30 Jahre aufbruch – dieses Jubiläum wurde am 25. Juni mit einer gut besuchten Veranstaltung im Pfarreizentrum St. Karli in Luzern gefeiert. Nach einem Impulsreferat von Rifa’at Lenzin folgte eine angeregte Diskussion zwischen ihr und Peter G. Kirchschläger, Sozialethik-Professor an der Uni Luzern. Moderiert wurde die Diskussion vom Religionswissenschafter Willi Bühler.
Bilder: Christian Urech
Rifa’at Lenzin ist eine der bekanntesten Stimmen des interreligiösen Dialogs in der Schweiz: In ihrem Impulsreferat, dessen Inhalt Sie hier nachlesen können, betonte die Muslimin und Islamwissenschaftlerin, «dass auch die Menschenrechte – mag man sie als universell gültig betrachten oder nicht – nicht ausserhalb von Zeit und Raum stehen, sondern in einen historischen Kontext eingebettet sind.» Die nicht-westliche und insbesondere die islamische Welt seien von Anbeginn immer wieder mit der relativen Gültigkeit dieser «universellen» Menschenrechte konfrontiert gewesen, sobald diese mit wirtschaftlichen und/oder machtpolitischen Interessen westlicher Staaten kollidiert seien. In der Euphorie über die Errungenschaft der Menschenrechtsdeklaration 1948 sei allerdings die Tatsache vergessen worden, dass die postulierte «Gleichheit an Würde und Rechten» in den USA und Südafrika nur die weissen Menschen betroffen habe, in Frankreich und Grossbritannien nur die Franzosen und Briten der Mutterländer, nicht aber deren Untertanen in den Kolonien und in der Schweiz beispielsweise nur die männlichen Eidgenossen, da die Frauen weder das Stimm- noch das Wahlrecht besessen hätten. Die verschiedenen arabisch-islamischen Vorstösse für «islamisch» definierte Menschenrechte seien deshalb nicht zuletzt eine politische Antwort auf die als arrogant und hegemonial empfundene Haltung des Westens. Oder wie Samuel Huntington es pointiert ausgedrückt habe: «What is universalism to the West is imperialism to the rest». Das gelte nicht nur für den Islam. Für die Hindus sei es zum Beispiel nicht ganz einfach, die Idee der Gleichheit aller Menschen mit ihrem Kastensystem zu vereinbaren, oder für die vom Konfuzianismus geprägten Chinesen die Betonung des Individuums vor den Ansprüchen der Gemeinschaft zu verstehen.
Wichtig ist für Lenzin auch, dass es «den» Islam nicht gibt und deshalb auch keine einhellige Haltung gegenüber den Menschenrechten: «Die Bandbreite der Meinungen reicht dabei von völliger Unvereinbarkeit westlicher Menschenrechtsvorstellungen mit islamischen Grundsätzen bis zur weitgehenden Übereinstimmung. (…) Unterschiedliche Zugänge und Antworten ergeben sich auch daraus, ob der Autor primär auf einer rechtlichen Basis argumentiert oder auf einer philosophischen.»
Aus islamischer Sicht seien die Menschenrechte keine Naturrechte, das Recht könne nicht vom Menschen gesetzt, sondern nur von ihm «gefunden» werden. Der Hauptunterschied zwischen den Allgemeinen Menschenrechten der UNO und islamischen Menschenrechten sei deshalb der Gottesbezug.
Materielle Unterschiede bezögen sich auf Formulierungen bezüglich der Gleichberechtigung von Frau und Mann, insbesondere in der Ehe und vor Gericht; das Recht, seine Religion ohne Nachteile zu wechseln; die eingeschränkte Wählbarkeit von Nichtmuslimen für gewisse staatliche Ämter und Funktionen und die Abschaffung der Todesstrafe.
