Wie die Zisterzienser die Demokratie erfunden haben

Lesereise von Avignon nach Barcelona.

Die Zisterzienser-Abtei Sénanque in der französichen Provence ist nicht nur ein Juwel romanischer Baukunst, sondern war auch eine Brutstätte der Demokratie. Die Erneuerungsbewegung der Katherer hingegen wurde im Mittelalter als Ketzer verfolgt, verfemt und verbrannt. Die aufbruch-Lesereise in Kooperation mit cotravel machte Station an geschichtsträchtigen Orten. Ein kleiner Reisebericht.

Von Wolf Südbeck-Baur

In Avignon, dem mittelalterlichen Symbol „einer in ihre Macht verliebte und spirituell verlorenen Grosskirche“, fand Reiseleiter und aufbruch-Ehrenpräsident Erwin Koller gleich zu Beginn kritische Worte. Die Kirche hatte den Ruf nach Reformen an Haupt und Gliedern überhört. Stattdessen hatte sie sich aufgespalten in zwei, 100 Jahre später gar in drei Papsttümer. Dabei, so Koller, „stehen Gegenkonzepte sozusagen vor der Haustür“.

Abtei Sénanque

Entsprechend gross ist die Vorfreude unserer 21-köpfigen Reisegruppe auf den Besuch der Ikone der Provence, der Zisterzienser-Abtei Sénanque. In der abgelegenen, 1148 gegründeten Abtei mitten in der vom Lawendelduft verwöhnten Provence führt schon der staunende Anblick der romanischen Klosteranlage vor Augen, „welche Kraft in einem einfachen Christentum steckt: Es nimmt den Einzelnen in seiner Glaubensintuition ernst, stellt Macht infrage, verzichtet auf Symbole des Reichtums und bemüht sich, materiell und seelisch Bedürftigen unter die Arme zu greifen und Sinn zu stiften“.

Im Kapitelsaal des frisch renovierten Klosters berichtet Erwin Koller von den Ordens- und Lebensregeln der Abtei, die nach dem Modell der Zisterzienser vom Mutterkloster im burgundischen Cîteaux bemerkenswert demokratisch ausgestaltet sind. „Hier wurde die Demokratie für alle erfunden“, betont der Theologe. Auf ihrer Suche nach Einfachheit ist Demokratie für die Zisterzienser „die einzig vernünftige Weise, wie Menschen ihr Zusammenleben organisieren“.

Alle Fotos: © Wolf Südbeck-Baur

« Da kann man nur sagen, die Bischöfe kennen ihre eigene Kirche und ihre Geschichte nicht. »

Erwin Koller
Reiseleiter Erwin Koller (rechts)

Dabei nimmt Koller im Blick auf die heutigen Granden der römischen Kurie kein Blatt vor den Mund. Er hatte einst als TV-Moderator der Sternstunden Religion Kurienkardinal Kurt Koch im Studio zu Gast. Ging es um Menschenrechtsfragen und Demokratie, habe der frühere Bischof von Basel sogleich ausgerufen, die Kirche sei halt keine demokratische Einrichtung. „Da kann man nur sagen, die Bischöfe kennen ihre eigene Kirche und ihre Geschichte nicht“, ist Koller im Kapitelsaal von Sénanque voll in seinem Element. Und er wiederholt nochmal: „Wer hat die Demokratie erfunden? Das waren die Zisterzienser“, antwortet der Reiseleiter mit einem Schmunzeln in den Mundwinkeln gleich selbst.

Aufgrund dieses nachweislichen kirchenhistorischen Befunds schlussfolgert Koller, man müsse jedem Bischof in Erinnerung rufen, dass die Zisterzienser bereits 1115 in England zur ersten internationalen parlamentarischen Versammlung zusammengekommen waren. Aufgabe dieses Parliamentums oder Generalkapitels war es, Normen zu erlassen, zu ändern oder aufzuheben, die Wahl eines Generalabts und die Kontrolle seiner Macht und seiner Amtsführung. Wie heute in modernen Demokratien üblich hatte das Parliamentum der Zisterzienser schon vor 900 Jahren (!) demokratisch die Befugnis, den Abt abzusetzen, wenn er die Regel der Mönche missachtete. „Macht war verpönt!“ unterstreicht Erwin Koller mit spürbarer Begeisterung für solche menschendienlichen Normen „die ausserordentlich kühnen Regeln“.

