»Wir sind weiter als wir glauben«

Um im digitalen Zeitalter wichtige von unwichtigen Informationen zu unterscheiden, setzt Hirnforscher Gerald Hüther nicht nur auf kritische Unterscheidung der Geister. Für zentral hält er einen Neustart, der eine spirituelle Dimension im Auge hat

Interview: Wolf Südbeck-Baur

aufbruch: Gerald Hüther, Ihr neues Buch «Wir informieren uns zu Tode» will auf vier zentrale Fragen eine Antwort geben. Welches sind diese?

Gerald Hüther: Wir werden gegenwärtig von Informationen überflutet nicht nur durch die traditionellen Medien, sondern auch durch die über das Internet verbreiteten Nachrichten. Das macht die Entscheidung, was hilfreich ist oder nicht, noch schwerer. Robert Burdy und ich haben das Buch geschrieben, weil wir das für eine Gefahr betrachten, in die wir eher ahnungslos hineinschlittern. Als Biologe und Hirnforscher weiss ich, dass überall, wo Leben ist, Kommunikation und Austausch von Informationen stattfindet. Stellen Sie sich einen Akazienbaum vor. Eine Akazie produziert unterschiedliche Duftstoffe, um die anderen Akazien vor einem Schädling zu warnen. Die Akazien in der Nachbarschaft produzieren aber auch verschiedene Duftstoffe. Das Warnsystem kommt durcheinander, und so kriegt keine der Akazien mehr mit, dass ein Baum von Schädlingen befallen ist. Das bedeutet mit Sicherheit, dass das am Ende der Untergang für die Akazien ist, weil sie sich nicht mehr gegen solche Fressfeinde wehren können.

Gerald Hüther. Fotos: Wolf Südbeck-Baur

Warum betonen Sie vor diesem Hintergrund mit Nachdruck eine Rückbesinnung auf das, was uns Menschen abhängig macht von verlässlichen Informationen?

Gerald Hüther: Anders als in der Tierwelt haben wir Menschen keine instinktive Orientierung, die uns hilft, uns zurecht zu finden. Unser Gehirn hingegen ist zeitlebens lernfähig, so dass wir lernen können, wie etwas geht. Von diesen Erfahrungen leiten wir Vorstellungen ab und meinen, so müsste es immer gehen. Diese Vorstellungen beziehen sich nicht nur auf unser eigenes Handeln, sondern auch auf die Erwartungen anderer, wie sie zu handeln hätten. Diese Vorstellungen beziehen sich zudem auf das, wie die Welt zusammenhängt und was sie zusammenhält, was wiederum übergeht in das eigene Selbst- und Menschenbild, das aufgrund der je unterschiedlichen Erfahrungen individuell sehr unterschiedlich ist. Wir müssen unser Leben allerdings gestalten. Dabei wollen wir nicht alle möglichen Erfahrungen selbst machen müssen, wir wollen aber, dass uns andere dabei helfen, uns zurecht zu finden. Deswegen werden diese Vorstellungen gern von den Kindern übernommen. Das Einzige, das uns hilf, unsere Vorstellungen nicht zu eng werden zu lassen, ist ein fruchtbarer Austausch mit Menschen, die möglicherweise aus einer ganz anderen Weltgegend kommen und deshalb ganz andere Vorstellungen mitbringen. Das Ergebnis ist bei mir und bei dem anderen eine erweiterte, grössere und damit die Wirklichkeit besser beschreibende Vorstellung. Das nennt man Information. Es geht darum, unser Leben so zu gestalten, dass es nicht nur für dich und mich gut ist, sondern auch für andere Menschen sowie für andere Lebewesen.

Worin sehen Sie die Beweggründe für das grosse Informationsbedürfnis der Menschen heute?

Gerald Hüther: Die Angst und Verunsicherung der Menschen ist grundlegend für die Suche nach Sicherheit. Eine Möglichkeit, dies zu gewichten, ist, so viel über die Welt zu wissen, damit man sich besser orientieren kann. Deshalb besteht dieses starke Informationsbedürfnis. Im digitalen Zeitalter hat jeder Mensch dieser Welt die Möglichkeit, seine Erkenntnisse und Weisheiten über das, worauf es ankommt, über das, was bedrohlich ist, über das, was ratsam ist in dieser Welt über das Internet zu verbreiten. Das heisst, die Situation hat sich dramatisch geändert gegenüber früher, als es einige wenige Medien gab, die Informationen verbreiten konnten. Heute kann jeder über digitale Kanäle seine Weisheiten verbreiten.

Was ist der Grund dafür, dass es so viele Menschen meinen, sie müssten sich im Netz präsentieren und andere an ihrer Sicht der Dinge teilhaben lassen?

