Wir brauchen tiefgreifende Reformen

Erklärung zu den Missbräuchen in der Katholischen Kirche

© epd-bild / J.W.Alker

Irland, Deutschland, Frankreich, USA, Australien, Südamerika, Afrika und auch die Schweiz: Weltweit, systematisch, gedeckt und verdrängt in einem System des Schweigens und Vertuschens überstürzen sich die Missbrauchsskandale. Hochrangige Kardinäle wie George Pell (Australien) oder Theodore McCarrick (USA) wurden wegen sexuellem Missbrauch von der Justiz verurteilt, Kardinal Philippe Barbarin (Frankreich) wegen Vertuschung.

Es ist genug!

Und nun dies. Die Dokumentation über „Gottes missbrauchte Dienerinnen“, vom Kultursender Arte und dem Schweizer Fernsehen SRF ausgestrahlt, lässt uns fassungslos zurück. Ordensschwestern wurden jahrelang von Priestern und kirchlichen Vorgesetzten missbraucht – sexuell und geistlich-spirituell. Auf allen Kontinenten. Höhepunkt dieses Verbrechens ist die Behauptung der Täter, dies im Namen Jesus getan zu haben. Zuletzt noch der Missbrauch von gehörlosen Schülern im Institut Provolo in Verona (Rundschau vom 27. März 2019). Als Katholikinnen und Katholiken und als Synodale der Römisch-katholischen Körperschaft des Kantons Zürich sind wir tief betroffen von den Ereignissen, die einen radikalen Wandel an Kopf und Gliedern innerhalb der Kirche einfordern.

Der Schrei der Opfer lässt uns nicht länger schweigen, weil Schweigen mitschuldig macht. Jedes Opfer ist eines zu viel. Ein System von Klerikalismus, das systematisch immer wieder neue Opfer schafft, muss endlich und unwiderrufbar überwunden werden.

Wir wehren uns auch, weil die Glaubwürdigkeitskrise der Katholischen Kirche uns alle trifft: Geistliche aufrechten Ganges, Gläubige in den Pfarreien und Kirchgemeinden, katholische Institutionen und staatskirchenrechtliche Körperschaften.

All das Gute, was engagierte Menschen in der Katholischen Kirche und der ganzen Gesellschaft bewirken, wird durch den unfassbaren Missbrauchsskandal übertönt und gerät ins Abseits der öffentlichen Wahrnehmung. Nur dadurch, dass wir diese krankhaften Machenschaften öffentlich anprangern, können wir uns aus deren Geiselhaft befreien.

Kopernikanische Wende notwendig

Ja, wir benötigen eine kopernikanische Wende und tiefgreifende Reformen in der Katholischen Kirche.

Das Gipfeltreffen zu den Missbräuchen vom Februar 2019 in Rom war ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Darin unterstützen wir Papst Franziskus und erwarten, dass konkrete Reformschritte als Konsequenz dieses Treffens rasch erfolgen.

Auch die Bemühungen und Massnahmen der Schweizerischen Bischofskonferenz tragen zur institutionellen Umkehr bei.

Wir sind jedoch überzeugt, dass damit das Übel noch längst nicht mit der Wurzel ausgerissen ist. Weitere Schritte müssen in hoher Dringlichkeit folgen.