« Es gilt das allgemeine Wahlrecht. Mehrheitsbeschlüsse sind verbindlich, und Leitungsgewalt kann delegiert werden. »

Erwin Koller

Gleichwohl aber hatte das Generalkapitel keine absolute Macht. „Einzelne Mönchsgemeinschaften können sich einem mehrheitlich gefassten Beschluss widersetzen, wenn sie den Sinn ihrer Opposition gut begründen können.“ Auch wurde die individuelle und kollektive Weigerung zugelassen, aus Gewissensgründen einer einzelnen Regel nicht zu folgen. „Es gilt das allgemeine Wahlrecht. Mehrheitsbeschlüsse sind verbindlich, und Leitungsgewalt kann delegiert werden“, referiert Koller umgeben von sandsteinbeigen Strebebögen über die Regierungsform der Zisterziensermönche. Ironie der Geschichte: Aufgrund ihrer exzellenten landwirtschaftlichen Fähigkeiten wurden die Zisterzienser reicher und reicher. Sie beherrschten vom 12. bis tief ins 14. Jahrhundert den europäischen Wollhandel. Doch ihr Reichtum besiegelt letztlich ihren Ruin. „Die zisterziensische Bescheidenheit war dahin“, resümiert Koller.

Etwa 100 Jahre nach dem ersten Parliamentum approbierte Papst Innozenz III. (1198-1216) die Regeln des wachsenden Zisterzienserordens. Innozenz handelte nach dem Grundsatz: „Was alle angeht, muss von allen besprochen und beschlossen werden.“ Dieses päpstliche Grundprinzip des Mittelalters harrt bis heute noch seiner Realisierung. Obwohl Innozenz III. als einer der besten Kirchenjuristen seiner Zeit und als entschlossener Reformer gilt, ging er doch auch als erbarmungsloser Ketzerjäger und Förderer der Kreuzzüge in die Geschichte ein. So erklärte Theokrat Papst Innozenz III. die Katharer wegen ihrer Ablehnung der Sakramente und ihres Dualismus – hier die Seele göttlichen Ursprungs, da der Körper teuflischen Ursprungs – zu Ketzern und Häretikern.

Burgruine Montségur, letzte Zuflucht der Katharer 1246

Die Folgen sind fürchterlich grausam. Der Papst beauftragt den Ritter Simon von Montfort, die Häresie, also die Katherer, auszurotten. Simon, ein militärisch genialer Haudegen, führt den Albigenser-Kreuzzug – die südfranzösische Stadt Albi ist eine ehemalige Hochburg der Katherer – mit gnadenlos und mit brennender Faust an. Sein Kreuzzug ist gepflastert mit weit mehr als 20000 Massakrierten in Bézier, Carcassonne, Limoux, Albi, Minerve und anderer Katherer-Orte. «In Lavaur lässt Simon von Montfort 400 Katharer verbrennen.» In Montségur, einer Katharer-Burg in den Pyrenäen, suchten etwa 400 Schutz und Zuflucht. 1246 wurden sie – Frauen, Kinder, Alte, Soldaten – just über diesen Pfad in den Feuertod getrieben. Zumindest für den Schreibenden wurde der Auf- und Abstieg zur Burg Montségur zu einer Art Gedächtnisweg angesichts des Leids, das die machtgewaltigen Päpste und ihre willfährigen Handlanger und Henker über die Katharer gebracht hat.

Wer aber genau sind die Katharer? Die Katherer sind eine christliche Reformbewegung und eine «authentische Gegenkraft zur Machtkirche Roms», sagt Koller, während wir inzwischen vor der atemberaubenden der einstigen Kathererhochburg Carcassonne stehen. Der Wind vom Mittelmeer her wirbelt unsere Haare durch die Luft.

