Der äusserste Notfall – eine Geschichte von Flucht und Sicherheit

Nachdem die Pfarrei St. Leodegar in Luzern während einem Jahr einer tschetschenischen Mutter mit ihrem Kind Unterschlupf geboten hat, beendete am Montag die Polizei unter Protesten das Kirchenasyl. Das elfjährige, traumatisierte Mädchen und seine Mutter wurden kurzerhand nach Belgien abgeschoben. Eine traurige Fluchtgeschichte, die René Regenass vor der Abschiebung geschrieben hatte

Zaun

Marina und ihre Tochter Anna (11) sind seit acht Jahren auf der Flucht. Die Angst ist ihre ständige Begleiterin. Dass die Schweiz die beiden jetzt nach Belgien zurückschicken will, wäre für Anna unzumutbar. Die Pfarrei St. Leodegar gewährten den beiden deshalb Kirchenasyl.
Der Kontakt mit den aus Tschetschenien geflüchteten Frauen fand vor Wochen statt. Marina (53) hat gekocht, als wir sie zu einem Gespräch treffen. Sie kocht hervorragend, macht aus einfachen Zutaten viel, zum Beispiel aus Kartoffeln, Zwiebeln und Gewürzen feine, in der Pfanne gebratene Fladen. Bei unserem Besuch Ende Februar fühlte sie sich relativ wohl, hoffte einfach, dass sie mit ihrer elfjährigen Tochter Anna nicht wieder Gewalt erfahren muss und trotz Kirchenasyl aus der Pfarrei St. Leodegar in Luzern weggeschafft wird.

Die Fluchtgeschichte von Marina und Anna (*) dauert inzwischen acht Jahre und kennt verschiedene Etappen mit belastenden Erlebnissen, die für Mutter wie Tochter sehr schwierig zu verarbeiten sind.

Als sich die Mutter im Jahre 2010 für die Flucht entschied, war Anna 3 Jahre alt. Marina wird gewusst haben, was es bedeutet, mit einer dreijährigen Tochter das grosse Wagnis einzugehen. Doch sie hielt es nicht mehr aus. Ihr Leben war geprägt von Gewalt und Misshandlungen, die Mutter und Tochter von den männlichen Angehörigen der Familie ihres Mannes erfahren mussten. Die Spuren davon sind ärztlich bestätigt. Die Familie des Mannes ist eng verflochten mit den mafiaähnlichen Strukturen in der russischen Teilrepublik, von wo die beiden geflüchtet sind. Hinzu kommen auch religiöse Gründe, denn Marina hat sowohl einen christlichen als auch einen Muslimischen Elternteil, was in der muslimischen Familie des Mannes nicht gerne gesehen wurde.

Von der Vergangenheit eingeholt
Weil sich Marina mit ihrer Tochter auch in einer anderen russischen Teilrepublik ebenso unsicher fühlte, wählte sie als Fluchtland Belgien, wo eine Freundin aus ihrer Schulzeit lebt. In Belgien angekommen, blieb ihr Asylgesuch zwei Jahre unbeantwortet. Weil sie sich in Belgien von einem Landsmann aus der gefährlichen Heimat erkannt glaubte, tauchte sie unter und flüchtete dann in die Schweiz, wo ihr erstes Asylgesuch abgelehnt wurde. Begründung: Ihre Fluchtgründe seien nicht nachprüfbar. Im April 2013 reisen Mutter und Tochter nach Deutschland, wo sie vier Jahre mit einer Duldung leben konnten. Doch die üble Erfahrung holte sie wieder ein: Sie wurden erneut von einem Landsmann aufgespürt, worauf Marina in Panik in die Schweiz flüchtete.
Die Angst von Marina vor Landsleuten aus Tschetschenien ist begründet. In einem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Mai 2016 zur aktuellen Menschenrechtslage in Tschetschenien hiess es,

„Abgewiesene Asylbewerber, die nach Tschetschenien zurückkehren, sind allgemein akut gefährdet. Ein Tschetschene, der im Jahr 2015 von Belgien aus zurückgekehrt ist, wurde drei Tage später verhaftet, während 24 Stunden brutal gefoltert und über Diaspora-Mitglieder in Belgien ausgefragt.“

Nach Einschätzung der Flüchtlingshilfe vom vergangenen 1. März habe sich die Menschenrechtslage in Tschetschenien seit 2016 nicht verbessert. Human Rights Watch berichtete im Januar 2019, dass tschetschenische Behörden Dissidenten willkürlich verhaften, foltern und verschwinden lassen.