In der Diskussion widerspricht Peter G. Kirchschläger der Ansicht, Menschenrechte seien irgendwie «relativierbar», vehement: «Es ist bequem, in einem Kontext, wo Menschrechte garantiert sind, davon zu sprechen, dass man sie nur relativ betrachten soll. Ich bin absolut damit einverstanden, dass Menschenrechte historisch gewachsen sind. Man muss auch berücksichtigen, dass bei der Abfassung der allgemeinen Menschenrechte 1948 Hegionalmächte am Tisch waren.» Das müsse man aber nicht dazu einsetzen, den Menschenrechten ihre allgemeine Gültigkeit abzusprechen, sondern Verstösse als «kritischen Stachel» sehen, um die erwähnten Verstösse zu beseitigen. Es sei ein klassisches Problem zwischen Theorie und Praxis. Die Menschenrechte als Idee gingen viel weiter zurück als 1948. Falls Religionen weniger beliebt seien als die Menschenrechte, könne es möglicherweise daran liegen, dass Menschen es nicht schätzten, in einer Gesellschaft zu leben, in der die Menschenrechte ausserhalb der Kirche gelten würden, aber nicht mehr, sobald man die Kirche betreten habe.
Lenzin möchte unterscheiden zwischen den Menschenrechten an sich und dem Menschenrechtsdiskus. Sie stört sich daran, dass bei der Beurteilung der Umsetzung von Menschenrechten die Länder nicht mit der gleichen Elle gemessen würden, wenn zum Beispiel die schwierige Lage von Christen beklagt werde, aber in Bezug auf die Muslime behauptet werde, in der Schweiz, wo immerhin eine Minarettinitiative angenommen wurde, sei alles gut.
Kirchschläger bestätigt, dass wir bei der Durchsetzung der Menschenrechte «ein Riesenproblem» hätten. Er weist daraufhin, dass Menschenrechte nicht individualistisch seien. «Weil sie allen Menschen zu Gute kommen, bedeuten sie eine Freiheitseinschränkung, weil meine Freiheit ihre Grenzen an der Freiheit der anderen findet.» Die Aufgabe der Religionen sei es, Begründungen dafür zu liefern, wieso die Menschenrechte eingehalten werden müssten.
In allen Religionsgemeinschaften liessen sich Strömungen ausmachen, die sich gegen die Menschenrechte aussprächen. Und in allen Religionsgemeinschaften gebe es Menschen, die sich für die Menschenrechte engagierten – überall auf der Welt. «Wir sollten uns davon verabschieden, hier eine Grenze zwischen den Religionen und Glaubensgemeinschaften zu ziehen.» Die Grenze verlaufe vielmehr innerhalb der einzelnen Religionsgemeinschaften, in denen es liberale und illiberale Strömungen gebe. Vertreter illiberaler Haltungen gegenüber der Gleichberechtigung von Mann und Frau in den verschiedenen Religionen würden sich «blendend verstehen». Man müsse sich auch von geographischen Kategorien in diesem narrativen Diskurs verabschieden («der Westen» gegen «den Osten» usw.). Solche Kategorien würden die Vielfalt in den jeweiligen Kontexten zudecken.
Dagegen wirft Lenzin ein, dass z.B. ein Pakistani oder Iraker mit dem Begriff «der Westen» keine geographische Zuordnung verbinde, sondern das, was «der Westen» für ihn verkörpert. «Das ist ein Problem, weil es eine gewisse Wirklichkeit abbildet, aber nicht die ganze. Und deswegen kommt man an diesen Begriffen nicht unbedingt vorbei. Wenn man nicht dazugehört, nimmt man das viel stärker wahr, weil, und das ist das Problem, der Menschenrechtsdiskurs auch als Ausgrenzungsdiskurs geführt wird: Wir haben und ihr habt nicht. Und ihr müsst das Gleiche machen wie wir, und dann ist es gut. (…) Ich möchte das Recht haben, Menschenwürde so zu definieren, wie ich das eben mache.»
