Grüne Hänge, friedliche Schweizer Bauernhöfe und ein fast 60 Jahre vergessener Amateurfilm – darauf zu sehen: eine lächelnde Frau mit ihren Freunden. Ihr Name ist Svetlana. Sie ist Stalins Tochter. Sie wirkt entspannt, doch sie hat Angst, denn sie ist aus ihrer Heimat, der Sowjetunion, geflohen. Mit diesen Eindrücken beginnt Geboren Svetlana Stalin, eine aussergewöhnliche Dokumentation, die sich collagenartig der vielschichtigen Lebensgeschichte von Svetlana Allilujewa widmet – der einzigen Tochter Josef Stalins. Gabriel Tejedor nutzt eine visuell beeindruckende Mischung aus Animationen, Archivmaterial und Zeitzeugeninterviews, um die bewegte Biografie einer Frau zu erzählen, die ein Leben lang zwischen den Extremen schwebte: 40 Jahre „oben“, als Tochter eines der mächtigsten Männer der Welt, und 40 Jahre „unten“, geprägt von Rastlosigkeit, Einsamkeit und Armut.
Eine Filmkritik von Anna K. Flamm
Was den Film besonders macht, ist sein Fokus auf der Person Svetlanas. So gelingt es Gabriel Tejedor, Swetlanas Leben in seiner Gesamtheit zu erzählen und sie nicht nur als Tochter Stalins, sondern als eigenständige Persönlichkeit auch jenseits von politischer Symbolik darzustellen.
Handlung und Kontext
Von der kleinen „Chefin“, die als Papas Liebling einem der mächtigsten Männern seiner Zeit Befehle erteilt, über die heranwachsende Intellektuelle und freiheitssuchende Bestsellerautorin bis hin zur alten, einsamen Sozialhilfeempfängerin zeichnet Geboren Svetlana Stalin ein turbulentes Leben nach. Im Mittelpunkt steht dabei Svetlanas spektakuläre Flucht aus der Sowjetunion. Im März 1967 wagte sie einen entscheidenden Schritt: Unter dem Vorwand, die Asche ihres verstorbenen indischen Lebensgefährten im Ganges zu verstreuen, gelingt es ihr, ihre Aufpasser zu überlisten und in Neu-Delhi die US-Botschaft aufzusuchen, wo sie Asyl beantragt. Dies markiert einen Wendepunkt in ihrem Leben: Sie verlässt nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihre beiden Kinder, um sich von der sowjetischen Vergangenheit und dem übermächtigen Schatten ihres Vaters zu befreien.
Doch ihre Flucht stellt nicht nur einen persönlichen Akt der Befreiung dar, er entfaltet auch geopolitische Sprengkraft: Mitten im Kalten Krieg, während die USA und die Sowjetunion über ein Atomabrüstungsabkommen verhandeln, sorgt Swetlanas Übertritt in den Westen für Aufsehen und Befürchtungen, die fragile Annäherung der Supermächte könne gefährdet werden: Svetlana wird also auf neutralem Boden, in der Schweiz, versteckt.
Dort lebt sie unter anderem bei Nonnen im Kanton Freiburg, um der Verfolgung durch die Weltpresse und den KGB zu entgehen. Am 21. April 1967 reist sie schliesslich unter falschem Namen in die USA weiter. Aber auch dort bleibt ihr Leben ein rastloses: Die einstige „Kreml-Prinzessin“ wird nirgendwo heimisch, weder im Westen noch bei ihrer kurzzeitigen Rückkehr in die Sowjetunion in den 1980er-Jahren. Ihre letzten Jahre verbringt sie verarmt und einsam in einem Pflegeheim in Wisconsin, wo sie 2011 stirbt.
Filmische Umsetzung
Gabriel Tejedor setzt auf eine collagenartige Erzählstruktur, die durch ihre Vielseitigkeit besticht. Die Kombination aus seltenen Archivbildern, einfühlsamen Animationen und berührenden Zeitzeugenberichten erlaubt es dem Zuschauer, sowohl die äusseren als auch die inneren Konflikte Svetlanas nachzuvollziehen. Die Animationen verleihen dem Film eine poetische Note und betonen die emotionale Dimension der Geschichte, während das historische Material die geopolitischen Spannungen greifbar macht. Diese fragmentarische, aber dennoch präzise Struktur spiegelt die Zerrissenheit von Swetlanas Leben wider und verleiht dem Film eine eindringliche Intimität.
Thematische Schwerpunkte
Es wird deutlich: Svetlanas Leben ist geprägt von Extremen – von der privilegierten Kindheit als Tochter eines Diktators bis zu den letzten Jahren in Armut und Isolation. Der Film zeigt eindrucksvoll, wie sie sich zeitlebens gegen das Vermächtnis ihres Vaters auflehnt, indem sie seinen Namen ablegt und den Mädchennamen ihrer Mutter, Allilujewa, annimmt. Doch ihre Flucht aus der Sowjetunion bringt ihr nicht die ersehnte Freiheit, sondern führt zu einem Leben in ständiger Bewegung, gejagt von der Vergangenheit und der Öffentlichkeit. Das zentrale Thema des Films: Svetlanas Suche nach Identität und Selbstbestimmung. Wer will sie sein, wenn nicht Stalins Tochter? Tejedor gelingt es, eben diese Frage mit Feingefühl zu beleuchten und Svetlana in den Mittelpunkt zu rücken – nicht als Symbolfigur des Kalten Krieges, sondern als vielschichtige Person mit einer Menge innerer Kämpfe, als Mutter und Mensch mit Träumen, Ängsten und einer tiefen Sehnsucht nach Freiheit und Frieden.
Fazit
Gabriel Tejedor ist mit Geboren Svetlana Stalin ein beeindruckendes Porträt einer Frau gelungen, die zeitlebens um Freiheit und Selbstbestimmung kämpfte und dennoch nie zur Ruhe kam. Er schafft es, die 40 Jahre des privilegierten Lebens in der sowjetischen Elite ebenso eindringlich darzustellen wie die 40 Jahre der Entwurzelung und Einsamkeit. Mit seinem collagenhaften Aufbau und seinem Fokus auf Svetlana als Mensch gelingt dem Film ein kraftvolles und berührendes Werk, das nicht nur ihre Lebensgeschichte nachzeichnet, sondern auch die Komplexität der menschlichen Suche nach Identität und Frieden einfängt. Ein Film, der nachwirkt.
Geboren Svetlana Stalin ist seit dem 21. November in der Kinos der Deutschschweiz zu sehen. Unter anderem im:
Kult. Kino Atelier in Basel
Stattkino in Luzern
Kinos in St. Gallen
Frame Cinema in Zürich
Kinocenter in Chur
Kino Cameo in Winterthur
Kino Cinématte in Bern
Cinema Luna in Frauenfeld
Kino Roxy in Romanshorn