Botschafter des Friedens

Trotz der Besetzung Chinas lebt die tibetische Tradition weiter und ist in der ganzen Welt bekannt geworden. Dies vor allem wegen des 14. Dalai Lamas, der soeben die Schweiz besuchte und viele Menschen mit seinem Charisma, seinen Botschaften und seinem offenen Wesen in den Bann gezogen hat. Doch weshalb wird der geistliche Führer der Tibeter wie ein Popstar verehrt?

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Fotos: Stephanie Weiss

Bunte Betriebsamkeit kam am letzten Samstag in Winterthur auf. Mehrere Hundert Menschen strömten in die Eulachhallen, darunter viele traditionell gekleidete Tibeter. Alle wollten sie den Dalai Lama sehen und mit ihm die 50 Jahr-Jubiläumsfeier des Tibet-Instituts zelebrieren. Freudige Erwartung und Spannung lag in der Luft, als sich endlich die Seitentür öffnete und gleissend helles Licht hineinstrahlte. Ein Tross von Polizeiwagen und schwarzen Limousinen fuhr über den knirschenden Kies und kam vor der Tür zum Stehen. Der ganze Saal hielt den Atem an. Endlich war die rot-gelbe Kāsāya (Gewand) des 14. Dalai Lama zu erkennen. Von Sicherheitsleuten abgeschirmt und von einem Mitmönch gestützt begrüsste der 83-Jährige junge Tibeter, die ihm mit gebeugtem Haupt den traditionellen weissen Khata (Glücksschal) hinhielten und ihn mit traditioneller Musik und Tanz willkommen hiessen. Freundlich lächelnd legte er jungen Tibetern in ihren Trachten einen Khata um. Dabei erlaubte er sich immer wieder einen kleinen Scherz, um gleich darauf herzhaft zu lachen. „Seine Heiligkeit“, der Dalai Lama beehrte die Schweiz anlässlich der 50-Jahr Feier des Tibet Instituts mit einem viertägigen Besuch. Am Tag zuvor hatte er an einer Zeremonie im Kloster Rikon teilgenommen. 

P9220050Die Jubiläumsfeier in den Eulachhallen startete mit einem Langlebensgebet, bei dem viele Tibeter im Saal den Text mitsprachen. Unter ihnen befand sich Tsering Dolma, eine Mittfünfzigerin, die vor sechs Jahren geflüchtet war. Landsleute hatten ihr diese Flucht ermöglicht. „Ich war insgesamt drei Monate unterwegs“, berichtet sie von ihrer beschwerlichen Reise in ein neues Leben. In der Schweiz fand sie eine zweite Heimat, in der sie sich wohlfühlt. „Die Leute sind sehr nett und hilfsbereit hier.“ Den Dalai Lama wollte sie auf keinen Fall verpassen und reiste von Freitag bis Sonntag jeden Tag von Bern an, um an den unterschiedlichen Zeremonien und Unterweisungen teilzunehmen. Dabei trug sie ihre Tracht, die sie mit im Fluchtgepäck in die Schweiz transportiert hatte.

 

Ein wichtiger Ort für Tibeter
Bereits zum 15. Mal besuchte Tenzin Gyatso, so der Mönchsname des Dalai Lama, die Schweiz. Dies aus gutem Grund, denn hier lebt mit Abstand die grösste tibetische Exilgemeinschaft in Europa. Rund 8‘000 Tibeter und Tibeterinnen sind es inzwischen. Viele von ihnen hatten viel Leid durch die brutalen Besatzer erfahren. Die europäische Vertretung der tibetischen Exilregierung hat ihren Sitz in Genf. Bereits in den Sechzigerjahren engagierte sich die Schweiz für die tibetischen Vertriebenen und nahm zum ersten Mal aussereuropäische Flüchtlinge auf, darunter etliche Kinder. Viele fanden Arbeit in der Pfannenfabrik in Rikon, wo 1968 dank dem Engagement der Unternehmerfamilie Kuhn im Auftrag des Dalai Lama das einzige Kloster ausserhalb Asiens gegründet wurde. Dieses sei nicht nur ein Ort für religiöse Zeremonien, sondern auch eine Stätte des Lernens, betonte der Dalai Lama in seiner Rede.
Der Zürcher Regierungsrat Mario Fehr und Michael Künzle, Stadtpräsident von Winterthur, überbrachten offizielle Grussbotschaften und bekundeten ihre hohe Wertschätzung gegenüber dem Dalai Lama. Auch einige Nationalräte waren im Saal anwesend, der Bundesrat hielt sich jedoch fern. Seit 2005 verzichtet er aufgrund des diplomatischen Drucks auf einen offiziellen Empfang. China versucht weltweit mit allen Mitteln, den „tibetischen Banditen“, wie sie ihn nennen, zu behindern.
Den Friedensnobelpreisträger, den eine spezielle Aura umgibt, schien dies indes nicht zu stören. Die brutale Besetzung der Chinesen seit den Fünfzigerjahren sei für Tibet eine schlimme Zeit. „Die chinesischen Invasoren glaubten, sie könnten die tibetische Kultur zerstören. Dabei dachten sie nicht an das weltweite Interesse.“ Durch diese Vertreibung sei der tibetische Buddhismus in der ganzen Welt bekannt geworden.

