Wenn Texte Visionen beflügeln

 

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aufbruch-Redaktorin Martina Läubli diskutiert mit Alfred Bodenheimer, Hildegard Keller und Andreas Mauz, v.l. (Foto: wsb)

Egal ob literarische oder heilige Texte, Merkmal ist die Gotteserkenntnis, die aus den Texten sprechen muss, um sie als „religiös“ bezeichnen zu können. Doch nicht alle auf dem Podium im Basler Literaturhaus teilten diese Meinung von Literatur-Expertin Hildegard Keller.  In der Reihe „Wechselwirkungen. Gespräche über Gott und die Welt“ ging es Ende Oktober um Religion und Literatur. Die Gesprächsreihe wird neben dem aufbruch vom Basler Forum für Zeitfragen, vom Literaturhaus und von katholisch bl.bs. organisiert.

Von Wolf Südbeck-Baur

„Ein wesentliches Merkmal eines religiösen Textes ist es, wenn Gotteserkenntnis im Zentrum steht“, betonte Hildegard Keller. Beim Podiumsgespräch in der Reihe „Wechselwirkungen. Religion und Literatur“ hob die einem breiten Publikum aus dem Literaturclub im Schweizer Fernsehen bekannte Germanistin zudem den Genderaspekt hervor. So hätten Männer im Mittelalter zum Beispiel bei der Auslegung des alttestamentlichen Hohen Lieds der Liebe anders als die Frauen einen kognitiven Weg beschritten, indem die universitäre Zunft der Theologen fragte, was Kirchenväter wie Augustinus, Cyprian oder Ambrosius dazu gesagt haben. Frauen hingegen hätten andere Zugangswege zum Hohen Lied gefunden, zumal ihnen die Pforten der Universität verschlossen blieben damals. Für Hildegard von Bingen,  Mechthild von Magdeburg oder Hadewijch beispielsweise stand nicht theologische Gelehrsamkeit , sondern die „Erfahrung des Sich-Verschlingen-Lassens“  von Gottes Präsenz im Mittelpunkt. Weibliche Autoren nehmen so in Anspruch, „Posaune Gottes“ oder „Sprachrohr Gottes“ zu sein.

Genderaspekt unbedingt berücksichtigen

Der jüdische Religionshistoriker und Literaturkenner Alfred Bodenheimer konzidierte zwar, dass der Genderaspekt beim Verständnis und der Exegese religiöser Texte und Schriften „unbedingt“ zu berücksichtigen sei. Zugleich unterstrich der Basler Professor aber, dass aus seiner Sicht der Referenztext, der jüdische Talmud, als unhintergehbare Grösse zu beachten sei. Freilich sei dies eine völlig andere Herangehensweise an heilige Texte und eröffne andere Verständnishorizonte. Insofern sei der Talmud, die bedeutendste Schriftensammlung des Judentums, ein Gegenbeispiel zum Hohen Lied.

Sind folglich heilige Schriften und Texte wie die Bibel heute unantastbar?, spielte Moderatorin und aufbruch-Redaktorin Martina Läubli den Ball zurück. „Wir wissen“, antwortete Andreas Mauz, „dass die Bibel ein gewordenes Buch ist“. Für diese Einsicht hätten Säkularisierung und die Methoden der historisch-kritischen Bibelexegese gesorgt, erklärte der Oberassistent am Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie an der Uni Zürich. Kommt es also doch auf die Leseerfahrung und weniger auf die Herkunft eines religiösen Textes an? Zwar könne man nicht davon abstrahieren, so Mauz, dass beispielsweise ein Bibeltext ein heiliger Text sei, doch eine ebenso wichtige Rolle spiele der zeitgenössische und gesellschaftliche Kontext, in deren Zusammenhänge auch religiöse und heilige Texte gelesen und gedeutet werden müssten. Alfred Bodenheimer  pflichtete bei. Der jüdische Religionsgeschichtler, der mehrere Monate des Jahres jeweils in Israel verbringt, verdeutlichte diese Rahmenbedingung  jeder Lektüre heiliger Texte mit dem Verweis darauf, dass etwa ein biblischer  Psalm je nach geographischem Ort, an dem er gelesen wird, in einem anderen Kontext erscheine und eine andere, in Israel bisweilen eine nationale Bedeutung erhalte.

Reaktionen auf den Urgrund des Lebens

Ergänzend hob Hildegard Keller, die Literatur an der Uni Zürich und  an der Indiana University Bloomington doziert, die kulturellen Unterschiede hervor, die Einfluss auf die Leseerfahrung hätten. So beobachte sie, dass die Amerikaner religiösen Menschen respektvoll begegneten, da sie niemanden in seiner Religiosität verletzen wollten. In Zürich hingegen sei es zumindest in akademischen Kreisen mehr oder weniger verpönt, eine offene Debatte über Religion und religiöse Texte zu führen. Die quirlige Literaturexpertin bekannte am Ende der Diskussion unumwunden: „Mich fesseln mittelalterliche Texte etwa von Hildegard von Bingen, weil sie Idealutopien und Visionen bereit halten.“ Diese Texte böten Raum, „in dem mein Denken angestachelt und Reaktionen auf den Urgrund des Lebens provoziert werden“.

Selbstredend lässt sich diese  Offenheit für Reaktionen auf den Urgrund des Lebens auf die Lektüre unterschiedlichster Textarten übertragen.

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