Erfrischender Weitblick

In seinem brandneuen Buch «Tradition und Diskurs» plädiert Amir Dziri für ein Konzept von Tradition, das nicht als starres Festhalten an Althergebrachtem aufgefasst werden kann. Mit erfrischendem Weitblick erhellt der Professor für islamische Studien, wie Bewahrung und Innovation in religiösen Weltanschauungen zusammengehen können.

Von Gian Rudin

Der Traditionsbegriff erweckt gegenläufige Stimmungsbilder. Die einen verschanzen sich hinter religiösen Traditionen und verlieren so den Blickkontakt mit der Gegenwart. Andere wiederum dämonisieren alles Traditionsgebundene und machen es für allerlei Übel verantwortlich.

Gerade hier drängt sich eine theologisch differenzierte Auseinandersetzung mit einem herkunftsbasierten Blick auf Religion auf. Das Konzept von Tradition darf nicht einfach in einem vereinfacht polemischen Blick als starres Festhalten an Althergebrachtem aufgefasst werden, dies wird bereits im Untertitel klar: Wandel als Möglichkeit islamischer Hermeneutik. In der Einbettung der islamischen Theologie im universitären Betrieb kann die Stellung zur islamischen Tradition schnell zur Gretchenfrage werden, wie der am Zentrum für Islam und Gesellschaft in Fribourg lehrende Amir Dziri anmerkt.

Amir Dziri, Tradition und Diskurs. Wandel als Möglichkeit islamischer Hermeneutik. Verlag De Gruyter 2023, 239 Seiten.

Tradition wird im Laufe des Buches verstanden als Bewusstsein einer überlappenden Zeitlichkeit, in welcher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinander bezogen sind und sich wechselseitig erhellen. Der Traditionsbegriff wird weitläufig hergeleitet, so unternimmt der Autor Ausflüge in die Soziologie und Moralphilosophie und ebnet dementsprechend einen sinnvollen Weg zur Auseinandersetzung mit diesem vielschichtigen und bisweilen heiklen Themenkomplex.

Die Berufung auf Tradition dient der Erzeugung von Anerkennungswürdigkeit und ist somit
unabdingbar für religiöse Symbolsysteme, die Orientierungswissen vermitteln wollen. Damit ist der zutiefst lebenspraktische Anspruch verknüpft, dem Menschen in seiner Alltagswirklichkeit Bedeutsamkeit und Sinn zu stiften.

Amir Dziri ist Professor für islamische Studien und Direktor des Zentrums für Islam und Gesellschaft an der Universität Fribourg.

Als Offenbarungsreligion ist der Islam geschichtlich verwurzelt. Offenbarung ist hier aufgefasst als ein kommunikatives Ereignis, welches das Über-und Innerweltliche miteinander in Beziehung setzt. Somit
ist Situationsabhängigkeit ein wesentliches Merkmal eines adäquaten Verständnisses des Offenbarungsinhalts.

Die sprachliche Vielfalt des koranischen Zeugnisses ist von der Gegebenheit schon auf eine breite Leserschaft zugeschnitten und bildet damit eine solide Grundlage für eine kontextsensible Auslegung von Überlieferungen. Dem Autor gelingt es, ein religionsinternes Verständnis von Tradition zu erhellen, welches an religionsexterne Gesprächszusammenhängen anschlussfähig bleibt.

Das Buch behandelt mit einem erfrischenden Weitblick die heikle Frage, wie Bewahrung und Innovation in religiösen Weltanschauungen zusammengehen können. Dabei findet eine gute Heranführung an die islamspezifischen Diskussionen statt. Das macht die Lektüre für einen breiten Adressatenkreis auch ausserhalb der Disziplingrenzen schmackhaft.

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