Ein weiterer Punkt, der in der Diskussion aufgegriffen wird: Religionen und Glaubensgemeinschaften sind keine menschenrechtsfreien Räume. Das müsse aber mit der Vorsicht und der Einsicht durchgesetzt werden, dass es unterschiedliche Zugänge gebe, woraus der Verzicht darauf folge, ein Menschenbild für die Menschenrechte formulieren zu wollen aus einer spezifischen religiösen Weltanschaulichkeit heraus.
„Religionen und Glaubensgemeinschaften sind keine menschenrechtsfreien Räume.“
Ganz genau!
Dies gilt genauso für alle staatlichen, wirtschaftlichen, politischen, zivilen und ideologischen „Räumen“.
Für die Religionen kann folgende Weisheit gelten:
Was unmenschlich ist, das kann nicht göttlich sein.
Und da müssen wir alle selbstkritisch dazu lernen.
Wie entstanden die Texte der „heiligen Bücher?
Wie war der Einfluss der herrschenden Kreise?
Jeder Bibelkundige weiss, dass die Evangelien nicht widerspruchsfrei sind, ganz zu schweigen vom AT, welches nach Ansicht der israelischen Autoren Silberman & Finkelstein ein Kriegspampleth des König Josias sei.
Unsere monotheistischen bzw Abrahamitischen Religionen gründen auf dem angeblich göttlichen Mordauftrag an Abraham, seinen Sohn betreffend.
Das ist keine gute Grundlage für „heilige Bücher“.
Wenn ein anständiger Familienvater einen solch schrecklichen Traum hat, dann ist er sehr froh, bald aufwachen zu können um nach seinem Gewissen zu entscheiden.
Nicht so der Stammvater, er hat nicht gemerkt, einen brutalen Albtraum geträumt zu haben…
Vielleicht hatte Abraham diese drastische Geschichte erfunden, um seinen Leuten begreifbar zu machen, dass Gott keine Menschenopfer will?
Die Katechese sagt naiv ausweichend, man solle stur gehorchen, dann wird der Engel kommen.
Die Abrahamitischen Religionen haben ja nicht nur dieses eine Problem des angeblich göttlichen Auftragmordes.
Es gibt ja leider auch die Anweisung zum brutalen Genozid, was gewiss in unsere Zeit hinein wirkt, insbesondere im Konflikt Palästina/Israel.
Die einen glauben tatsächlich, es gäbe auserwählte Völker!
Entweder sind das alle Völker oder keines. Das wäre menschlich und wohl auch göttlich.
Zu relativieren gilt es ganz gewiss nicht die Menschenrechte, wohl aber die „heiligen Bücher“.
„Göttlicher Auftragsmord“
1. Meine Ansichten dazu:
Dass der Gehorsam Abrahams darin bestand, seinem (überkommenen) Gottesbild (Elohim) NICHT zu glauben. Sein Gott (JHWH, vertreten durch den Engel) ist ein Gott des Lebens.
Ein Gott, der zu töten verlangt, ist eine Erfindung der Priesterkasten ( siehe Hinkelammert)
Ein Gott, der (blinden) Gehorsam verlangt, outet sich als Götze.
Denn das Vertrauen auf „etwas“ , auf Vorstellungen, auch Vorstellungen von Gott muss immer wieder hinterfragt werden.
….Er gleicht vielmehr dem Schwimmer. der, um sich über den Wellen zu halten. sich im Ozean vorwärts bewegt und bei jeder Armbewegung eine neue Welle zurückstossen muss. Unaufhörlich stösst er die Vorstellungen, die sich immer wieder bilden, zur Seite, wobei er wohl weiss, dass sie ihn tragen, dass er aber unterginge, wenn er sie festhalten wollte.
