Erschreckende Zunahme des Antisemitismus in der Schweiz

Die Terroranschläge der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 haben in der Schweiz eine regelrechte Antisemitismuswelle ausgelöst, die durch den folgenden Krieg in Gaza weiter angetrieben wurde. Die Erhebungen des Antisemitismusberichts zeigen die Manifestation eines Triggerereignisses, wie sie in diesem Ausmass in den letzten Jahrzehnten noch nie beobachtet wurde.

Von Christian Urech

Gemeinsam geben der Schweizerische Israelitische Gemeindebund SIG und die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus jährlich den Antisemitismusbericht zur Lage in der Schweiz heraus. Der SIG registrierte im Berichtsjahr in der deutsch-, der italienisch- und der rätoroma- nischsprachigen Schweiz 155 antisemitische Vorfälle (nicht inbegriffen sind in dieser Zahl die online geäusserten antisemitischen Äusserungen). Das bedeutet eine massive und beispiellose Steigerung im Vergleich zum Vorjahr (2022: 57). Unter den Vorfällen waren zehn Tätlichkeiten, 47 Beschimpfungen, 42 Schmierereien, 38 Aussagen, zehn Plakate/Banner und acht Auftritte. Online, vor allem in den sozialen Medien und den Kommentarspalten von Medien, wurden 975 Vorfälle registriert, was eine Steigerung um 14 Prozent gegenüber 2022 (853) bedeutet. Zusammengerechnet macht das für den Untersuchungszeitraum 1130 gemeldete und beobachtete Vorfälle (2022: 910).

Todesdrohungen und Vernichtungsfantasien

Leider hat sich der Antisemitismus in der Schweiz 2023 in der realen Welt wuchtig manifestiert. Der Inhalt der Schmierereien und Zuschriften mit Todesdrohungen und Schoah-Vernichtungsfantasien ist von bisher noch nicht gekannter Heftigkeit. Die registrierten Vorfälle (reale Welt und online) werden in vier Kategorien unterteilt: Antisemitismus allgemein (310 Vorfälle), Schoahleugnung/-banalisierung (43), israelbezogener Antisemitismus (179) und zeitgenössische antisemitischeVerschwörungstheorien (443).
Schon in früheren Jahren traten antisemitische Vorfälle oft aufgrund sogenannter «Trigger» gehäuft auf. Trigger sind internationale oder nationale Ereignisse plus die entsprechenden Medienberichte, die für einen begrenzten Zeitraum eine hohe Anzahl an antisemitischen Vorfällen zur Folge haben. Durch die Corona-Pandemie und den Ukrainekrieg sowie durch das Monitoring von entsprechenden Telegram-Gruppen hat sich dies verändert – die Phase der Attacken und Beleidigungen dauert erheblich länger.

Foto: Esther Unterfinger/swissinfo

Gefährlicher Telegram-Kanal

Telegram ist ein Social-Media-Kanal, der gegen Hassrede und radikales Gedankengut kaum bis gar nicht vorgeht. Telegram bietet so Ideologien und Gewalt einen Nährboden und ist weiterhin jene Plattform in der Schweiz, auf der auch offener Antisemitismus ungehindert möglich ist, ohne dass entsprechende Aussagen gelöscht und die User gesperrt werden. Hier agiert weiterhin die staats- und gesellschaftsfeindliche sowie verschwörungsaffine Subkultur. Wie schon beim Ukrainekrieg, als sich viele dieser Gruppen von Massnahmengegner:innen zu Putin-Propagandist:innen gewandelt hatten, fand nach dem 7. Oktober 2023 eine erneute Wandlung statt: Man ist undifferenziert für Palästina und gegen Israel. Die Grundgedanken dieser Menschen bleiben jedoch gleich: Sie sind gegen den «Mainstream», gegen den «Westen» und der Meinung, dass alle Krisen und Kriege von einer «Elite» geplant sind und durchgeführt werden, um so die Menschheit endgültig zu willenlosen Arbeitssklav:innen zu machen.

