Maurice Zundel – ein bleibender Visionär

„Ich glaube an den Menschen, Schöpfer des Menschseins“. Mit diesem Bekenntnis zog der Religionsphilosoph, Mystiker und Theologe Maurice Zundel (1897-1975)  Sanktionen der kirchlichen Autoritäten auf sich.  Zum 40. Todestag des westschweizer Priesters veranstaltet die Fondation Maurice Zundel ein Kolloquium zur Frage, welche Impulse sich heute aus seinem Denken ergeben.

Von Alois Odermatt

Maurice Zundel (Foto: AMZ) Maurice Zundel (Foto: AMZ)

Maurice Zundel war ein Presbyter des Bistums, Lausanne, Genf und Freiburg. Bereits sein erstes Wirken in Genf (1919-1925) erregte Missfallen. Bischof Marius Besson (1876–1945) verbot ihm ab 1925 jede Tätigkeit im Bistum. Es ergab sich ein Exil in Rom, Paris, London, Jerusalem und Kairo. Erst 1946 konnte er heimkehren. Bis zu seinem Tod 1975 wirkte er nun von Lausanne aus als Schriftsteller, Vortragsredner und spiritueller Meister. Berühmt war sein brillantes Wissen in moderner Philosophie, Literatur und Naturwissenschaft.
Im Pariser Exil (1927–1929) hatte Zundel den Mailänder Intellektuelle Giovanni Battista Montini kennengelernt, den späteren Papst Paul VI. (1897–1978). Dieser erkannte in ihm ein Genie, „avec des fulgurations – mit Ideenblitzen“. Er lud ihn 1972 ein, im Vatikan die Fastenpredigten zu halten. Aber er bleibt weiterhin umstritten. Der französische Kardinal Ambroise-Marie Carré (1908-2004) sah in ihm „eine der mächtigsten Persönlichkeiten unserer Zeit (…), oft widersprüchlich, manchmal verwirrend, nicht wenigen Leuten mit vielen Ideen voraus“. Der Schweizer Kardinal Georges Marie Cottier (geb. 1922), emeritierter Theologe des Päpstlichen Hauses, kritisierte scharf sein Menschen- und Gottesbild und rückte ihn 2008 in die Nähe der Häresie.

Allles neu denken
Maurice Zundel hinterliess zwanzig Bücher und betonte wiederholt: „Il faut tout repenser – Wir müssen alles neu denken.“ Manche Aussagen und Gedankengänge sind zeitbedingt. Aber zentrale Einsichten lassen auch im heutigen Zusammenhang aufhorchen. Dabei fallen seine prägnanten Kurzformeln auf, etwa jene zur Sexualität: „Le sexe c’est l’altruisme scellé dans notre chair – Das Geschlecht ist, eingebrannt in unser Fleisch, die Hinwendung zum andern.“ Eine Leidenschaft, welcher Art auch immer, war für ihn ein Ruf des Lebens. Sie sei nicht im Sinn der früheren Askese zu löschen, sondern zu lenken.
Sein Hauptanliegen war die Kritik am theistischen Gottesbild. Es könne gar kein allmächtiges und allwissendes Wesen geben, das von aussen her in die Welt und in unser Leben hineinwirke. An die Adresse der Kirchenleute sagte Zundel: „Behaltet diesen Gott für euch, ihr Herren. Er ist eure Erfindung, euer Monopol. Unter seinem Namen betet ihr euer eigenes Bild und die Absiche-rung eurer Privilegien an – und das Volk stirbt an ihm.“ Und im Blick auf die Theodizee: „Ich werde wütend, wenn ich sagen höre, Gott lasse das Böse zu.“ So wiederholte er oft: „Il faut changer de Dieu – Wir müssen Gott auswechseln.“

Bleibende Aktualität
Einer der letzten Texte von Maurice Zundel ist ein handschriftliches Credo. Der erste Glau-benssatz lautet: „Je crois en l‘homme, créateur de l’homme – Ich glaube an den Menschen, Schöpfer des Menschseins.“ Diese prägnante Formel fasst sein Nachsinnen über die menschliche Existenz zusammen. Dabei knüpfte er auf der Linie von Existenzphilosophie und Personalismus an der Selbsterfahrung an: Wir Menschen existieren nicht kraft unserer Geburt. Wir haben unser Menschsein, unsere „Existenz“ als Person erst zu erschaffen. Im Innersten dieser „zweiten Geburt“ erfahren wir einen Sog über uns hinaus, ein existenzielles Rufen ins Unendliche, „un vide créateur – eine schöpferische Leere“.
Am Kolloquium vom 3. Oktober in Neuenburg (in französischer Sprache) soll getestet werden, ob und wie solche und ähnliche Zundel-Einsichten heute noch greifen. Zu diesem Zweck legt ein Arbeitspapier Zundel-Texte zu drei Themen vor: Person, Sexualität, Christsein. Fachleute sowie Teilnehmende äussern sich dazu. Bernard Litzler, Direktor von Cath-Info Lausanne, besorgt die Moderation. Zum Abschluss kredenzt die Stadt Neuenburg den „Ehrenwein“

* Alois Odermatt, Historiker, ist Vorstandsmitglied der Schweizer Gruppe der Association Maurice Zundel