«Die Situation hat sich dramatisch geändert gegenüber früher, als es einige wenige Medien gab, die Informationen verbreiten konnten. Heute kann jeder über digitale Kanäle seine Weisheiten verbreiten.»

Gerald Hüther

Gerald Hüther: Der Grund liegt in der Unsicherheit im Blick auf die Bedeutung der eigenen Person. Das sind Menschen, die sich nicht sicher sind, ob sie von anderen gemocht werden, Menschen, die sich nicht sicher sind, ob sie zur Gemeinschaft, zu der sie gern dazugehören möchten, noch dazu gehören dürfen. Deshalb strengen sie sich an und rufen dauernd, hallo, ich habe auch noch was Wichtiges zu sagen. Aus diesem Drang des Gesehen-werden-Wollens entsteht eine unübersehbare Flut von Meinungen, Informationen und Botschaften.

Nicht wenige Menschen wollen doch aber einfach nur mitreden können…

Gerald Hüther: In jeder und jedem steckt das Grundbedürfnis nach Verbundenheit, ob in der Familie, am Arbeitsplatz, im Verein oder in einer bestimmten Gruppe. Um nicht als Ahnungsloser in die Ecke gestellt zu werden, gibt es sehr viele Menschen, die viele Nachrichten und Mitteilungen lesen, obwohl sie der Inhalt gar nicht interessiert. Trotzdem geben sie diese Informationen in ihrer Gemeinschaft weiter, um andere darauf aufmerksam zu machen, dass sie noch da und präsent sind.

Im Blick auf einen Neustart im Umgang mit den vielen Informationen, bringen Sie unter anderem den Begriff Würde ins Spiel. Was hat das Wissen um die eigene Würde mit der Verarbeitung von Informationen, insbesondere digital gestreuter Informationen zu tun?

Gerald Hüther: Mich interessiert, wie es uns Menschen gelingen kann, die in uns angelegten Potentiale zu entfalten sowohl die des Einzelnen als auch die einer Gemeinschaft. Damit das gelingen kann, müssen wir endlich aufhören, andere Menschen wie Objekte zu behandeln. Das machen wir aber, weil es sich so eingebürgert hat, weil alle anderen es auch tun. Denken wir nur zum Beispiel an die Kunden – Käufer-Beziehung, die Eltern – Kind-Beziehung, die Lehrer – Schüler-Beziehung oder die Arbeitgeber- Arbeitnehmer-Beziehung. Das sind zuallermeist Objektbeziehungen, bei denen einer sagt, was der oder die andere zu tun hat. In dem Moment, wo jemand wie ein Objekt, also wie ein Kühlschrank oder ein Auto behandelt wird, verliert er seine Subjekthaftigkeit. Das wird konkret erlebt als eine Verletzung seiner Vorstellung von sich selbst. Diese Behandlung als Objekt ist eine Verletzung beider Grundbedürfnisse, zum einen desjenigen nach Verbundenheit, zum anderen eine Verletzung des Grundbedürfnisses nach Gestaltungsmöglichkeiten. Mit anderen Worten: Objektbeziehungen verletzen das Grundbedürfnis nach Autonomie und Freiheit.

«Jemand, der sich seiner Würde bewusst geworden ist, lässt sich von niemanden mehr als Objekt behandeln. Das ist unwürdig.»

Gerald Hüther

Meine Würde spüre ich immer dann, wenn ich mich selbst ernst nehme und auch von anderen ernstgenommen und gesehen werde. Es ist also das Erleben der eigenen Subjekthaftigkeit. Leider leben wir in einer Welt, in der wir dauernd unsere eigene Würde verletzen und zulassen, dass sie von anderen verletzt wird. Wir neigen dazu, uns selbst und dann meist auch andere Menschen wie Objekte zu behandeln. Wer sich seiner eigenen Würde bewusst geworden ist, wird sich nicht länger anderen wie ein Objekt zur Realisierung von deren Interessen und Absichten zur Verfügung zu stellen. Der lässt sich auch nicht mit dem Hinweis, das sei eine wichtige Information, etwas von anderen einreden und aufschwatzen.

Mit dieser Maxime führen Sie auf naturwissenschaftlichem Gelände ein Denkmodell ein, das sich von den gewohnten empirischen Denkmustern wesentlich unterscheidet. Welches Echo kam von Ihren Hirnforscher-Kolleg:innen?

