Der Undogmatische

Generalvikar Martin Kopp teilt sein Leben mit Jugendlichen in Konfliktsituationen und solchen auf der Flucht: Ein »Clubhaus« der besonderen Art.

Von Christian Urech

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«Bei uns gibt es keinen Konflikt zwischen den Religionen»

In Erstfeld gibt es ein «Clubhaus» der besonderen Art. In ihm teilt der Generalvikar für die Urschweiz Martin Kopp sein Leben mit Jugendlichen in Konfliktsituationen und solchen auf der Flucht.

Christian Urech

Martin Kopp ist ein erstaunlicher Mann. Der über 70-Jährige bewältigt ein Arbeitspensum, das manchen viel Jüngeren alt aussehen lassen würde – und wirkt dabei alles andere als alt, sondern voller Energie. Er ist nicht nur Generalvikar im Bistum Chur für die Kantone der Urschweiz, sondern vertritt auch zahlreiche vakante Pfarrstellen – der Priestermangel lässt grüssen – und führt an manchen Wochenenden bis zu vier kirchliche Veranstaltungen durch: Messen, Abdankungen für verstorbene Pfarrkollegen, Firmungen… Und ganz nebenbei wirkt er noch als positive Vaterfigur im «Clubhuus», dem Haus, in dem er zusammen mit «seinen» Jugendlichen in Wohngemeinschaft lebt – Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen aus der Umgebung, Jugendlichen auf der Flucht aus weit entfernten Ländern wie Afghanistan, Somalia und Eritrea. Wie schafft der Mann das? «Das Zusammenleben mit den jungen Menschen ist zwar manchmal anstrengend und nervenaufreibend, es ist aber auch eine ungeheure Quelle der Energie», erläutert der Kirchenmann, «und wenn ich mal wirklich meine Ruhe haben will, gehe ich in die Natur, von der hier im Urnerland reichlich vorhanden ist, oder setze mich in die wunderschöne Kapelle hier in der Nähe.» Wenn er manchmal von einem anstrengenden, kräftezehrenden und mühsamen Tag nach Hause komme, spüre er: Hier ist das Leben.

Wir sitzen im Esszimmer der WG am grossen Tisch. Martin Kopp erzählt mir die Geschichte des Projekts – und wenn er erzählt, hört man ihm automatisch gebannt zu. Angefangen hat alles in Wädenswil, wo der Stadtzürcher ab 1985 18 Jahre lang als Pfarrer amtete. Schon damals führte Martin Kopp ein «offenes Pfarrhaus», in das immer viele Leute zum gemeinsamen Essen kamen und der Pfarrer sich um Jugendliche in Krisensituationen kümmerten, von denen er bald einmal jeweils zwei bis drei für eine gewisse Zeit im Pfarrhaus aufnahm. Dann erhielt er die Berufung des damaligen Churer Bischofs Amedée Grab zum Generalvikar für die Urschweiz. Da ihm kein fester «Amtssitz» zugewiesen, sondern es ihm freigestellt wurde, wo er sich niederlassen wollte, musste er sich zuerst eine Unterkunft suchen. Er fand sie schliesslich im Waschhaus der Ingenbohler Schwestern, wo er noch heute sein Büro als Generalvikar hat. Es war ihm aber klar, dass er nicht allein wohnen, sondern sein sozialdiakonisches Engagement am neuen Ort weiterführen wollte. Zunächst einmal entschied er sich aufgrund der zentralen Lage für Erstfeld als strategischen Lebensmittelpunkt. «Als er von meinen Plänen erfuhr, mich für «schwierige» Jugendliche zu engagieren, empfahl mir der ehemalige Pfarrer von Erstfeld, Kontakt mit den Schwestern des solothurnischen Antoniushauses aufzunehmen, die damals in Altdorf ein kirchliches Sozialzentrum aufbauten. Die Schwestern waren begeistert von der Idee und boten mir drei Wochen später dieses Haus hier an, das sie vor Jahren geschenkt bekommen hatten – praktisch zum Nulltarif.» Das war vor 14 Jahren. In einer Anfangsphase öffnete Kopp einen Teil des Hauses als Begegnungsort für einheimische Jugendliche. «Es war ein stetes Ein und Aus, aber mit der Zeit bildete sich eine Kerngruppe, die etwa zur Hälfte aus alteingesessenen Urnern und eingewanderten Kosovaren bestand.» Als sich immer mehr Jugendliche für das neue Begegnungszentrum interessierten, begann die Kerngruppe, «ihr» Revier zu verteidigen. «Das isch isses Clübhüüs!», hätten sie reklamiert. Natürlich musste Kopp da ein Machtwort sprechen und klarstellen, dass jeder Einlass finde, der es nötig habe, und letztlich er darüber bestimme, wer kommen dürfe oder nicht, aber damit war der Name des Hauses und der Institution gegeben, die fortan bis heute als «Clubhaus» bekannt ist.

Mit der Zeit begannen einzelne der Jugendlichen, die das «Clubhaus» besuchten, auch im Haus zu wohnen. Es gibt Zimmer für sieben Jugendliche, die meist durchgehend besetzt sind, einige manchmal auch mit Doppelbelegung. in der schwierigen Anfangszeit hatte Kopp keine Mitarbeitenden und nur vereinzelt freiwillige Helferinnen und Helfer, heute arbeiten zwei Sozialarbeiterinnen mit Teilzeitpensen und zwei Zivildienstleistende mit im Team. Die Gemeinde Erstfeld stand dem Projekt anfangs sehr kritisch gegenüber und leistete (und leistet) bis  heute keinen Beitrag. Finanziert wird das Projekt über einen Trägerverein ausschliesslich durch Spenden.