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Eine Option für Zweifler
Nicht nur Tibeter zieht er bei seinen Besuchen in seinen Bann, auch viele nichtbuddhistische Sympathisanten pilgern an diese Anlässe, welche an Auftritte grosser Popstars erinnern. Wie kommt es, dass diese oberste Autorität der tibetischen Buddhisten Massen zu verzücken und Herzen zu erobern weiss und das in einer säkularisierten Gesellschaft, wo immer mehr Menschen der Kirche den Rücken zukehren? Und was bringt diesen spirituellen Führer der Tibeter dazu, seine Botschaften auf der ganzen Welt zu verkünden? Die Antworten darauf lieferte der Dalai Lama am Samstag gleich selber. Er wolle nicht missionieren, stellte er gleich zu Beginn seiner Rede klar. Besser sei es, bei der Religion zu bleiben, mit der man aufgewachsen sei. Der Buddhismus biete über die meditative Kontemplation hilfreiches Wissen über das Bewusstsein an. Der achtgliedrige Pfad des Buddhismus, den auch Buddha selbst beschritten hatte, gewähre hingegen Zweiflern ihrer Religion sowie Nichtreligiösen Orientierung auf ihrem Lebensweg. Denn auch diese seien auf der Suche nach Spiritualität. Wichtig dabei sei aber, die ursprüngliche religiöse Tradition nicht als wertlos anzusehen, sondern sie zu respektieren.
Weiter betonte er, dass Glauben nicht blind machen sollte. „Buddha wollte, dass man nachforscht und experimentiert und gewisse Ideen nicht einfach durch Glauben annimmt. Glauben ohne zu denken ist ungesund“, betonte er auch im Interview mit Amira Hafner-Al Jabaji in der Sendung „Sternstunde Religion“.
Die schrittweise Entwicklung, zu der auch die Überwindung von Gier und Hass gehört, führe zum vollkommenen Erwachen. Oft hätten die Menschen eine falsche Sicht vom Selbst – dies müsse überwunden werden und zu einer Sicht des Nichts-Selbst führen. Damit, so betonte der Dalai Lama in seiner Rede, unterscheide sich der Buddhismus von anderen Religionen. Und damit sprach er einen wunden Punkt postmaterieller Gesellschaften an – die egozentrische Haltung. „Der Ich-Gedanke ist wie ein Dämon. Indem man diese Logik und die Theorie versteht, kann in der Welt Positives bewirkt werden.“ Man nimmt es ihm ab, weil er es selbst vorlebt.

Kritisches Hinterfragen erwünscht
Weiter erklärte der Dalai Lama, dass die kritische Auseinandersetzung und das Hinterfragen von Wissen im Buddhismus grösste Kompatibilität mit der Wissenschaft habe. Deshalb treffe er sich seit 40 Jahren sehr gerne mit Naturwissenschaftlern, da gebe es interessante Diskussionen. Und hier lieferte er bereits eine weitere Antwort darauf, weshalb viele Menschen mit dieser Art von Religion mehr anfangen können: weil sie es zulässt, auch einmal etwas in Frage zu stellen, ja dies sogar fordert. Damit sprach er den philosophischen und weniger den religiösen Teil des Buddhismus an. Der rationale, vernunftgesteuerte Mensch findet hier einen Zugang, einen Zufluchtsort für spirituelle Fragen, mit denen sich selbst Quantenphysiker irgendwann konfrontiert sehen.
„Weil wir menschliche Wesen sind, haben wir die Fähigkeit, nachzudenken und die Realität ganzheitlich zu sehen.“ Dies führe zu einem Denken in der langfristigen Perspektive. „Nicht immer nutzen Menschen dieses Potential und handeln deshalb kurzfristig.“ Durch Schulung des Bewusstseins und Erlangen von Wissen könne man lernen, Probleme aus der Distanz zu betrachten. Der Dalai Lama sieht sich in der Verantwortung, auch andere mit diesem Wissen vertraut zu machen, denn der Buddhismus beziehe alle Lebewesen mit ein, als Dienst am Anderen.
Dabei betonte er auch die wichtige Rolle, welche der tibetische Buddhismus in der Überlieferung der Ursprungstexte innehat. Im nordindischen Nalanda befand sich im 5. Jahrhundert die grösste buddhistische Universität, welche als Quelle des Wissens gilt. Die unzähligen, in Sanskrit verfassten Texte wurden in die tibetische Sprache übersetzt und so weiter überliefert. Heute gebe es über 10‘000 Bände. Tibet spiele für den Buddhismus eine wichtige Rolle, auf die man stolz sein könne.

Man kann ihn nennen wie man will: einen Popstar, der durch die Welt tingelt und die Massen verzückt, einen Verkünder von Botschaften, wie Liebe, Gewaltlosigkeit, Mitgefühl und Gemeinschaft – einen Freudenbotschafter. Oder einen Propheten, der die Menschen mahnt und ihnen den richtigen Weg aufzeigt.
Fakt ist, dass er viele Menschen erreicht, sie im Herzen berührt und sie zum Nachdenken über das eigene Handeln anregt. Auch trägt er viel mit dazu bei, den heute so wichtigen interreligiösen Dialog auf dieser Welt anzustossen. Und genau deshalb wird er auch in Zukunft in der Schweiz immer wieder willkommen sein – Tashi Delek!
(Tibetischer Gruss: „Möge es dir wohlergehen“)

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