  • Unabdingbar ist, dass alle fehlbaren Priester und Mitarbeitenden in der Kirche in Zukunft der weltlichen Justiz zuzuführen und generell vom Kirchendienst auszuschliessen sind. Solche weltweit geschehenen Übergriffe stellen ferner grundlegende Fragen an das bisherige dogmatische und männerfixierte Hierarchiebild der Kirche und an das Verharren in kirchlichen Machtstrukturen und kirchenrechtlichen Traditionen. Nach solchen Vorfällen auf oberster Hierarchiestufe ist es schwer zu verstehen und zu akzeptieren, dass Exponenten der Kurie und verschiedene Bischöfe auf unveränderliche Kirchengesetze mit „einem göttlichen Recht“ verweisen. Auch im Wissen, dass im Verlauf der Kirchengeschichte durchaus andere Sichten vorhanden waren. Insbesondere dort, wo Jesus die Rangfolge solcher Hierarchien radikal auf den Kopf stellte: «Der Grösste von euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden» (Matthäus 23, 11-12). Dieses Leitmotiv steht quer zum subtilen und internalisierten Gehorsamsdiktat, welches über Jahrhunderte praktiziert wurde und in der Dokumentation über missbrauchte Ordensschwestern tragisch zum Vorschein kommt.
  • Es ist ferner nicht nachzuvollziehen, wieso sich die Kirche nicht in Richtung einer echten und gleichwertigen Partnerschaft zwischen Mann und Frau entwickeln sollte. In den Berichten der Bibel über die ersten christlichen Gemeinden lesen wir von Frauen, die eine führende Rolle eingenommen haben. Maria Magdalena wird als Apostelin verehrt. Auch im Mittelalter bis in die frühe Neuzeit übten gewisse Äbtissinnen geistliche Vollmacht aus.
  • Beispielsweise hatte die Äbtissin in der Zisterzienserinnen-Abtei Las Huelgas bei Burgos (12. Jh.) in Spanien nicht nur bischöfliche Rechtsprechungs-Vollmacht, sondern sie nahm auch liturgische und sakramentale Handlungen vor. Die einflussreichste Persönlichkeit der Kirche im alten Zürich war die Äbtissin vom Fraumünster. Über die Jahrhunderte wurde der Einfluss der Frauen aber immer weiter zurückgedrängt, die katholische Kirche wurde zur alleinigen Männerkirche, der Klerus eine abgeschottete Kaste nur von Männern. Auch dieses Thema der Kirchengeschichte soll nicht weiter unterdrückt und verschwiegen werden, weil es durchaus Relevanz zu den aktuellen Missbrauchsfällen hat. Es ist höchste Zeit, dass diese patriarchale Struktur in der Kirche aufgebrochen wird, dass wir endlich zu einem gleichberechtigten Miteinander der Geschlechter kommen.
  • Schliesslich bleibt die Frage des Zölibats. Eine Frage, welche die Kirche seit dem Urchristentum bis heute bewegt. Wer bei den Urchristen ein Bischofsamt anstrebte, war verheiratet (1. Timotheus 3.1 – 5). Im hohen Mittelalter wurde in der Westkirche im Zuge der Kirchenreformen des 11. Jahrhunderts der Pflichtzölibat für alle Priester als zwingende Zutrittsbedingung für das kirchliche Amt per Kirchengesetz durchgesetzt.

Letzteres hinderte jedoch nicht daran, dass durch alle Jahrhunderte der Zölibat immer wieder durchbrochen wurde (z. B. Zeit des Konzils von Konstanz, Renaissancezeit, versteckte Priester-Beziehungen in der Neuzeit).

Freiwillig gelebte Ehelosigkeit würde als prophetisches Zeichen der Hingabe an die Verkündigung des Evangeliums als viel wertvoller wahrgenommen werden als der seit fast 1000 Jahren vorgeschriebene Pflichtzölibat der Kleriker. Weil jeder Bruch des Zölibats nicht nur zu erheblichen negativen Folgen für die Betroffenen (Kleriker und Partnerin) führt, sondern auch immer wieder neu die Glaubwürdigkeit der Kirche beschädigt. Was als Gesetz einmal eingeführt wurde, kann auch wieder abgeschafft werden. Es ist an der Zeit.

Wir hoffen mit dieser Erklärung Gehör zu finden, bei Katholikinnen und Katholiken und der kirchlichen Hierarchie, aber auch in der Gesellschaft. Es geht uns nicht um die Anklage einzelner Verantwortungsträger. Unsere Erklärung ist viel mehr Ausdruck unserer dringenden Sorge um zeitnahe und tiefgreifende Veränderungen unserer Kirche.