Vor zwei Jahren, als zwei Austritte von Jugendlichen gleichzeitig anstanden und sich die Flüchtlingskrise über die Balkanroute auf ihrem Höhepunkt befand, schlug Kopp vor, an deren Stelle zwei jugendliche Flüchtlinge aufzunehmen. Die anderen Bewohner waren anfangs gar nicht begeistert und einer von ihnen beschwor Kopp mit den Worten: «Die sind dann richtig schwierig!» Worauf Kopp lächelnd beruhigte: «Kein Problem, ich bin mir den Umgang mit schwierigen Fällen gewohnt.»

Die drei jungen afghanischen Flüchtlinge, die dem «Clubhaus» schon bald vom zuständigen Roten Kreuz zugewiesen wurden, erwiesen sich dann als gar nicht schwierig, ganz im Gegenteil. Nachdem sie von Anfang an intensiv Deutsch gebüffelt haben, sprechen sie die Sprache heute sehr gut. «Die drei wurden schnell zum festen Bestand des Hauses und das war für das Haus wirklich ein Geschenk. Es war ein unglaublicher Gewinn. Und die anderen haben sie nach kurzer Zeit akzeptiert.» Durch die Flüchtlinge habe das Gemeinschaftsleben eine zusätzliche Dimension gewonnen, sei breiter und tiefer geworden, beide Seiten würden voneinander profitieren. Die Tischgespräche seien seither viel interessanter. Den Flüchtlingen helfe die Gemeinschaft bei der Integration, die einheimischen Jugendlichen profitierten von der zusätzlichen Lebenserfahrung, Zielorientierung und Leistungsbereitschaft der Flüchtlinge. Die Flüchtlinge kämen ja meist aus sozial stabilen Familienverhältnissen und hätten sich selbstständig in schwierigen Situationen bewähren müssen, während die Schweizer oftmals grosse soziale Defizite aufwiesen, verwöhnt worden seien und wenig Selbstständigkeit, Durchhaltevermögen besässen.»

Das Gemeinschaftsleben kristallisiert sich um die gemeinsamen Mittags- und Abendessen, die die Möglichkeit geben zum Austausch, zur Zusammenarbeit und zum Gespräch. «Ohne diese gemeinsamen Mahlzeiten würde das Gemeinschaftsleben nicht funktionieren», weiss Kopp. Ohne dass das zur  Regel gemacht worden wäre, beginnt niemand mit dem Essen, bevor nicht allen geschöpft wurde. Dann spricht Kopp ein einfaches Tischgebet, das vor allem Dankbarkeit ausdrückt und bisher noch von niemandem, auch nicht von den Anders- oder Nichtgläubigen, in Frage gestellt worden sei, betont Kopp.

Kopp ist kein dogmatischer Mensch, im Gegenteil: Er zwingt niemandem seinen Glauben auf. Im Gegenteil: Er freut sich darüber, wenn Andersgläubige ihren Glauben mit Ernst und Überzeugung ausüben. Am Weihnachtsfest nehmen auch die Muslime teil, und während des Ramadan wird extra eine «Ramadanküche» für sie eingerichtet. Am Fastenbrechen nimmt auch Kopp teil, der dann von den anwesenden Muslimen gebeten wird, das Tischgebet zu sprechen. Und als der Vater eines der Zivildienstleistenden gestorben war, wollten ausgerechnet die Afghanen unbedingt an der Begräbniszeremonie teilnehmen. «Die meisten Flüchtlinge sind religiös», sagt Kopp und sieht das als Chance.

Sein Projekt hat auch für Kopp ganz zentral mit seiner Religiosität zu tun. «Auch wenn ich der einzige Katholik hier bin, ist das Ganze für mich dennoch ein kirchliches Projekt. Für mich ist der diakonische Gedanke, die Nächstenliebe nicht nur zu predigen, sondern auch zu leben, wegweisend. Da sehe ich mich auch in Gemeinschaft mit Papst Franziskus, der uns auffordert als Kirche zu den Menschen am Rand zu gehen.» Es geht ihm auch um seine Glaubwürdigkeit als Generalvikar, um eine gewisse Vorbildwirkung. Denn davon ist Kopp überzeugt: Die katholische Kirche wird ihre Krise nur dann überwinden, wenn sie aus dem Evangelium heraus zutiefst lebt, was sie predigt.

 

2 Gedanken zu „Der Undogmatische“

  1. Ausgezeichneter Artikel. Besonders den Schlusssatz kann ich nur aus tiefstem Herzen und ÜBERZEUGUNG unterstreichen. Es kann nicht genug Christenmenschen geben welche wie Herr Kopp im Alltag leben was die Kirche predigt.

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  2. Was Generalvikar Kopp tut ist ehren- und lobenswert. Ich freue mich mit allen, die dieses Projekt kennen daran, dass hier Liebe gelebt und nicht nur gepredigt wird.
    Nicht einverstanden bin ich mit dem Begriff der „Undogmatische“. Wenn er, wie beschrieben pfarramtliche Tätigkeiten übernimmt, dann ist er so nehme ich an sehr wohl ein „Dogmatischer“. im Bistum Chur geht es kaum ohne die dogmatische Strenge des Bischofs. Der lockere Umgang, welchen Kopp pflegt macht ihn nicht undogmatisch.

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