Lohnende Relektüre von Jürgen Moltmann

Theologe Jürgen Moltmanns kleine Schrift «Die ersten Freigelassenen der Schöpfung» ist nach 50 Jahren neu aufgelegt worden. Der Zürcher Theologieprofessor Ralph Kunz ist nicht nur von der eleganten Sprache des Visionärs Moltmann begeistert.

Von Ralph Kunz

Jürgen Moltmanns Schrift über die Freude an der Freiheit und das Wohlgefallen am Spiel feiert ihren 50. Geburtstag mit einer Neuauflage. Den schönen Titel, «Die ersten Freigelassenen der Schöpfung», hat sich der Autor von Johann Gottfried Herder ausgeliehen. Jürgen Moltmann knüpft an dieses Erbe an, wenn er fragt: Sind die Menschen freigelassene Geschöpfe? Im Gespräch mit den kritischen Herrschaftstheorien kommt er zu einem widersprüchlichen Befund. Nicht alle Menschen sind gleich frei – nicht alle spielen ein faires Spiel. Es ist komplizierter. Wer tritt ein für die Freiheit der Kranken? Wer macht sich stark für die Freiheit der Schwachen?

Wer sich die Mühe macht, das Büchlein zu lesen, stellt sich besser auf geistige Arbeit ein und wird reich belohnt! Es ist nicht nur die Schärfe und Klarheit der Gedanken, die beeindruckt. Moltmann pflegt auch eine elegante Sprache. Er schreibt schön. Form und Inhalt stimmen überein.

Was Jürgen Moltmann befeuert, ist die Freude an der Freiheit, was ihn begeistert, springt wie ein Funke auf die Leserinnen und Leser über. Vor allem aber spricht hier ein Visionär.


Was er zu sagen hat, trifft (immer noch) ins Herz unserer Zeit!

Jürgen Moltmann, Die ersten Freigelassenen der Schöpfung; durchgesehene, aktualisierte und ergänzte Auflage, Bernardus-Verlag Mainz 2021, 127 Seiten

Schaut man auf die Produkte der Selbsthilfeindustrie, die im Buchladen angepriesen werden, haben die Begriffe Freiheit und Freude einen hohen Marktwert. Wer sehnt sich nicht nach Erfüllung, Glück und Unabhängigkeit? Schon in der Einleitung seiner Schrift macht Moltmann klar, dass ihm an mehr gelegen ist.

«Wir müssen zu unterscheiden lernen zwischen den entfremdenden Formen eines nur scheinbaren Glücks und den befreienden Formen der Freude.» (S. 17)


Wann war das aktueller als heute? In der Kritischen Theorie findet Moltmann die Dialogpartner, um das falsche Spiel des Konsums zu entlarven. Wer den Spass sucht, um sich zu betäuben, steht noch im Bann eines Zwangs, flieht vor dem Unveränderlichen, ist ein Gefangener von Herrschaften, die wenig Interesse an der Befreiung zeigen. Anders als das nostalgisch rückwärtsgewandte Spiel, das Ablenkung vom Unveränderlichen verspricht, findet die Freude an der Freiheit, wer «spielend vorwegnimmt, was anders sein kann und was anders werden soll». (S. 30)

Jürgen Moltmann im Hospitalhof Stuttgart, Bild: Wikimedia Commons

Werden wir erst dann frei, wenn wir uns verändert haben? Vielleicht ist die politische Theologie, die sich mit dieser Moral einer Pflichtschuld seit den 1970er-Jahren zu Wort gemeldet hat, nicht ganz unschuldig an der geistlichen Austrocknung der Kirche. Das Pathos der Veränderung und der kulturpessimistische Furor der Weltverbesserer kann gehörig auf die Nerven gehen. Jürgen Moltmann ist zweifelsfrei ein Fürsprecher der politischen Theologie. Den Vorwurf, ein Spielverderber zu sein, kann man ihm allerdings nicht machen. Im Gegenteil! Die Begründung des befreienden Spiels führt ihn zur Schönheit Gottes, nicht zur angestrengten Selbstveränderung des Menschen, sondern zu seiner Verwandlung, die sich nach dem Wandel sehnt. Die Kraft der Veränderung ist in der Schöpfung angelegt, verdankt sich dem göttlichen Wohlgefallen, ist in sich und für sich ein Spiel, das keinem anderen Zweck gehorcht als dem, der kein Zweck mehr genannt werden kann, nämlich die Liebe zu erwidern, mit der sich Gott der Welt zuwendet. Das theologische Wort für diesen Kreislauf heisst Gnade. Aus dieser gnadenhaft zuvorkommenden und geschenkten Freiheit, Gottes Geschöpf zu sein, wächst zusammen mit der Lust, Gott zu geniessen, die Bereitschaft, die Verhältnisse der Welt in freien Werken zu verändern.

