Tanzen transzendiert das Korsett gesellschaftlicher Vorgaben auch in Israel. So verstehen sich Psytrance-Parties als a-politisch. Stampfende Bässe öffnen Räume, die junge Leute mit unterschiedlichen jüdischen Wurzeln zusammenkommen lassen.
Von Gian Rudin
Es ist eine wolkenbehangene Nacht mit mildem Klima im September. In Neve Tzedek erklingen aus der ältesten Synagoge des Viertels die Sechilot, jene reumütigen Hymnen und Gebete, die vor den grossen Feiertagen rezitiert werden. Es ist nach Mitternacht an diesem Freitagabend, die Schabbat-Feierlichkeiten haben begonnen. Im säkularen Tel Aviv herrscht emsiges Treiben, man sieht Leute auf den Strassen, wie in jeder anderen Grossstadt auch an einem Freitagabend.
Mein Weg führt mich weiter nach Florentin, in jenes hippe und alternative Viertel, in dem in den letzten Jahren die Mieten rasant in die Höhe geschossen sind. Von Weitem höre ich schon den Bass in tiefen Tonlagen wummern. Ich bin auf dem Weg ins Gagarin, eine Lokalität, die im Tel Aviver Slang salopp als Russen-Disco bezeichnet wird. Vielleicht denken einige Leser:innen beim Besuch eines Tanzlokals an einen Club mit ausgefallener Inneneinrichtung und Lounges, die mit Samtsofas aufwarten. Die Russen-Disco aber ist rudimentär. Es gibt eine Bühne, ein Betonboden dient als Tanzfläche. Sitzgelegenheiten und Orte fürs Gespräch finden sich draussen. Auf dem Dancefloor wird mit Gesten kommuniziert. Die Tanzeinlagen ähneln eher einem filigranen Stampfen. Euphorie und Exzess liegen in der Luft. Sehnsüchtig warten die Feierwütigen auf den «Drop», jenen Punkt, an dem nach melodiösen Höhenflügen der Bass in unverminderter Härte einsetzt und die Menge zum Toben bringt.
Ich befinde mich an einem Rave
Ich befinde mich an einem Rave. «To rave» hat in der englischen Sprache bekanntlich verschiedene Konnotationen. Es bedeutet schwärmen, fantasieren, aber auch rasen. In Israel wird an Raves meist psychedelischer Trance gespielt, der auch als Goa-Trance bezeichnet wird nach jenem Hippie-Pilgerort an der Westküste des indischen Subkontinents. Und genau dieses technoide Musikgenre ist in Israel zur Meisterschaft gelangt. Auf internationalen Festivals kommen die grossen Namen fast alle aus dem Mittelmeerstaat. Die Namen der Artisten legen zudem die Vermutung nahe, dass an diesen Partys nicht nur Chai-Tee getrunken wird: Infected Mushroom, Astral Projection und Ananda Shake. An diesem Abend spielen Rising Dust. Ihre euphorischen Klänge sorgen bei vielen für ein lachendes Gesicht.
Rising Dust, aufgewirbelter Staub. Diesen konnte man auch bei jener Party in der Negev Wüste beobachten, der einer der Schauplätze der Massaker des 7. Oktobers wurde. Plötzlich in der Morgendämmerung stoppte die Musikanlage und das Grauen nahm seinen Lauf. Jäh und brachial wurden die rollenden Bässe durch Salven aus halbautomatischen Handfeuerwaffen unterbrochen.
Psytrance-Parties sind a-politisch. Sie verstehen sich als safe spaces. Das Leben für junge Menschen in Israel ist von vielen Spannungen geprägt. Da ist der 3-jähirige Militärdienst, welcher oft mit posttraumatischen Narben verbunden ist. Aber auch die gesellschaftlichen Spannungen nagen an den Nerven.
In Israel tobt ein Kulturkampf
In Israel tobt ein Kulturkampf. Die arabischen Israeli, die aus Nordafrika und Ländern des Nahen Ostens eingewandert sind, fühlen sich politisch unterrepräsentiert. Diese Lage hat Menachem Begin damals genutzt und konnte diese Bevölkerungsteile für die Cherut-Partei gewinnen. Später entstand aus dem Zusammenschluss mit der Liberalen Partei die nationalistische Likud-Partei. Die Parteien aus dem nationalistischen Spektrum bildeten eine Opposition zu der als elitär empfundenen Arbeiter-Partei, deren Politiker fast ausschliesslich dem aschkenasischem Judentum angehörten. Diese Verwerfungen treten insbesondere in der Debatte um die Justizreform offen zu Tage. Der Dancefloor ebnet diese Unterschiede ein. Hier tanzen jemenitische Juden mit Schäferlocken unbekümmert neben palästinensischen Israelis und russischen Juden.
Tanzen transzendiert das Korsett gesellschaftlicher Vorgaben. Die Party am 7. Oktober war ein Aufwärm-Event für ein riesiges Festival in Brasilien, das mehrere Tage über Silvester stattfindet. So waren auch viele ausländische Gäste in Re’im zugegen, als der brutale Todesrausch entfesselt wurde. Die Veranstalter der besagten Party veranstalten monatliche Zusammenkünfte (Gatherings) und wollen so einen Raum für Heilvolles schaffen: Yoga, Massagen und Klangtherapie. Die Raver tragen ihren Protest nicht auf die Strassen, wie dies in den letzten Tagen in Tel Aviv geschehen ist, als oppositionelle Kräfte die Regierung beschuldigt haben für das Platzen eines Geisel-Abkommens mitverantwortlich zu sein. Vielmehr ist zu hören: We will dance again.