Henri de Lubac
2. Auszug aus
Der glaube abrahams und der ödipus des westens
franz j. hinkelammert
https://repositorio.uca.edu.sv/jspui/bitstream/11674/2068/1/Der%20Glaube%20abrahams%20und%20der%20odipus%20des%20westens.pdf
…Kirche, Markt und Plan(wirtschaft) sind angeblich die Institution gewordene Freiheit, der gegenüber das Subjekt keine Freiheit braucht. Die gesellschaftlichen Strukturen überrollen das menschliche Subjekt, weil sie von ihm fordern, seine Freiheit und Selbstverwirklichung in der blinden Internalisierung dieser Struktur zu suchen, sei dies nun im Namen der Erlösung durch die Kirche, im Namen der Freiheit durch den Markt oder im Namen der Gerechtigkeit durch den Plan.
Es geht in der Geschichte um einen Mord, aber merkwürdigerweise um einen Mord, der nicht ausgeführt wird. Als Fundamentalmythos wahrt er den doppelten Schein, es handle sich einerseits um eine Entscheidung, nicht zu töten, andererseits jedoch um eine Entscheidung, zu töten, die nur durch höhere Gewalt aufgehalten wird.
Um die Geschichte in dieser Form erzählen zu können, habe ich zwei Sätze unterschlagen, die der Engel Gottes spricht:
(a) »Denn jetzt weiß ich, daß du Gott fürchtest; du hast mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten« (Gen 22,12b).
(b) » … und deinen einzigen Sohn mir nicht vorenthalten hast …« (Gen 22,16c).
Durch diese beiden Sätze kann man der Geschichte einen vollkommen anderen Sinn geben. Natürlich ist vorausgesetzt, daß der Satz: »Du hast mir deinen eigenen Sohn nicht vorenthalten«, bedeutet: Du warst bereit, ihn zu töten. Möglicherweise ist das tatsächlich seine Bedeutung, auch wenn es nicht notwendig so sein muß. Beide Sätze sehen den Gehorsam im Willen Abrahams, Isaak zu töten, nicht jedoch in der Tat, mit der er sich gegen das Gesetz auflehnt, das ihn verpflichtet, seinen Sohn zu tö-ten. Wenn wir … die beiden Sätze herausnehmen, besteht der Gehorsam Abrahams darin, seinen Sohn nicht getötet zu haben.
Überraschend ist jedoch, daß jetzt ein Engel Gottes erscheint, der von Abraham verlangt, seinen Sohn nicht zu opfern. Er verlangt, das Gesetz zu verletzen, das Gesetz Gottes zu übertreten – eine schwere Tat, durch die sich Abraham von seiner Kultur und Gesellschaft lossagen würde. Er verlangt einen völligen Bruch mit dem zu seiner Zeit gültigen Gesetz und folglich einen Kampf. Als Konsequenz muß Abraham seinen Wohnort nach Beerscheba verlegen. Wahrscheinlich hat man ihn verfolgt, weil er gegen Gesetz und Ordnung Widerstand geleistet hat.
Der Engel verlangt, frei zu werden und sich gegen das Gesetz aufzulehnen: Abraham gehorcht. Folglich gehorcht er also keiner Norm und keinem Gesetz. Durch seinen Gehorsam wird er vielmehr zu einer Freiheit befreit, die ihn über das Gesetz stellt. Als freier Mensch ist Abraham souverän gegenüber dem Gesetz. Er urteilt über das Gesetz. Und der Engel verlangt nichts anderes von ihm, als sich diese Freiheit zurückzuerobern. Der Gehorsam macht Abraham frei. Und was von ihm verlangt wird, ist: frei zu sein. Indem er seinen Sohn nicht tötet und sich damit seiner gesamten kulturellen und gesellschaftlichen Umgebung widersetzt, bestätigt er diese Freiheit, die seinen Glauben ausmacht. Deshalb besteht der Glaube Abrahams darin, seinen Sohn nicht getötet zu haben. Die Umformung der Opfergeschichte dagegen sieht den Glauben Abrahams in seiner Bereitschaft und seinem guten Willen, den Sohn zu töten.
