„Wir kommen über den Berg“

Interview von Wolf Südbeck-Baur

aufbruch: Fadri Ratti, Sie haben alle Bündner Berge erklettert, die über 3000 und 4000 Meter hoch sind, insgesamt 460 alpine Gipfel. Worin liegt für Sie als Pfarrer und Theologe die Anziehungskraft der Bergwelt?

Fadri Ratti: Der Berg spielt in der Bibel eine wichtige Rolle. Der heilige Kailash, der Berg Sinai, der Ölberg, um nur einige zu nennen. Persönlich reizt mich zudem die Herausforderung, einen Berg zu meistern, der in die Höhe ragt. Ich möchte hinaufgehen, um zu entdecken und zu schauen, was es von dort oben zu sehen gibt. Horizonterweiterung, darum geht es mir. Zudem ist mir alles wichtig, was zu einer Bergfahrt – so nennt man eine Bergtour auch – dazu gehört: der ganze Weg, die Routen-Planung, die Vorbereitungen, die Erkundungen zur Schlüsselstelle und zum benötigten Klettermaterial, die Freude an der Geografie, wie sieht es hinter dieser oder jener Ecke des Berges aus. Man spürt das Adrenalin, immer läuft die Frage mit: Komme ich da hoch, habe ich die richtigen Werkzeuge dabei – Seil, Haken, Pickel, Kletterfinken? Es ist faszinierend, in aller Frühe noch im Dunkeln aufzubrechen, dann zu sehen, zu erleben, wie das erste Morgenlicht über den Wipfeln schimmert und die Vögel beginnen zu zwitschern, die Welt langsam erwacht. Für mich ist es immer ein heiliger Moment, wenn die Sonne aufgeht. Ich begrüsse sie immer, indem ich mich vor ihr verbeuge und danke sage, dass du hier bist, mich heute begleitest, mir Freude und Kraft gibst.

aufbruch: … als Zeichen der Demut und Dankbarkeit…

Fadri Ratti: … ja, denn die Welt ist soviel grösser als wir. Auch wenn ich schon öfter auf dem gleichen Berg war, ist es doch jedes Mal wieder neu. Die Wetterverhältnisse sind anders, ich bin ein anderer, obwohl ich der Gleiche bin.

aufbruch: Gibt es für Sie spezielle Momente auf dem Weg zum Gipfel?

Fadri Ratti: Besonders die letzten Meter zum Gipfel sind speziell. Manchmal ist ein Gipfelkreuz oben, manchmal nur ein Steinmal, manchmal auch gar nichts. Plötzlich öffnet sich alles, ich sehe die Weite, ich sehe über verschiedene Berge hinaus, in Graubünden sehe ich das Wallis, Monte Rosa, Montblanc, Monteviso … hinter dem Horizont geht’s weiter.

aufbruch: Was war ihr bisher eindrücklichstes Erlebnis unterwegs auf den Pfaden der Bündner Berge?

Fadri Ratti: Viele Erlebnisse waren überwältigend. Die herausforderndsten Berge in Graubünden befinden sich im Bergell. Charakteristisch sind ihre wilden Zacken. Ich greife den Monte Zocca heraus, über dessen Besteigung ich bisher noch nirgendwo erzählt habe. Zocca bedeutet «tiefe Rinne» ähnlich wie die Rinne im Kuhstall, die die Exkremente des Viehs sammelt.

Dieser Monte Zocca übte auf meinen Bruder und mich schon in jungen Jahren eine besondere Faszination aus, die uns so herausforderte, dass wir sagten: Da gehen wir nur zusammen rauf. Trotz mehrerer Versuche sind wir nicht zusammen auf denn Gipfel hoch gekommen. Der Gletscherschwund und wohl auch die fehlende Erfahrung, die es für einen solchen Berg braucht, waren Gründe. Zur Unterstützung konnte ich Rolf Trachsler gewinnen, einen erfahrenen Bergführer aus dem Wallis. Er meinte anfänglich, die Besteigung des Monte Zucca liesse sich relativ unkompliziert machen, weil er dort Haken, Kickseile usw. von früheren Bergsteigern vermutete. Diese Berge sind aber heute in Vergessenheit geraten, man findet kaum mehr Haken von früher. Heute liegt die Herausforderung im Schwierigkeitsgrad der Wand. Wir mussten wie zu den Anfangszeiten des Bergsteigens dort alles wieder neu entdecken, schauen, welches Material nötig ist, wo eine gangbare Route liegt. Taktik war gefragt. Doch als wir in der Berghütte ankamen, regnete es in Strömen, so dass wir umkehren mussten. Ein, zwei Jahre später starteten wir den nächsten Versuch. Wir hatten alte Karten und SAC-Bergführer studiert. Schliesslich sind wir eine schneegefüllte Rinne hochgegangen, erreichten den Sattel und den Grad bis zum Gipfel.

aufbruch: Und dann kam der Abstieg ….

