Tabubruch mit Folgen

"Der Sprung aus der Sprachlosigkeit geht nicht ohne Schmerzen." Klaus Mertes SJ im Kolleg St. Blasien, das er leitet. (Foto: Vera Rüttimann)
„Der Sprung aus der Sprachlosigkeit geht nicht ohne Schmerzen.“ Klaus Mertes SJ im Kolleg St. Blasien, das er leitet. (Foto: Vera Rüttimann)

Klaus Mertes hat am Sonntag 16. März den diesjährigen Preis der Herbert Haag-Stiftung „Für Freiheit in der Kirche“ erhalten. Der Jesuitenpater machte vor vier Jahren einen der grössten Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche am Canisius-Kolleg in Berlin publik. Heute ist er Rektor des Kollegs St. Blasien. Ein Besuch.

Von Vera Rüttimann

Am Sonntag haben Sie in Luzern zusammen mit Erzbischof Albert Rouet den Herbert-Haag-Preis 2014 erhalten. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?

Der Preis bedeutet für mich eine Stärkung auf einem langen Weg. Es ist eine Stärkung aus dem Raum der Kirche, sozusagen von den „eigenen Leuten“. Das tut gut. Ein bisschen beschämt bin ich auch, weil ich weiss, dass nicht ich es war, der mit der Aufdeckungsarbeit begonnen hat, sondern die Opfer. Und weil ich auch weiss, dass ich ohne die Unterstützung vieler Mitbrüder und der Kolleginnen und Kollegen an unseren Schulen die Anstrengungen der letzten Jahre nicht durchgehalten hätte.

Was verbindet Sie persönlich mit der Person Herbert Haag, dem Namensgeber der Stiftung?

Herbert Haag war nie bloss ein Gelehrter, sondern hat sein Wissen für theologische Reflexion genutzt und sich in den kirchlichen Diskurs eingebracht, auch mit existentiellen Risiken. Er strahlte zeitlebens eine grosse Liebe zur Kirche und zur Theologie aus, so dass er für viele in meiner Generation gerade auch in dieser Haltung ein Vorbild war.

Die Herbert-Haag-Stiftung zeichnet Personen aus, die sich durch mutiges Handeln exponiert haben. 2010 thematisierten Sie in einem Brief an ehemalige Berliner Jesuitenschüler sexuellen Missbrauch durch zwei Patres, die als Lehrer und Seelsorger am Canisius-Kolleg tätig waren. Brauchte es für diesen Tabubruch Mut?

Dazu brauchte ich keinen Mut. Das war ganz klar, dass ich auf das Gehörte antworten musste. Und ich wollte es auch. Ich ahnte jedoch nicht, was für Folgen das über meinen kleinen Gesichtskreis hinaus haben würde.

Sie sagen: „Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt rütteln an den Grundfesten von Kirche und Gesellschaft“. Warum ist das so?

Der Missbrauch hat in der Regel zwei Aspekte: Das eine ist der Missbrauch des Einzeltäters und das andere ist die Rolle der Institution und des sozialen Umfelds, in dem diese Gewalt stattfindet. Wenn sexualisierte Gewalt aufgedeckt wird, kommt viel Unangenehmes zum Vorschein: Auch kirchliche Personalverantwortliche, die um die Dinge gewusst und Täter einfach versetzt haben. Menschen, die Symptome nicht richtig gedeutet haben. Und vielerorts gibt es noch immer ein nicht genügend entwickeltes Unrechtsbewusstsein gerade für diesen Aspekt des Missbrauchs.

„Sprechen durch Sein“: Ist es das, was Sie antreibt? Was bedeutet dieser Satz?