Von den belgischen Behörden im Stich gelassen

Zurück in der Schweiz, holte Marina und ihre Tochter die Vergangenheit wieder ein. Die Vorschriften aus der Dublinverordnung stellten sich ihrem erneuten Asylgesuch entgegen. Belgien ist zuständig, das Marina dort im Jahr 2010 ihr erstes Asylgesuch eingereicht hatte. In dieser Situation tauchten die beiden auf der Luzerner Beratungsstelle für Sans- Papiers auf. Nachdem Marina vom Amigra, dem Luzerner Amt für Migration zugesichert worden war, sie würde in Belgien eine Unterkunft erhalten, wo sie nichts zu befürchten hätten, willigte Marina in die Rückkehr nach Belgien ein.
Doch die damit verbundene Hoffnung wurde enttäuscht, abermals, und gründlich. Marina und Anna reisten im April 2018 freiwillig und unbegleitet nach Brüssel. Am Flughafen jedoch holte sie niemand ab, wie zugesichert worden war. Sie ging hierauf von Amt zu Amt und erfuhr dann, ihr Asylgesuch sei abgelehnt worden und sie habe Belgien unverzüglich zu verlassen. Sie erhielt weder Unterkunft noch Essen oder Geld. Sie stand einfach auf der Strasse. Beim Bahnhof übernachtete sie mit dem Kind unter freiem Himmel und reiste am nächsten Tag mit Regionalzügen zurück in die Schweiz nach Luzern.

In der Obhut der Pfarrei St. Leodegar
Die Beratungsstelle Sans-Papiers reichte bei der Asylbehörde ein Wiedererwägungsgesuch ein, erfolglos. Am 14. November im vergangenen Jahr lief die Dublin-Überstellungsfrist ab. Auch der Versuch, beim Luzerner Justizdirektor Paul Winiker vorzusprechen und die drohende Ausschaffung auszusetzen, blieb erfolglos. Es gäbe keinen Handlungsspielraum, liess Winiker ausrichten. Hier nun schaltete sich die Katholische Kirche Stadt Luzern ein. Die Pfarrei St. Leodegar übernahm die Familie ins Kirchenasyl. Eine Anwältin reichte beim Staatssekretariat für Migration (SEM) in Bern erneut ein Asylgesuch ein, da davon auszugehen war, dass die Dublin-Überstellungsfrist von sechs Monaten am 14. November abgelaufen war.
Doch die Härte der staatlichen Behörden setzte sich fort. Die Familie gelte wegen dem Kirchenasyl als flüchtig, liess das SEM ausrichten, und darum habe sich die Dublin-Überstellfrist bis auf 18 Monate bis zum 14. November 2019 verlängert. Gegen diesen Entscheid hat die Luzerner Anwältin Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht eingereicht. Die Kirche vertritt die Meinung, die Familie sei nicht flüchtig, weil die Behörde über den Aufenthaltsort der Familie im Kirchenasyl informiert sei.

Das Kind braucht eine stabile Situation
Nach der Rückkehr aus Belgien und dem quälenden Aufenthalt dort hatte sich der Zustand von Tochter Anna verschlechtert, sie hatte Alpträume in der Nacht und Angstzustände am Tag. Aktuell ist Anna in der Behandlung beim Jugendpsychiatrischen Dienst und kann die Heilpädagogische Schule besuchen.

Lehrpersonen, Kinderärzte und Psychologen bezeugen, dass es für das Mädchen jetzt wichtig sei, ein stabiles Umfeld zu schaffen.

Die Katholische Kirche Stadt Luzern vertritt die Meinung, dass mit dem Kirchenasyl die Dublin-Überstellungsfrist abgelaufen sei und das im Dezember eingereichte Asylgesuch von der Schweiz geprüft werden müsse. Vor allem im Blick auf die Situation von Tochter Anna wird die Kirche zudem beim UNO-Ausschuss für Kinderrechte eine Individualbeschwerde einreichen. Nach nun bald neun Jahren Flucht und Leben in ständiger Angst sei es für Anna zentral, in einem stabilen Umfeld leben zu dürfen.

Kirchenasyl als letzte Massnahme
Mit der Gewährung des Kirchenasyls stütze sich die Pfarrei St. Leodegar auf die Grundsätze der Katholischen Kirche Stadt Luzern, die mit den Vorgaben der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz übereinstimmen.

In der Erklärung dazu heisst es: „Kirchenasyl wird nur im äussersten Notfall gewährt. Es ist die letzte Hilfe, wenn alle rechtlichen und weiteren Möglichkeiten ausgeschöpft sind und unmittelbar die Ausschaffung droht.“ Kirchenasyl richte sich nicht gegen den Rechtsstaat, sondern wolle im Einzelfall verhindern, dass das Prinzip der Menschenwürde und das Schweizerische Verfassungsrecht verletzt würden.
Die Fakten und die Rechtslage (Erstfluchtland Belgien) sind ungünstig für Mutter und Kind aus Tschetschenien. Und die bestehende Gefahr für Leib und Leben wird von den Asylbehörden kaum gewichtet. Darum ist das Kirchenasyl auch eine Form von Demonstration: Es geht hier um nicht weniger als den Schutz von Frauen vor rücksichtsloser Männergewalt.

René Regenass

* Namen geändert

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