Carcassonne

Bibeltexte wie jener aus dem Matthäus-Evangelium, nach dem «jeder gute Baum gute Früchte hervorbringt, ein schlechter Baum aber schlechte. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte hervorbringen und ein schlechter Baum keine guten» bringen die Katherer zum Schluss: «Der gute Gott kann nicht eine Welt geschaffen haben, in der sich so viel Böses manifestiert. Das Böse», so referiert Koller weiter, «muss also einen anderen Urgrund haben». Damit wichen die Katherer von der christlichen Lehre ab, «wonach das Böse aus bösen Taten hervorgeht, die Gottes Geschöpfe auf Grund ihrer Freiheit vollbringen».

«Dass einmal mehr versucht wird, neu aufkommende religiöse Bewegungen mit militärischer Gewalt niederzuringen, und dass am Ende nur Gewissensterror der Inquisition ihre starken Figuren zum Ersticken zu bringen vermag, ist ein Armutszeugnis und ein nicht entschuldbares Versagen der Kirche. »

Erwin Koller

Kollers Einordnung der Katherer: «Auch wenn die Katherer Abweichler sind, sind sie dennoch Christen und stellen anderen Christen die unbequeme Frage: Kann der gütige Gott eine Welt schaffen, von der er weiss, dass darin Böses aufkommen wird? Wer dazu nein sagt, muss auch viele andere Ding ablehnen. Die Katharer dämonisieren die Materie, was sich auf ihre gesamte Theologie und Ethik auswirkt.» Kollers Fazit: «Dass dem Papst nur ein Kreuzzug gegen die Albigenser einfällt, dass einmal mehr versucht wird, neu aufkommende religiöse Bewegungen mit militärischer Gewalt niederzuringen, und dass am Ende nur Gewissensterror der Inquisition ihre starken Figuren zum Ersticken zu bringen vermag, ist ein Armutszeugnis und ein nicht entschuldbares Versagen der Kirche. Gewalt ist ein Irrweg jeder Kirche und Religion.» Dem ist nichts hinzuzufügen.

Weitere Impressionen der Reise:

5 Gedanken zu „Wie die Zisterzienser die Demokratie erfunden haben“

  1. Die Kirche ist mehr als eine Demokratie, eine Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern, aber alle Errungenschaften der Demokratie sind selbstverständlich darin eingeschlossen. Was denn sonst?!

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  2. „Demokratie“ – Und dann?

    Das Problem dieses Aufsatzes liegt im Titel, doch nicht darin, ob die Zisterzienser diese erfunden haben oder nicht – nebenbei: haben sie nicht; die gab es schon im alten Griechenland.

    Das Problem sind auch nicht die Regularien der Abstimmung und die Befolgung von Beschlüssen, sondern worüber abgestimmt werden kann und will. Dies wird in diesem Artikel deutlich, wo angemerkt wird, Zitat: „Doch ihr Reichtum besiegelt letztlich ihren Ruin. ‚Die zisterziensische Bescheidenheit war dahin‘, … “

    Das Zitat von Erwin Koller führt mich direkt zu dem „Böckenförde-Diktum“: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

    Das war bei den Zisterziensern nicht anders.

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  3. Der Titel «Wie die Zisterzienser die Demokratie erfunden haben» könnte aktueller gar nicht gewählt werden! Denn auch bei der Kirche stellt sich die Frage drängender denn je, »Wie kann das allgemeine Priestertum der Gläubigen heute verwirklicht werden?» und wieso ist es in den kirchlichen Gemeinden und Organisationen nicht vorbildlich sichtbar und verwirklicht? Deshalb kann die Besinnung auf wichtige mittelalterliche Errungenschaften hilfreich sein. Alle sprechen vom Urknall und seinen Folgen, hier geschah ein innerreligiöser Urknall, und wir können uns über seine noch schwach sichtbaren Wirkungen nur wundern.

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