Fadri Ratti: Von Bergsteiger-Kollege Norbert Joos wusste ich, dass Haken für den Abstieg vom Monte Zucca schon in der Bergwand sind. Den ersten glänzenden Haken zum Abseilen fanden Rolf Trachsler und ich problemlos. Bei der zweiten Abseilstelle aber (Fadri macht eine kurze Pause) ist uns das Seil, das wir für den weiteren Abstieg dringend noch brauchten, oben hängen geblieben. Hier ist mein Messer, sagte ich zu Rolf, und versuch es so weit wie möglich oben abzuschneiden, ich sichere dich. Zum Glück ging alles gut, obwohl immer wieder Felsmaterial herausgebrochen war – die Berge sind nicht starr und fest, wie es in der Bibel steht. Die Erleichterung und Freude war gross, als wohl behalten auf der anderen Seite an der Hütte des Monte Zocca angekommen waren. Den Pizzo Zocca hatten wir geschafft.

aufbruch: Gerade wenn ein Abstieg nicht glatt verläuft, ist viel Vertrauen in Begleiter gefragt. Ist zu Berg gehen so etwas wie eine Schule des Vertrauens?

Fadri Ratti: Unbedingt. Für mich ist Glauben Vertrauen. Wenn ich mit Konfirmanden in den Bergen bin wie auf der Alalin, einem 4000er. Glauben ist für mich nicht das Fürwahrhalten von gewissen Glaubenssätzen. In diesen finden sich selbstverständlich menschliche Erfahrungen verdichtet wieder. Aber diese muss ich erleben, selbst erfahren. In meiner Jugend habe ich selbst Nahtod-Erfahrungen gemacht. Darum das Theologiestudium, das mir ein Gerüst, Denkarten und Reflexionszugänge gegeben hat. Doch Zugänge zu spirituellen Erfahrungen eröffnet das Studium kaum.

aufbruch: Können Sie die spirituellen Erfahrungen, die Ihnen beim Bergsteigen entgegenkommen, näher beschreiben?

Fadri Ratti: Es ist eine Mischung von vielen Aspekten. Mir fehlen die Worte, um spirituelle Erfahrungen genau beschreiben zu können. Placidus a Spescha (1752 – 1833), ein Benediktiner-Pater vom Kloster Disentis, der in Graubünden bewusst Erstbesteigungen gemacht hat, hat von Genuss gesprochen. Es ist ein Genuss, unterwegs zu sein. Für mich ist es auch ein Staunen. Als Wanderleiter musste ich mich in Metereologie, Geologie, in Fauna und Flora vertiefen. Die Vögel in den Bergen, die Blumen und Pflanzen, alles ist sehr bereichernd. Was ist das für ein lärmender Vogel, der Bergpieper, der aus Afrika zurückkommt und im Frühling über dem Schneefeld singt…? Die Faszination der Lebendigkeit der Tierwelt, die Erhabenheit der Berge, einer Quelle zu spüren, eröffnet für mich spirituelle Erfahrungen, die in etwas Grösserem gründen. Auf dem Gipfelpunkt eines Berges kommen alle Linien zusammen, sie kommen auf den Punkt, dass heisst, zum Wesentlichen zu kommen. Dafür muss ich voll konzentriert vorgehen, sonst setze ich mich Gefahren aus. Ich darf keinen Fehltritt machen. Ein Zweiter Punkt: Schaue ich von oben, vom Gipfel aus auf die Welt, kommen die grossen Sorgen, die wir uns um die Welt, um die Probleme im Dorf machen, in eine andere Grössendimension. Und manchmal finde ich auch eine Lösung, mit der ich von der Bergtour zurückkomme. Ist das jetzt Arbeitszeit oder nicht … (Fadri lacht). Viele wichtige Ideen zum Beispiel für einen Gottesdienst, für ein Gespräch, für die Seelsorge sind da oben entstanden. Dieses in den Bergen sein ist wie beim Pilgern: Du bewegst dich und damit die Dinge um dich rum.

aufbruch: «Spiritualität ist das Herz jeder Religion.» Diese Haltung haben Sie in dieser Zeitung schon 2013 zu Protokoll gegeben. Inwiefern verbindet Spiritualität die Menschen aller religiösen Überzeugungen?