Was meine ich damit? Der Samariter sieht einen Menschen, der zusammengeschlagen worden ist. Dieser Mensch, der da am Wegesrande liegt, spricht zu ihm. Ohne Worte zu machen, einfach durch sein Sein. Das ist die kraftvollste Weise zu sprechen. Ein Säugling, der in Deinen Armen liegt, spricht zu Dir nicht Worte, sondern spricht durch das, was er ist. Ein Mensch spricht zu Dir durch das, worüber er sich tatsächlich freut oder woran er tatsächlich leidet oder was ihn zornig macht. Worte sind ambivalent: Worte können verschleiern, was ich wirklich bin und denke und Worte können öffnen für die Wirklichkeit. Dieses „Sprechen durch Sein“ ist mir deswegen so wichtig, weil ich glaube, dass Gott vor allem durch sein Sein und das Sein der Menschen spricht.

Inwieweit helfen Ihnen Ihre Erfahrungen aus dem Canisius-Kolleg-Berlin in St. Blasien?

Ich coache derzeit einen jungen Priester, der im Messdiener-Lager seiner Pfarrei gehört hat, dass Leiter mit Jugendlichen ekelhafte Nacktspiele veranstaltet haben. Nach der Aufklärung des Falls kam sofort die Frage nach der Nachsorge für die Opfer auf. Und das ist es, was wir aus 2010 gelernt haben: Nicht einfach nur die Täter aufdecken und bestrafen, sondern fragen: Wie haben die Kinder das erlebt? Wie informieren wir die Eltern?

Wo erkennen Sie Fortschritte?

Im deutschsprachigen Raum gibt es diesbezüglich eine höhere Sensibilisierung an den kirchlichen Schulen. Inzwischen suchen staatliche Heime bei uns nach Rat. Oder: Heute sprechen wir als Lehrer in der Schule intensiv über die Frage, ob das Verhältnis Nähe-Distanz noch stimmt, wenn Lehrer mit Schülern über Facebook befreundet sind. Alkoholmissbrauch unter Jugendlichen sehen wir auch viel sorgfältiger an als früher, weil er oft verbunden ist mit demütigenden Riten und Gewalt. Vor 2010 wären das noch keine Themen gewesen, die einen Schul- oder Internatsbetrieb so ernsthaft beschäftigen wie heute.

Vier Jahre sind vergangen, seit die Missbrauchs-Debatte ins Rollen kam. Woher kommt die seltsame Sprachlosigkeit unter katholischen Kirchenverantwortlichen?

Die Erschütterung des Anfangs verklingt. Aber ich bin ganz sicher: Es werden weitere Erschütterungen kommen. Der Sprung aus der Sprachlosigkeit geht nicht ohne Schmerzen- auch das führt immer wieder zu Sprachlosigkeit. Veränderung des Selbstbildes, Zugeben, dass man weggeschaut hat oder Dinge nicht richtig gedeutet hat – das ist nicht leicht. Plötzlich ist man eben nicht mehr auf der Opferseite, sondern man hängt auf der anderen Seite mit drin. Das sind seelische Prozesse, die Zeit in Anspruch nehmen, zumal auch oft eine reale Ohnmacht zu sprechen vorliegt, die stärker sein kann, als der individuelle eigene Wille. Das Aufbrechen von Schweigen hat immer etwas von Gnade – es kommt da etwas von Gott her auf uns zu.

Ich glaube übrigens, dass mit Papst Franziskus eine neue Chance gegeben ist, auf das Missbrauchsthema zuzugehen, weil er selbst am eigenen Leib aus der Zeit der argentinischen Militärdiktatur heraus erlebt hat, wie schwierig es ist, das Schweigen in einem System zu brechen, in dem Macht missbraucht wurde.

Wie haben die letzten Jahre Sie verändert?

Es war nicht leicht, mit den gehörten Geschichten der Opfer umzugehen und mit ihnen zu leben, bis heute. Ich musste auch den eigenen Heimatverlust verkraften. Mein Bild von Kirche, das ich hatte, war ja tief erschüttert worden. Auch frage ich mich: Wie kann ich das Vertrauen in bestimmte kirchliche Personen und Strukturen neu finden? Die Antwortet lautete und lautet in einigen Fällen: Es geht definitiv nicht mehr. Diesen Vertrauensverlust habe ich akzeptieren müssen.

Warum sind Sie trotz aller negativen Erfahrungen noch immer katholisch?