Die Bestätigung seiner Freiheit ist nicht zu verwechseln mit Willkür gegenüber dem Gesetz. Abraham tut nicht, wonach ihm gerade der Sinn steht, er handelt frei und nicht willkürlich. Er bestätigt seine Freiheit, indem er das Leben bejaht, sein eigenes und das aller anderen. Deshalb opfert er seinen Sohn nicht, sondern bestimmt ihn zum Leben und folglich zu seiner eigenen Freiheit. Hätte Abraham ihn »freiwillig« geopfert, wäre er nichts als ein Sklave des Gesetzes und Todes gewesen. Deshalb ist seine Freiheit nicht Willkür. Sie bejaht das Leben aller, in-dem sie ein Gesetz des Todes aufhebt. Abrahams Tat ist auch keine simple Ausflucht. Er entzieht sich dem Gesetz nicht durch irgendeinen Vorwand, um seinen Sohn zu retten: Mögen andere ihren Erstgeborenen opfern, ich suche mir einen Vorwand, um das zu vermeiden. Hätte Abraham so gehandelt, hätte er die neue Freiheit nicht entdeckt und hätte auch keinen Glauben.
Es gibt sogar mehrere Textstellen aus den Propheten, die sich wie eine Interpretation des Abraham-Mythos lesen. Es handelt sich insbesondere um Bezugnahmen bei Jeremia und bei Ezechiel.
Jeremia streitet jede Möglichkeit ab, daß Gott jemals ein Kindesopfer verlangt haben könnte. Implizit bedeutet das, er kann es auch im Falle Abrahams unmöglich verlangt haben, und alle Interpretationen dieser Art müssen falsch sein und verweisen nicht auf JHWH. Über diese Kindesopfer sagt er:
»Siehe, ich will ein solches Unheil über diese Stätte bringen, daß jedem, der es hören will, die Ohren gellen sollen, weil sie mich verlassen und diese Stätte einem fremden Gott gegeben und don andern Göttern geopfen haben, die weder sie noch ihre Väter noch die Könige von Juda kannten, und weil sie die Stätte voll unschuldigen Blutes gemacht und dem Baal Höhen gebaut haben, um ihre Kinder dem Baal als Brandopfer zu verbrennen, was ich weder geboten noch geredet habe und was mir niemals in den Sinn gekommen ist« Jer 19,4f).
»Auch haben sie die Kuhhöhe des Tofet im Tal Ben-Hinnon gebaut, um ihre Söhne und Töchter im Feuer zu verbrennen, was ich niemals befohlen habe und was mir nie in den Sinn gekommen ist« Jer 7,31).
»Sie errichteten die Kulthöhe des Baal im Tal Ben-Hinnon, um ihre Söhne und Töchter für den Moloch durchs Feuer gehen zu lassen. Das habe ich ihnen nie befohlen, und niemals ist mir in den Sinn gekommen, solchen Greuel zu verlangen und Juda in Sünde zu stürzen« Qer 32,35).
Hier wird jede Möglichkeit bestritten, daß es Gott jemals in den Sinn gekommen sein sollte, ein Kindesopfer zu verlangen. Ezechiel ist sich da offensichtlich nicht so sicher. Daher sagt er:
Darum gab auch ich ihnen Gebote, die nicht gut waren, und Gesetze, durch die sie kein !.eben haben konnten, und ließ sie unrein werden durch ihre Opfer, als sie alle Erstgeburt durchs Feuer gehen ließen, damit ich Entsetzen über sie brachte und sie so erkennen mußten, daß ich der Herr bin (Ez 20,25f).
Hier sagt Gott, daß er tatsächlich einmal solche Gebote gegeben hat, aber nicht, um durch die Opfer einen positiven Erfolg zu sichern, sondern um Entsetzen zu schaffen, das dann den Menschen dafür öffnen sollte, sich Gesetze zu geben, durch die sie Leben haben konnten.