Gerald Hüther: Die Leute haben gefragt, wo ist denn das Prädikat? So wurde mir klar, dass sie meine Sicht nicht verstehen. Dies ist denen kaum erklärbar, die in philosophisch existenzialistischen Gedankenwelten nicht zuhause sind und nicht verstehen, was es bedeutet, wenn man von anderen als Objekt behandelt wird. Darum habe ich nach einem anderen Begriff gesucht und habe den wunderbaren Begriff der Würde gefunden. Jemand, der sich seiner Würde bewusst geworden ist, lässt sich von niemanden mehr als Objekt behandeln. Das ist unwürdig. Wer dies versteht, wird im gleichen Atemzug auch niemanden mehr als Objekt behandeln. Mit dem Begriff der Würde haben wir im Deutschen einen wunderbaren Begriff für das, worauf es im Leben ankommt, nämlich uns würdevoll zu verhalten. Das beginnt nicht bei den anderen Menschen, sondern bei mir, bei jedem selbst. Ich muss mich zunächst erst in meiner Subjekthaftigkeit erkennen und damit meine eigene Würde beschreiben können. Weiss ich nicht, was meine eigene Würde ist und ausmacht, damit ich mich als würdevoll betrachten kann, kann ich auch nicht darauf achten, dass mir meine Würde verloren gehen kann.

Spielt dabei eine im weitesten Sinne eine religiöse, transzendentale oder mystische Dimension der menschlichen Existenz eine Rolle?

Gerald Hüther: Insbesondere in der westlichen Welt leiden viele Menschen daran, dass uns das, was uns als Menschen miteinander verbindet, weitgehend abhandengekommen ist. Dazu zählen unsere gemeinsamen Überzeugungen, auch ein von den meisten geteiltes christliches Weltbild. Das alte Bild unserer Verbundenheit mit einem über unseren persönlichen Lebenskonstrukten stehenden grösseren Ganzen hat sich aufgelöst. An deren Stelle ist ein anderes grösseres Ganzes getreten. Das, wonach sich heute alles richtet und um das sich alles dreht, heisst Wirtschaft. Sogar die Erkenntnisse der Wissenschaft werden von den Vertretern der Wirtschaft benutzt, um deren Vorstellungen zu untermauern und zu rechtfertigen. Sie stellen den Menschen als Egoisten dar, der andere für seine Zwecke benutzt und sich nur dann mit anderen verbindet, wenn Not und Elend herrschen und er allein nicht mehr weiterkommt. Das ist eine sehr fragwürdige Vorstellung, in die wir uns verwickelt haben, weil wir als Menschen etwas brauchen, dass uns über unser tägliches Handeln, über unsere Not und Angst hinaus miteinander verbindet. Damit ist die Frage nach dem Band gestellt, das uns Menschen im Inneren zusammenhält.

Gerald Hüther, geb. 1951, ist Biologe, Hirnforscher und Gründer der Akademie für Potentialentfaltung. Bis 2016 lehrte der Autor zahlreicher populärwissenschaftlicher Bücher Neurobiologie an der Uni Göttingen. In seinem neuen Buch zusammen mit Robert Burdy »Wir informieren uns zu Tode« fordert er eine »konsequente Rückbesinnung auf das, was wir für ein friedvolles und glückliches Leben brauchen.

… und was wäre das innere Band der Verbundenheit…?

Gerald Hüther: Die entscheidende Frage ist: Gibt es etwas, das Menschen dazu bringt, ihr Leben so zu gestalten, dass es nicht nur gut ist für sie selbst, sondern auch für die anderen, auch für andere Lebewesen, für die Natur und für den Globus überhaupt? Dazu ist ein Empfindungsvermögen vonnöten, das weiter als bis zum eigenen Bauchnabel reicht. Dieses grössere Empfindungsvermögen resultiert aus dem Gefühl des eigenen Eingebettet Seins in ein grösseres Ganzes. Alle Weltreligionen bieten das als Vorstellung an, scheitern aber kläglich an der Umsetzung. Aber ohne dieses gelebte Mitgefühl bleibt menschliches Zusammenleben immer Zwang und Druck oder Abhängigkeit und Verführung. Erst aus diesem Gefühl des eigenen Eingebundenseins kann der Mensch sich frei entscheiden, dazu gehören zu wollen. Wir brauchen also diese spirituelle Dimension – und das wissen die Menschen im Grunde schon seit jeher. Verschwindet dieses Gefühl, weil es zunehmend durch wirtschaftliche Interessen und Konsumbedürfnisse ersetzt wird, ist das der Untergang unserer Gesellschaft.

Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass sich eine Mehrheit diesem Emanzipationsprozess zuwendet?