Hinweis: Kolloquium in französischer Sprache zum 40. Todesjahr von Maurice Zundel mit dem Ehrenwein der Stadt Neuenburg. Maurice Zundel nous invite à „tout repenser“ – Maurice Zundel lässt uns „alles neu denken“, Samstag, 3. Oktober 2015, 13.45-16.30 Uhr, Neuenburg, Espace Louis-Agassiz 2, salle RE48. Die Teilnahme ist frei. Um die Gästezahl für den Ehrenwein zu kennen, ist eine Mitteilung an untenstehende Mail-Adresse erwünscht. Dort kann digital auch das Arbeitspapier in französi-scher Sprache und in deutscher Übersetzung bezogen werden (je vier Seiten, unentgeltlich). Kontakt: al.odermatt@bluewin.ch

 

5 Gedanken zu „Maurice Zundel – ein bleibender Visionär“

  1. Eine eindrückliche Figur der Geistesgeschichte in der Tat. Dass er von seiner Kirche gemassregelt worden war, wundert mich nicht. Die römischen Katholken verfahren immer noch so mit Freigeistern in den eigenen Reihen. Dazu passt m.E. eine Aussage des brasilianischen Befreiungstheologen Rubem Alves, welches er in Zusammenhang mit einem weiteren unabhängigen Geist geäussert hat, dem in Lateinamerika tätigen US-amerikanischen Theologen Robert Shaull: „A church built upon truths and prohibitions cannot stand the presence of someone who teaches doubts and freedom.“

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  2. Dass ein Mitglied einer Institution von eben dieser Institution auf nicht tolerierbare Abweichungen hingewiesen und gegebenenfalls sanktioniert wird, das ist der Normalfall allüberall.Einzig interessant ist die Frage, worin die Sanktionen bestehen, ob sie verhältnismäßig sind und Menschenrechte nicht verletzen.

    Das Zitat des Theologen Robert Shaull: „A church built upon truths and prohibitions cannot stand the presence of someone who teaches doubts and freedom.“ beweist generell nichts. Auch hier gilt die Frage nach den Menschenrechten und nach der Verhältnismäßigkeit. – Die Klagen von Menschen, die mit ihren Ansichten nicht zum Zuge gekommen sind, sind Legion; auch diese beweisen nichts. Man sollte nur nicht versuchen, post festum ein Menschenrecht einzuklagen, das vor dem Einzelfall nie bestanden hat.

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  3. Die Fondation Maurice Zundel will testen , „ob und wie … Zundel-Einsichten heute noch greifen“. Das stellt im Vorhinein die Frage nach den erkenntnisleitenden Interessen. Diese könnten sich aus den Lebensstationen von Maurice Zundel ergeben: etwa, dass er katholischer Priester war, die christliche Lehre mit seinem Theismus schlussendlich jedoch verstieß, dass er einen Kampf gegen Pfaffheit führte. (Letzteres ist in fairer Weise immer richtig, wenn es gegen Fehlverhalten von Beauftragten geht, nicht aber gegen gelebte Überzeugungen.)

    Die Versammlung am 3. Oktober ist nicht zuletzt eine Anfrage an das Selbstverständnis der Fondation Maurice Zundel – Ist man Sachwalter einer rückwärts geschauten Tradition oder trägt man aus der Tradition heraus ein Programm, das die Menschen hoffen lässt, ihnen Zuversicht schafft?

    Vielleicht sollte man dazu den ersten Satz – den Kernsatz! – in den Blick nehmen, nämlich: „Ich glaube an den Menschen, Schöpfer des Menschseins.“ Und, damit zusammenhängend: „Wir Menschen existieren nicht kraft unserer Geburt. Wir haben unser Menschsein, unsere Existenz, als Person zu erschaffen“.

    Möglicherweise sind diese Sätze einer Sprache geschuldet, die aus mystischem Schauen nicht Eins zu Eins in normaler Sprache darstellbar ist. Für die Wahrnehmung in normaler Sprache ist als Erstes jedoch festzustellen, – sofern „Mensch“ und „Menschsein“ beide mit Menschen zu tun haben –. dass ein Geschöpf mit seinen wesentlichen Eigenschaften sich selbst (er-)schafft. Das geht nicht!

    Weiter: Wie sollen wir Menschen anders existieren als durch Geburt von Menschen? Wenn aus Menschen erst noch Personen werden sollen, dann sieht es für Schwache schlecht aus. Denn vielerorts wird in Verfassungstexten versucht, Menschenrechte an den Status von „Person“ zu binden.

    Das hat zur Folge, dass, wer nicht stark genug ist, beziehungsweise wer es nicht weit genug gebracht hat, dass dieser dem Utilitarismus anheimfällt, dem Zweiklassenrecht von Mächtigen über Ohnmächtige. – Beispiele?

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  4. Das von mir angeführte Zitat stammt wie bereits geschrieben von Rubem Alves, der damit das Anecken von Robert Shaull interpretierte.
    Eine Kirche, in der allein Männer über alle ihre Mitglieder bestimmen wollen (wie eben an der Familiensynode zu Rom), hat m.E. ihre Legitimität verspielt.
    Auch wird von der „Hierarchie“ (der „Heiligen Ordnung“) das Forschen an röm.-kath. Fakultäten regelmässig behindert und v.a. Wissenschafterinnen durch die Verweigerung des „Nihil obstat“ ausgebremst.

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