Das Opfer wird also als Erziehungsprozeß interpretiert, der dafür bereit machen soll, das Leben an die Stelle des Opfers zu setzen. Auch diese Stelle könnte sich auf Abraham beziehen, so daß das Gebot, seinen Sohn zu opfern, eben eine Probe dafür war, ob er tatsächlich fähig sei, der Vater der Verheißung des Lebens zu werden. Da ihn das Entsetzen ergriff und er seinen Sohn nicht opferte, bestand er die Prüfung.
Prüfungen dieser Art gibt es auch in anderem Zusammenhang, z.B.
als Gott von David eine Volkszählung fordert: »Und der Zorn des Herrn entbrannte abermals gegen Israel, und er reizte David gegen das Volk und sprach: Geh hin, zähle Israel und Juda!« (2 Sam 24,1) David führte tatsächlich diese von Gott geforderte Zählung durch. Gerade deshalb aber bestand er die Prüfung nicht. Gott prüfte ihn, aber er hätte die Prüfung nur bestanden, wenn er frei gewesen wäre und diesen Befehl Gottes nicht ausgeführt hätte. David bekennt daher seine Schuld, die darin besteht, das getan zu haben, was Gott, um ihn zu prüfen, von ihm forderte:
Aber das Herz schlug David, nachdem das Volk gezählt war. Und David sprach zum Herrn: Ich habe schwer gesündigt, daß ich das getan habe. Und nun, Herr, nimm weg die Schuld deines Knechts, denn ich habe sehr töricht getan (2 Sam 24,10).
Hätte David diesen Befehl Gottes nicht ausgeführt, dann wäre er gehorsam gewesen. Das versteht die Schrift unter Gehorsam. Wir verstehen heute unter Gehorsam etwas anderes; und auch unser Verständnis von Demut entspricht nicht mehr der hier gezeigten Demut. Hätte David den Befehl Gottes nicht ausgeführt, wäre er demütig gewesen und hätte die Prüfung bestanden.
Wir würden von Stolz oder Hochmut sprechen, wenn ein Mensch sich über das Gesetz erhebt; unsere Begriffe können eine solche Situation überhaupt nicht erfassen. Allerdings wird an späterer Stelle von diesem Befehl gesagt, er sei vom Satan gekommen: »Und der Satan stellte sich gegen Israel und reizte David, daß er Israel zählen ließe« ( 1 Chr 21,1). David hat also den Befehl Satans ausgeführt, anstatt den Willen Gottes zu tun:
Dies alles aber mißfiel Gott sehr, und er schlug Israel. Da sprach David zu Gott:
Ich habe schwer gesündigt, daß ich das getan habe. Nun aber nimm weg die Schuld deines Knechts (1 Chr 21,7f).
War in Samuel die Rede davon, daß Gott diesen Auftrag erteilt, so ist jetzt, im späteren Text, der sich auf den gleichen Vorfall bezieht, vom Satan die Rede. Wir haben hier das gleiche Problem wie bei der Verurteilung des Kindesmordes bei Ezechiel und Jeremia. Wenn Ezechiel annimmt, daß Gott den Befehl gegeben hat, interpretiert er diesen als Prüfung, die man besteht, indem man den Befehl Gottes nicht ausführt. Jeremia aber bestreitet, daß Gott solche Befehle geben könne, und muß daher den Satan als wahren Urheber anführen.
Zieht man diesen Schriftzusammenhang in Betracht, so kann man eigentlich nur zu dem Ergebnis kommen, daß der Glaube Abrahams darin bestand, seinen Sohn nicht zu töten, und die Prüfung gerade dadurch bestanden wurde, daß er das von Gott geforderte Opfer verweigerte.