«Dazu ist nun noch das Internet gekommen, das wie ein weltumspannendes Nervensystem Informationen überall verbreitet. Das Einzige, das wir bis jetzt noch nicht zustande gebracht haben, ist diese Versorgungs- und Informationssysteme so zu nutzen, dass sie auch allen Menschen dienen. «

Gerald Hüther

Gerald Hüther: Auf den ersten Blick deutet alles auf ein Schreckensszenario hin. Ich bevorzuge es jedoch viel mehr, die laufenden gesellschaftlichen Entwicklungen als eine tiefgreifende Veränderungssituation zu verstehen. Es ist schon viel passiert. Seit etwa zehntausend Jahren leben Menschen in hierarchischen Ordnungen, in denen immer jemand weiter »oben« steht und denen darunter sagt und vorschreibt, was sie zu tun und zu lassen haben. Dabei gab es immer Menschen in den unteren Rängen, die sich bemühten, aus dieser misslichen Lage herauszukommen. Sie haben sich angestrengt, Höchstleistungen erbracht, andere weggeschoben, um aufzusteigen in der Rangordnung, oder wie es heute heisst: Karriere zu machen. Das gelingt am besten, wenn jemand etwas erfindet oder entdeckt, was die anderen gebrauchen können. Doch wenn das überall auf der Welt so geschieht, wird die Welt mit all diesen Erfindungen, Geräten und Technologien immer komplexer und verändert sich auch immer rascher. Bis dann irgendwann eine globalisierte und digitalisierte Welt entstanden ist, in der diese Hierarchien nicht mehr funktionieren. Sie sind zu starr. Und genau an diesem Punkt sind wir heute angekommen. Das ist die Zeitenwende.

Umso mehr drängt sich die Frage auf: Wie kann die Menschheit globale Informationssysteme wie das Internet so nutzen, dass die Menschen zu einem «Menschheitsorganismus», wie Sie es nennen, zusammenwachsen?

Gerald Hüther, Robert Burdy
Wir informieren uns zu Tode.
Ein Befreiungsversuch für verwickelte Gehirne.
Herder 2022, 240 Seiten

Gerald Hüther: Wir sind bereits recht weit gekommen. Ein vielzelliger Organismus braucht ein Versorgungssystem. Bei uns ist das unser Blutkreislauf, der Nährstoffe in alle Körperregionen bringt. Die Menschheit verfügt schon längst über so etwas Ähnliches in Form der weltweiten Handelsbeziehungen, die geeignet sind, Menschen überall auf der Welt mit dem Lebensnotwendigen versorgen. Dazu ist nun noch das Internet gekommen, das wie ein weltumspannendes Nervensystem Informationen überall verbreitet. Das Einzige, das wir bis jetzt noch nicht zustande gebracht haben, ist diese Versorgungs- und Informationssysteme so zu nutzen, dass sie auch allen Menschen dienen.

Wenn nicht alles täuscht, ist dieses weltweite Nervensystem, genannt Internet, in den Händen einiger weniger milliardenschwerer Männer wie Bill Gates, Mark Zuckerberg oder Elon Musk, die das Internet für ihre Geschäftsinteressen instrumentalisieren …

Gerald Hüther: Besonders clevere Leute aus der Wirtschaft haben sich beider Systeme bemächtigt und unter dem Deckmantel einer so genannten Globalisierung ihre Vormachtstellung und die Herrschaft der Ökonomie mit ihren Profitinteressen vorangetrieben. Dennoch finde ich es ermutigend, dass wir immerhin schon ein Versorgungs- und Informationssystem haben, das einigermassen funktioniert. Jetzt kommen die nächsten Schritte, die wir nur schaffen, wenn wir nun auch ein geistiges System aufbauen, das uns als Menschen aus unterschiedlichen Herkunftskulturen miteinander verbindet.

Was gibt jemandem die Kraft, aus den alten Mustern auszusteigen?

Gerald Hüther: Wer auf einen Weltenretter wartet, kann nur hoffen, dass er bald kommt und ihn aus seiner Bedürftigkeit erlöst. Wer sich aber auf den Weg macht und wieder zum Gestalter seines eigenen Lebens und des Zusammenlebens mit anderen wird, ist kein Bedürftiger mehr. Solche Menschen sind frei und brauchen keine anderen mehr, die ihnen erklären, wie die Welt funktioniert. Sie müssen auch nicht mehr andere über den Tisch ziehen oder mit ihren Informationen und Ratschlägen beglücken. Die Informationsflut würde sich reduzieren. Jede und jeder, der diese Zeilen liest, kann sich in diesem Moment entscheiden, ob er weiter daran beteiligt sein will, andere Menschen zum Objekt zu machen oder ihnen lieber in ihrer Einzigartigkeit von Subjekt zu Subjekt begegnen möchte. Oft reicht dafür schon ein Lächeln, das man einem oder einer anderen schenkt – als Ermutigung, die Gestaltung des eigenen Lebens und des Zusammenlebens mit anderen mit all unserer schöpferischen Kraft in die eigenen Hände zu nehmen. Damit kann jeder und jede bei sich selbst beginnen. Dazu braucht es keine besondere Kraft.

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