Jürgen Moltmann gelingt es, sich auf diese Mitte zu konzentrieren und zugleich die Weite, Tiefe und Höhe der kosmischen Dimensionen des Evangeliums in Erinnerung zu rufen. Für ihn ist die Christusmitte kein blutleeres dogmatisches Postulat. Es ist das prallgefüllte Leben, ein Born, aus dem quillt, was Gott gefällt. Nie wird das kitschig und nie gefällig, immer bleibt der Stachel, dass das noch nicht erfüllt ist, was uns aus der Fülle Gottes entgegenkommt. Nie wird das melancholisch oder misanthropisch, immer bleibt die trotzig-tröstliche Umkehrung der Hoffnung, die sich die Zukunft in die Gegenwart holt:

«Was von dieser Zukunft als Vorschein, Vorgeschmack und Vorspiel eines Ganz-Anderen in dieses sterbliche Leben hineinragt, das erst macht ja die Weltgeschichte als eine Leidensgeschichte erfahrbar und im Schmerz bewusst.» (S. 65)


Eindrücklich und eindringlich sind die Schlusskapitel des Buches, wo Jürgen Moltmann die Konsequenzen des Freiheitsspiels für die Kirche aufgezeigt. Wie sehr wünscht man sich, dass mehr von diesem Geist der Freude in ihr spürbar wird. Es ist vermutlich ganz im Sinne des Autors, wenn die Rezension der Neuauflage seines Büchleins mit diesem ewigjungen Wunsch schliesst – ihn und uns alle einschliessend: «Der Gott der Hoffnung aber erfülle uns mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass wir immer reicher werden an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.» (Röm 15,13)

3 Gedanken zu „Lohnende Relektüre von Jürgen Moltmann“

  1. Die Worte Wandel und Veränderung klingen so sehr nach Frustrationserlebnissen, erinnern vielleicht sogar daran, dass wir besser das Wort Entwicklung und seine Varianten verwenden sollten.
    Ansosnten: danke für den Kommentar, ich werde mir das Buch besorgen.

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    • Ich verstehe den Begriff Wandel (i.S einer Richtungsänderung) schon etwas anders als Entwicklung (i.S. weiter in der gleichen Richtung), vielleicht auch als Apostropierung der göttlichen Hoffnung – anders als der menschlichen.

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  2. Vielen Dank Ralph Kunz für den schönen Kommentar! Ja, dieses Kleinod von Jürgen Moltmann, vergessen von mir, obschon es damals wichtige Spuren bei mir hinterliess. So ist mir etwa die Stelle Röm 8,19, dass «die ganze Schöpfung sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der freien Töchter und Söhne Gottes wartet» als Navigationshilfe – ja: Vision – für meinen Glauben seither wichtig: das (riskante) Projekt Menschsein und Menschwerden, und welchen Stellenwert darin die dem Menschen gegebene Freiheit spielt (ich folge hier eher Erasmus als Luther, will bei meiner Relektüre schauen, ob und wie sich Moltmann dazu positioniert)! Schön, dass dieses Juwel nicht ganz vergessen ging, und nun neu aufgelegt wurde – nicht selbstverständlich in dieser schnellebigen Zeit mit ihren Eintags-Bücherfluten. Ich werde das Büchlein von meinem Estrich holen, wo es eingemottet wartet, um es mir nach Jahrzehnten nun nochmals vorzunehmen – danke für die motivierende Erinnerung!

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