Das Ergebnis: Die Bejahung des Todes schafft Leben. Dies ist genau die Sprache des Gesetzes, das zum Tode führt, sein Programm jedoch hinter der Behauptung verbirgt, die Bejahung des Todes verheiße Leben. Es ist auch die Sprache der Institutionalisierung. Der Kern jeglicher Institution ist die Verwaltung des Todes. Ihre Ideologie muß folglich den Tod im Namen des Lebens bejahen. Dem entspricht ein Glaube, in dem der Vater bereit ist, seinen Sohn zu töten.
Das Exodus-Buch selber erzählt uns, wer den Mythos vom Abraham-Opfer verdreht hat:
Mose trat an das Lagertor und sagte: Wer für den Herrn ist, her zu mir! Da sammel- ten sich alle Leviten um ihn. Er sagte zu ihnen: So spricht der Herr, der Gott Israels: Je- der lege sein Schwert an. Zieht durch das Lager von Tor zu Tor! Jeder erschlage seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nächsten. Die Leviten taten, was Mose gesagt hatte.
Vom Volk fielen an jenem Tag gegen dreitausend Mann. Dann sagte Mose: Füllt heute eure Hände mit Gaben für den Herrn! Denn jeder von euch ist heute gegen seinen
Sohn und seinen Bruder vorgegangen, und der Herr hat Segen auf euch gelegt (Ex
32,26-29).
Dies ist die Umkehrung des Abraham-Mythos. Hier tritt die Prie- stermacht als Gesellschaftsklasse auf, die in der Tat die politische Herr- schaft über die vom Gesetz geschaffene Gesellschaft übernimmt. Sie sind der Macht geweiht, »denn jeder von euch ist heute gegen seinen
Sohn und seinen Bruder vorgegangen, und der Herr hat Segen auf euch gelegt.« Es ist völlig irrelevant, ob dieses Massaker wirklich historisch ist, wahrscheinlich ist es das nicht. Es folgt viel zu sehr der Logik my- thischer Rationalität. Sie setzt die Bereitschaft voraus, »Söhne und Brüder« zu töten, und erwartet von daher Segen. Der Text beschreibt in mythischen Begriffen exakt, was Macht zu allen Zeiten war: Sie ist die Bereitschaft, den Sohn und alle Kinder zu töten. Interessant ist, daß der
Text davon spricht, sie hätten »Söhne und Brüder« getötet – nicht ihre
Väter. Der Grund liegt auf der Hand: Sie selber sind die Väter, die ihre Söhne töten. Auf dieser Grundlage üben sie ihre Macht aus.
Es ist offenkundig, daß die ursprüngliche Abrahamsgeschichte mit
solcherart Macht nicht vereinbar ist. Die Macht rechnet mit dem Segen als Vergeltung für die Bereitschaft, sogar den eigenen Sohn umzu- bringen, um das Gesetz durchzusetzen. Abraham empfing den Segen,
weil er sich weigerte, seinen Sohn zu töten, um dem Gesetz Genüge zu
tun, und weil er sich über das Gesetz erhob. Die Priestergruppe jedoch,
die nach dem Exodus in Israel die Macht übernimmt, sich als Sohn Abrahams versteht und es sein will, muß die Geschichte des Isaak-Opfers umschreiben in eine Geschichte, in der auch Abraham seinen Segen empfängt, weil er bereit war, seinen Sohn Isaak zu töten.
Aber das ist noch nicht alles. Die Um-Schreibung sichert die Dop- pelsinnigkeit des Textes. Man kann ihn auf doppelte Weise lesen: im
Sinne der Priestergruppe und der Macht oder im Sinne des Ursprungs
und der Befreiung. Das hat in Israel eine Dialektik hervorgebracht, die
in seiner Geschichte bis heute niemals verschwunden ist. In der Bibel 30
wird sie dargestellt als die Dialektik zwischen der Tradition der Priester einerseits und der Tradition der Propheten andererseits, als die Dia- lektik von Tempel und Unterdrückung auf der einen und Gerechtigkeit und Befreiung auf der anderen Seite.