 

Geschäftsleitung der Synode der Römisch-katholischen Körperschaft des Kantons Zürich

Referent: Felix Caduff, Vizepräsident

 

5 Gedanken zu „Wir brauchen tiefgreifende Reformen“

  1. Wichtig scheint mir, dass wir Katholik*innen uns der subtilen Macht des spirituellen Missbrauchs (z.B. durch Klerus, Katechese, Institutionen, Familie u. a.), von welcher vermutlich die meisten von uns in irgendeiner Form betroffen sind, bewusst werden und wir miteinander über diese spirituellen Missbrauchs-Erfahrungen ins Gespräch kommen. Der Austausch kann vielleicht dazu beitragen, die verletzenden Ausdrucksformen (Machtzuschreibungen und Machtentzug, spirituelle und psychische Vereinnahmung, die Bemächtigung durch Dogmen und Sakramente u.a.) besser zu erkennen und dadurch auch die stärkenden Formen wieder unbeschwerter wertschätzen zu können. Lesenswert dazu ist das Buch ‚Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche‘ von Doris Wagner (2019).

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  2. Tut um Himmels Willen etwas Tapferes – die vorliegende Stellungnahme lässt am entsprechenden Willen keinen Zweifel mehr aufkommen, bravo!

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  3. Ich kann jedem Wort der Geschäftsleitung der Synode der Römisch-katholischen Körperschaft des Kantons Zürich zustimmen. Eine Reformation ist dringend nötig wie damals im 16. Jahrhundert. Da ich Protestant bin, fällt es mir schwer, hier mitreden zu wollen. Ich tu das nicht als Besserwisser, sondern als einer, der mit meiner Schwesterkirche mitleidet. Ich habe mir vorgestellt, was diese Forderungen für Folgen für die Römisch-katholische Kirche hätte, würden sie konsequent umgesetzt. Es wäre der Abschied von einer Kirche, die sich als Weltkirche betrachtet. Sie würde dem Ökumenischen Weltkirchenrat beitreten als eine von 350 Mitgliedkirchen und somit ihren Anspruch, einzige Heilsvermittlerin zu sein, aufgeben. Vermutlich würde sie in mehrere Kirchen zerfallen, was ihre Macht beschneiden würde. Aber auch ihren Machtmissbrauch. Es ist kein Skandal, wenn es mehrere Kirchen gibt. Klerikale Macht hingegen führt zu all dem, was jetzt öffentlich gemacht worden ist. Das 2014 erschienene Buch von Doris Wagner NICHT MEHR ICH, die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau, empfinde ich als Pflichtlektüre für alle, die in hierarchischen Strukturen leben (auch in nicht-kirchlichen).
    Paul Kohler, 4133 Pratteln

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  4. Der Referent, Vizepräsident Felix Caduff, hat nichts ausgelassen. Die Frage ist nur, was an Stelle der katholischen Kirche treten soll. Mir scheint, dass er besser eine neue Denomination gründet, hat er dazu nicht in Zürich ein immer noch lebendiges Vorbild, den Huldrich Zwingli?

    Eine Kirche der Anständigen muss neu kommen, sonst stehen ständig Abgrenzungen gegen Altlasten ins Haus.

    Auf eines aber würde ich auch bei Felix Caduff Wert legen, nämlich dass sauber unterschieden und argumentiert würde.

    Ich habe die Vorgänge um George Pell (Kardinal) und Theodore McCarrick (Exkardinal) genau verfolgt. Für Pell gibt es starke Anzeichen, dass er fälschlich beschuldigt worden ist. Sein Urteil ist noch nicht rechtskräftig, er geht in die Revision.

    Das Eigentümliche an seinem Prozess ist, dass von den beiden „Missbrauchsopfern“ das eine einen Missbrauch verneint und dies zu Protokoll gegeben hat, leider vor Prozessbeginn verstarb. Das andere „Opfer“ (inzwischen längst erwachsen) bleibt bei seiner Darstellung, nahm jedoch nur als Videobefragung am Prozess teil, heißt: der Ankläger stand dem Angeklagten nie gegenüber.

    Nach hiesigen Rechtsvorstellung wäre das – losgelöst von jedem Sachverhalt – ein Unding.

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