Tischah be Aw – Tag des Gedenkens der Zerstörung des Tempels in Jerusalem

Gedanken von Pfr. Andreas Schwendener, Präsident CJA St. Gallen und Gefängnisseelsorger nach einem Online-Kursabend mit Dr. Breslauer zum Gedenktag der Zerstörung der beiden Tempel in Jerusalem

Hier meine Gedanken zum Tempel in Jerusalem, der 586 v. Chr. von den Babyloniern und dann wieder im Jahr 70 nach Chr. von den Römern zerstört worden ist. Nach einer dreiwöchigen Trauerzeit wurde am 30. Juli (der neunte Tag des Monats Aw im jüdischen Kalender) der Zerstörung des Jerusalemer Tempels gedacht … wobei meines Wissens heute nur ein kleiner Teil der Juden dem Tempel nachtrauert, geschweige denn, von einem dritten Tempel träumt. Die Idee eines zentralen Kultplatzes für ganz Israel in Jerusalem war über Jahrhunderte eine identitätsstiftende Institution. Auch Jesus pilgerte mit seiner Familie regelmässig zu den grossen Festen nach Jerusalem, wo sich das Volk aus allen Stämmen traf. Wie auch bei anderen Völkern diente das Heiligtum auf dem Tempelberg dazu, Gottes Gegenwart unter den Menschen durch ein kunstvolles Gebäude erlebbar zu machen. Die Priesterschaft trug das ihre dazu bei, verständliche Traditionen für den Umgang mit dem einen Gott vorzuzeichnen. Dazu gehörte der Opferkult, wie er damals rund um die Welt gepflegt wurde … und uns heute sehr fremd geworden ist.

Kritische Stimmen zum Opferkult gab es jedoch schon bei den Propheten: Gott freue sich nicht an Blut, sondern an Gerechtigkeit.

Mit der Zerstörung des Tempels durch Titus im Jahr 70 n. Chr. mussten sich Juden, die zudem bald in alle Welt vertrieben wurden, eine neue Identität geben … das Opfer viel weg. Es entstand die Synagoge, in der die Lehre, die Verkündigung und die Auslegung der Schrift das Opfer ersetzt hat. Wichtig blieb die Gemeinschaft, das Zusammenkommen angesichts der Schrift. Die Thorarolle nahm jetzt den zentralen Platz ein – im früheren Tempel war es das Allerheilige, wo die Bundeslade aufbewahrt wurde, die Tafeln mit den 10 Geboten.

Leib, Seele und Geist

Seit der Zerstörung des Tempels gibt es eine gegenseitige Beeinflussung von Christentum und Judentum, später kam der Islam dazu, der den Koran als letzte und intimste Offenbarung Gottes verehrt. Die neue religiöse Literatur der Christen, die Evangelien und die Paulusbriefe, bedenken die Zerstörung des Tempels sehr wohl und bringen plausible Alternativen, die auf Jesus selbst zurück gehen könnten, aber auch altes universelles Weisheitsgut aufgreifen – nämlich die universelle Lehre, wonach ein Tempel Abbild der Vielschichtigkeit des Kosmos wie auch des Menschen sein will. Da gibt es äussere Bezirke, allen zugänglich, dann innere Orte, wo im Jerusalemer Tempel Ursymbole wie der siebenarmige Leuchter oder die 12 Schaubrote oder das Eiserne Meer standen, und dann das Allerheiligste, der Ort der Bundeslade, wo nur einmal im Jahr der Hohe Priester seinen Dienst verrichtet hat und mit Gott kommuniziert wird. Auch jeder Mensch hat diese Schichten und Ebenen: Leib, Seele und Geist.

«Zerstört den Tempel, und ich werde ihn in drei Tagen neu aufrichten».

Unter anderem wegen dieser Aussage wurde Jesus der Gotteslästerung angeklagt – gemäss Evangelium. Die Opfersymbolik wie auch jene des Tempels wurde im Neuen Testament auf Jesus, den Gesalbten, bezogen. Das war selbst für Juden attraktiv. Wir brauchen keine Opfer mehr, denn Jesus hat sich stellvertretend für alle geopfert, und wir brauchen keinen Tempel mehr, denn er – der Repräsentant und Vollender der Menschheit – ist selber der neue Tempel. Nur er? … «Vergisst nicht, dass ihr Tempel Gottes seid, und der Geist Gottes in Euch wohnt» schreibt Paulus. Ja, wir alle sind der Tempel Gottes, in dessen Allerheiligstem der Austausch mit Gott stattfindet, nicht nur einmal im Jahr, sondern allzeit. Darüber sprach ich heute bei der Besinnung in der offenen Strafanstalt Saxerriet.

Ich versuche mein Gebet zu rekonstruieren für ein breiteres Publikum:

Himmlischer Gott, du hast uns in den Tempeln der Völker ein Zeichen gegeben,
dass du mitten unter uns leben und wirken willst.
In Traditionen und Riten hast Du uns gezeigt, wie wir dir gefallen können, durch Opfer, Andacht, Hingabe und Gebet.

Nun aber lass uns sehen, wie wir alle Tempel für Deinen Geist sind und werden können.
Wir opfern Dir unser ganzes Leben, das von Dir kommt – Dir soll es gehören,
Mache uns zu Deinem Eigentum, wir geben uns in Deine Hände.

Wir danken Dir dafür, dass Du uns reicher und wunderbarer als alle früheren Tempel
ausgestattest hat als Ebenbild Deiner Gottheit, als Abbild des Kosmos, der Schöpfung.
Helfe uns, dieses unser Gotteshaus würdig zu pflegen, rein zu halten,
und im Allerheiligsten, in unserm Kern, mit Dir in Verbindung zu bleiben, allzeit.

Trete ein in unser Herz, läutere es, dass wir Dich kennen und mit Dir leben.
Lass uns auch an diesem Ort Deine Grosszügigkeit leben,
dass wir andere nicht verachten oder verurteilen, sondern alle als Deinen Tempel sehen.

Sende Deinen Geist aus in unsere Herzen, den Ort des Allerheiligsten.
Lass uns im Alltag Deine Kraft und Liebe weitergeben,
und unsern Platz in der Gesellschaft finden. Amen

Noch ein Nachwort zur Apokalypse, in der von einem himmlischen Tempel die Rede ist. Das wird kein Tempel aus Stein sein. Menschen machen ihn aus, alle tragen das ihre dazu bei.

Pfarrer Andreas Schwendener, Präsident der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft CJA St. Gallen, Gefängnisseelsorger

www.juedisch-christliche-akademie.ch

 

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