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Es handelt sich in der Tat um eine Dialektik, nicht um eine einseitige Position. Glaube und Freiheit Abrahams sind Zeichen einer Hoffnung, die über das menschlich Realisierbare hinausreicht; einer Hoffnung, die nicht institutionalisierbar ist. Deshalb tritt die Priestermacht auf, die die Hoffnung umkehrt, um sich legitimieren zu können. Das Problem der Macht ist auch heute noch dasselbe. Um die Hoffnung auf Freiheit zu institutionalisieren, muß man sie wieder und wieder umge- stalten. Der Priester spielt nicht notwendigerweise die Rolle des Übeltäters. Macht muß ausgeübt werden; und überall und zu jeder Zeit wird
sie legitimiert durch die Bereitschaft zu töten – und sei es den eigenen
Sohn. Aber ebenso gilt es, gegenüber der Macht die Freiheit zu sichern,
die darin besteht, den Sohn nicht zu töten. Abraham ist der erste Bote
der Anarchie als einer gesetzesfreien Ordnung. Seitdem ist diese große Hoffnung menschlichen Lebens niemals mehr erloschen; und sie wird
auch nie wieder in Vergessenheit geraten. Sie bleibt ein echter Beweggrund zur Freiheit.
Die Abrahamsgeschichte erfüllt, auch wenn sie historisch ist, die Funktion eines Fundamentalmythos für eine ganze Gesellschaftsstruktur. Sie ist modern, weil sie an der Doppeldeutigkeit festhält. Sie kann
vom Standpunkt der herrschenden Klasse aus gelesen werden oder
vom Standpunkt der Befreiung aus der Unterdrückung. In der griechischen Tradition gibt es keinen Abraham, der ja zu seiner Freiheit sagt,
indem er sich weigert, seinen Sohn zu töten. Der griechische Mythos
vom Ödipus ist als Fundamentalmythos nichts weiter als ein Mythos
zur Rechtfertigung der Macht. Der Abraham-Mythos dagegen dient
zugleich der Herrschaft und dem Protest und wird wieder und wieder umgeformt.
In ihr (der Abraham-Tradition)
gibt es eine Freiheit, von der die griechische Tradition nicht einmal
träumt. Alle griechische Tradition bleibt merkwürdig blind gegenüber solcher Freiheit. Es gibt keinen Vater, der sich weigert, seinen Sohn zu töten. Diese großartige Tat menschlicher Freiheit gegenüber dem Gesetz, diese grenzenlose Bejahung menschlicher Subjektivität, die, wenn nötig, das Gesetz bricht, gibt es nicht.
Paulus und das Gesetz
Es ist sicherlich falsch, zu behaupten, Paulus denke bei den Werken des Gesetzes an die religiösen Riten und Gebräuche der Juden, die dem Heil nicht nützen. Er denkt vielmehr an jedes Gesetz, das Gesetzesgehorsam verlangt. Auf;erdem besteht das jüdi- sche Gesetz nicht nur aus religiösen Riten. Es konstituiert vielmehr die Verfassung der gesamten Gesellschaft, die im Tempel ihr Zentrum hat. Paulus entwickelt seine Theo- logie über das Gesetz vornehmlich im Römerbrief. Er richtet sich also an Menschen, die in Rom leben, unter denen es nur wenige oder gar keine Juden gegeben haben mag. Diese standen einem anderen institutionalisierten Gesetz gegenüber, dem römischen Gesetz. Zweifellos bezieht die paulinische Gesetzeskritik auch das römische Gesetz mit ein, das darüber hinaus Fundament aller modernen bürgerlichen Gesetzgebung ist.
Es gibt eine offenkundige Furcht davor, sich der paulinischen Gesetzeskritik zu stellen, denn sie müßte auch unsere eigene Gesetzgebung von heute mit bedenken: Auch sie ist Gesetz, das tötet.