Ich habe Kraft geschöpft aus neuen Fragestellungen. Ich konnte mein katholisch-sein nicht mehr definieren durch die Erfahrung einer glücklichen katholischen Kindheit. Um die Kirche wieder zu lieben, habe ich mich ganz neu auf die Suche begeben nach positiven Kirchenerfahrungen. Ich habe auch die Kirche der Opfer entdeckt – diejenige von Menschen mit Gewalterfahrungen in der Kirche. Menschen, die sich zugleich ihre Kirchenzugehörigkeit nicht nehmen lassen und im Glauben Kraft finden. Ich habe eine unglaubliche Fülle von Zustimmung aus dem Raum der Kirche erhalten. Ich habe gemerkt: Ich bin ja gar nicht alleine! So ist es mir übrigens auch bei der Lektüre des Schreibens von Papst Franziskus „Evangelii Gaudium“ gegangen. Das spüre ich eine Nähe, die mich selbst überrascht. Jedenfalls: Ohne die Kirche hätte ich diesen Menschenreichtum in meinem Leben nicht. Gott erschliesst sich mir vor allem durch die Menschen. Dieses Grundvertrauen bleibt.

Papst Franziskus hat in den letzten zwölf Monaten mit seiner authentischen Art Sympathien bei jenen geweckt, die angesichts vieler Missbrauchsskandale resigniert haben. Macht es in diesen Tagen wieder mehr Freude, katholisch zu sein?

Sicherlich ist das Auftreten von Papst Franziskus – wie übrigens auch der Rücktritt seines Vorgängers – ermutigend. Endlich wird es lebendig in Rom. Und das tut gut. Eines der Probleme, mit denen viele Katholiken kämpfen, ist da dies, dass sie sich für Sätze ihrer Hirten schämen müssen. Denken Sie nur an die letzte Äusserung des Kölner Kardinals, für die er sich nur halbherzig entschuldigt hat: „Eine Familie von euch ersetzt mir drei muslimische Familien.“ Allein schon dieses „mir“! Da erkenne ich den ekklesiologischen Narzissmus in personalistisch zugespitzter Form – eine verbreitete geistliche Krankheit in der gegenwärtigen Hierarchie. Insofern ist Franziskus wirklich ein Grund zur Freude. Er hat begriffen, dass sie Kirche mit der Sorge um sich selbst nicht nur nicht weiterkommt, sondern geistlich verödet.

Sein Anspruch ist revolutionär: Der Papst Franziskus will frischen Wind in die starr gewordene katholische Kirche bringen. Hat er verlorenes Vertrauen in die katholische Kirche zurück gewinnen können?

Bei mir ja. Aber ich will dem Mann in Rom aber auch nicht die ganze Verantwortung darüber anlasten, ob ich mich an meiner Katholizität freuen kann oder nicht. Und das ist sicherlich in seinem Sinne.

Die Medaille der Herbert-Haag-Stiftung zeigt auf der einen Seite einen in die Freiheit fliegenden Vogel, auf der Rückseite steht das Psalmwort:

„Das Netz ist zerrissen, und wir sind frei“. Was bedeutet ihnen dieser Satz persönlich?

Ich kombiniere ihn mit Hans Küngs Satz: „Erkämpfte Freiheit ist besser als geschenkte Freiheit.“ Die Frucht der vielen inneren und äusseren Kämpe ist Freiheit. Daran kann man dann auch erkennen, dass der Kampf gut ist.

Zur Person

Der Jesuiten-Pater Klaus Mertes, Jahrgang 1954, brachte Anfang 2010 als Rektor des katholischen Gymnasiums Canisius-Kolleg in Berlin den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche ins Rollen. Seit 2011 ist der Autor mehrerer Bücher und Chefredakteur der Zeitschrift „Jesuiten“ Rektor des Kollegs St. Blasien im Schwarzwald.

Buch-Tipps

Verlorenes Vertrauen. Katholisch sein in der Krise. Herder Verlag 2013.

Widerspruch aus Loyalität. echter Verlag 2009.

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