Fadri Ratti: Ich lebe gerne mit dem Bild von der Theologin Dorothee Sölle: In der Mitte ist das Unverfügbare. Wir Menschen kommen von verschiedenen Seiten. Wir müssen – und das ist für mich die Religion – Strukturen schaffen. Diese dürfen wir aber nicht als allein seligmachend beschreiben. Wir nehmen dieses Unverfügbare wahr, wir spüren es. Kürzlich durften wir einen solchen Moment am Karfreitag im Gottesdienst erleben, als uns ein ukrainischer Chor mit seinen Liedern tief berührt hat.

aufbruch: Gibt es für Sie zwischen Spiritualität und Religion einen Unterschied?

Fadri Ratti: Jesus hat zwar nicht die Kirche erfunden, aber für das religiöse Zusammenleben braucht es Strukturen. Die Jünger Jesu haben bereits nach Strukturen gesucht. Aber wenn die Orthodoxie mit starren Lehrsätzen die Wahrheit für sich reklamiert, wird es eng, sklerotisch. Betonen möchte ich aber: Auch wenn ich vielleicht eher ein Randgänger bin, habe ich die Kirche, in der und für die ich arbeite, sehr lieb. Ich könnte ohne die Kirche nicht sein, auch wenn sie manchmal offener sein könnte.

aufbruch: Dorothee Sölles Verständnis von Religion, Mystik und Widerstand hat eine ausgeprägt politische Seite. Dieser Aspekt kommt bei Ihnen zumindest nicht explizit zum Ausdruck.

Fadri Ratti: Vielleicht habe ich Dorothee Sölle als Grossmutter der Theologie kennengelernt. Ich versuche diesen Geist in der Kantonalkirche und hier in Felsberg zu leben.

aufbruch: Konflikte sind nicht so Ihre Sache…?

Fadri Ratti: Ich kann schon hinstehen, wenn ich im Konflikt bin. Das hat mich auch der Berg gelehrt. Du brauchst einen Willen, um schwierige Lagen meistern zu können. Das hat sich auch beim Umbau unserer Kirche in Felsberg gezeigt, als es Widerstände zum Beispiel seitens der Denkmalpflege gegen unser Konzept gab, statt den Bänken einen grossen Tisch im Kirchenschiff zu platzieren. Es brauchte schon den Motor Fadri und etwas Glück, die richtigen Leute zur richtigen Zeit ins Boot holen zu können.

aufbruch: Im Alter von 15, vor 33 Jahren also, haben Sie eine ernsthafte Krebserkrankung überstanden. Inwiefern war diese Heilung für Sie ein, wenn nicht das Schlüsselerlebnis Ihres Lebens?

Fadri Ratti: Der Tumor im Bauchraum war eine sehr wesentliche Erfahrung. Mit 15 ist man voll in der Pubertät, die anderen erobern die Welt, gehen an Konzerte, spielen Fussball, und ich kämpfte um mein Leben. Ich habe meine Eltern erlebt, wie sie gebangt, gehofft und gebetet haben – Psalm 23, der gute Hirt. Zu spüren, sie sind da, stärkte mein Vertrauen und meine Zuversicht. Sehr wichtig waren auch die vielen Grüsse und guten Wünsche aus dem weiteren Umfeld und du merkst, du wirst getragen. Auch der Berg als symbolisches Bild hat mir geholfen. In der Kindheit in Chur bin ich oft oben auf der Berg Rote Platte gewesen. Als es dann nicht mehr ging, hiess es, wir kommen über den Berg, wir schaffen das. So hat sich dieses Bild eingeprägt.

aufbruch: Wie schlägt sich Ihre Begeisterung für die Berggipfel in Ihrer seelsorgerlichen Arbeit mit der Kirchgemeinde in Felsberg nieder?

Fadri Ratti: Auf verschiedenen Ebenen. Zunächst einfach, dass ich als Mensch da bin, der zufrieden im inneren Frieden da ist so wie ich es gerade wieder mit dem Fotografen erlebt habe, mit dessen Vater ich durch gemeinsame Bergtouren verbunden bin. Da leuchten die Augen. Was willst du mehr? Den Konfirmanden versuche ich jeweils auch den Zauber der Bergwelt zu vermitteln. Mit einigen war ich zum Beispiel auf dem Piz Palü. Mit solchen Erlebnissen möchte ich Freude am Leben vermitteln verknüpft mit der Botschaft: «Ihr könnt was machen und vertraut, dass es gut kommt.»

1 Gedanke zu „„Wir kommen über den Berg““

  1. Danke für den schönen Artikel!! Ic h bin jetzt schon alt, (84 ) aber in meiner Jugend und auch später habe ich gerne Berge bestiegen, wenn auch nicht so großartige, aber ich habe immer eine große Dankbarkeit und großen Frieden empfunden. Jetzt, nachdem ich nur mehr mit 2 Krücken gehen kann , sind die Erinnerungen besonders wertvoll.
    Danke und alles Gute für Ihren Beruf. Erhaltenen Sie sich Ihre Begeisterung !
    Ihre Hedwig Jocum

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