit, Vergänglichkeit, Kreislauf

In der Philosophie wird Abschied als existenzielle, soziale oder spirituelle Erfahrung thematisiert. Vor allem weibliche Philosophinnen haben hier wichtige neue Perspektiven eingebracht.

Hannah Arendt (1906–1975) betrachtete den Tod als letzte Form der Freiheit. In ihrer Philosophie ist der Tod nicht nur das Ende des Lebens, sondern ein radikaler Schnitt, der uns zwingt, bewusste Entscheidungen zu treffen und unser Leben mit Sinn zu füllen. Für Arendt bedeutet der Abschied vom Leben, dass wir uns aktiv und frei mit unserer Endlichkeit auseinandersetzen müssen.

Simone de Beauvoir (1908–1986) reflektierte den Abschied besonders in ihrem Essay »Das Alter« (1972). Sie beschreibt, wie der Abschied nicht nur als individueller Tod, sondern auch als Verlust gesellschaftlicher Bedeutung beim Altern erlebt wird und kritisiert, wie ältere Menschen in Isolation geraten und dadurch einen doppelten Abschied erfahren – sowohl vom sozialen Leben als auch vom physischen Dasein.

Die zeitgenössische US-amerikanische Philosophin Judith Butler (*1956) bringt eine weitere Perspektive ein: Abschied als Ausdruck unserer Verwundbarkeit. In ihrem sehr persönlich gehaltenen Buch »Precarious Life« (2020) beleuchtet sie die Trauer und Gewalt als universelle menschliche Erfahrungen, die uns daran erinnern, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind. Abschied bedeutet für Butler, unsere Bindungen und Abhängigkeiten anzuerkennen und sie in den Vordergrund unseres Denkens zu stellen.

In Indien steht der Abschied in der Philosophie von Vandana Shiva (*1952) in engem Zusammenhang mit der Beziehung zwischen Mensch und Natur. Shiva betont, dass der Verlust der natürlichen Welt ein spiritueller Abschied ist, der tiefgreifende Folgen für die Menschheit hat. Sie be- trachtet den Abschied als einen Moment, in dem wir die Zerstörung der Umwelt und der traditionellen Lebensweisen erkennen und uns fragen müssen, wie wir das Gleichgewicht wiederherstellen können.

Trauer und Neubeginn

Elisabeth Kübler-Ross hat mit ihrem Modell der fünf Phasen der Trauer (Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression, Akzeptanz) den inneren, psychologischen Prozess des Abschiednehmens beschrieben. Demnach durchläuft jeder Mensch in unterschiedlichem Tempo diese Phasen, und jede bringt uns dem Loslassen näher. Abschied bedeutet hier nicht, den Schmerz zu vermeiden, sondern ihn anzuerkennen und zu durchleben. Aus der Bindungstheorie ist ausserdem bekannt, wie sehr unser Umgang mit Abschieden von unseren frühen Erfahrungen geprägt ist. Wer in der Kindheit sichere Bindungen erfahren hat, kann Abschiede meist leichter verarbeiten. Unsichere Bindungen hingegen führen dazu, dass Abschiede als besonders schwer oder traumatisch empfunden werden. Doch in jeder Herausforderung des Abschieds liegt die Möglichkeit, emotionale Widerstandskraft – Resilienz – zu entwickeln.

Was Philosophie und Psychologie beschreiben, ergibt im Religiösen Sinn. Die verschiedenen Perspektiven gedanklich und emotional miteinander zu verknüpfen, sie auszuloten und je nach Person unterschiedlich zu gewichten, liess das Freundinnengespräch zu einem lustvollen, tiefgründigen und überaus anregenden Austausch über Abschied werden und nahm der Ausgangsfrage jegliche Schwere.

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