Gravierende Vorfälle

Die gravierendsten Vorfälle im Jahr 2023 waren:
→ Ein jüdischer Schüler wird im April an einer Sekundarschule im Kanton Basel-Landschaft als «Scheissjude!» beleidigt und auch geschlagen.
→ Ein jüdischer Tourist wird im August von einem Einheimischen auf einem Parkplatz in Saas-Fee im Kanton Wallis beschimpft. Letzterer steigt danach in sein Auto ein und versucht, den Touristen zu überfahren.
→ Ein Schüler einer Bezirksschule im Kanton Aargau wird beschimpft (Hitlergruss, «dich sollte man vergasen!»), geschubst, geschlagen und ihm werden die Hosen heruntergezogen.
→ Ein streng-religiöses Geschwisterpaar wird am Bahnhof Zürich Flughafen unvermittelt von einem Mann je mit einem Boxschlag traktiert.

→ Nach einem Streit um ein falsch parkiertes Auto im November in der Stadt Zürich wird ein Mann von zwei Männern gewürgt, bedroht und gefragt, ob er Jude sei.
→ Eine Frau läuft im November an einem Platz in der Stadt Zürich an den leeren Schabbes-Tischen zur Erinnerung an die Hamasgeiseln vorbei und schreit Personen mit «Scheissjude, nur wegen euch Scheissjuden haben sie den Platz gesperrt!» an.
→ Ein Stockwerkeigentürmer im Kanton Graubünden bekommt im März einen Brief, dass die Stockwerkeigentümerversammlung beschlossen habe, dass er in Zukunft seine Wohnung nicht mehr an jüdische Personen vermieten dürfe.
→ Im Oktober und November wird in der Stadt Zürich mehrmals «Tot (sic!) den Juden» an Wände gesprayt.
→ Auf pro-palästinensischen Demonstrationen in verschiedenen Städten wird die Parole «From the river to the sea, Palestine will be free» auf Bannern und Schildern gezeigt. Ebenfalls kommt es zu Nazi- und Holocaustvergleichen, und es werden Schilder wie «Well done Israel, Hitler would be proud»beobachtet.

Der vollständige Antisemitismusbericht kann auf www.antisemitismus.ch kostenlos als PDF heruntergeladen werden.

2 Gedanken zu „Erschreckende Zunahme des Antisemitismus in der Schweiz“

  1. Kollektivverantwortung ist unverzichtbar!

    Die Rechtsextremen sind und bleiben die größten Rassisten und Antisemiten in Deutschland, vor allem sind sie diejenigen, die Menschen töten. Denn das Töten von Menschen beginnt nicht im Krieg, sondern in den Köpfen.

    Fürwahr – es gibt berechtigte Kritik, z.B. an der Politik des israelischen Wohnungsbaus auf dem Gebiet eines zukünftigen Staates Palästina. Es gibt Kritik an ultrarechten und ultrareligiösen Kräften, die jede Politik einer Zweistaatenlösung zu torpedieren versuchen; zu Recht gingen bis unmittelbar vor dem Hamas-Überfall an jedem Wochenende Tausende auf die Straße in Israel, um gegen die Aushöhlung der Demokratie durch die geplanten Justizgesetze zu protestieren.

    Diese Kritik ist berechtigt und in jeder Weise nachvollziehbar.

    Leider gingen bis vor dem Hamas-Überfall viel zu wenige aufrechte Demokraten auf die Straßen – auch nicht in Lingen. Geschweige, dass das Lingener Forum Juden-Christen in der lokalen Presse oder in Demonstrationen vor Ort sich auf die Seite der um ihre Demokratie sich sorgenden Israelis stellte.

    Natürlich haben nach dem grauenhaften Hamas-Überfall all diese Aktionen zurückzutreten. Der brutale Krieg der Hamas und die Sorge um das Schicksal der israelischen Geiseln vereint zunächst wieder die israelische Zivilgesellschaft.

    Doch das wird nur eine temporäre Ruhe bleiben, denn die Sorge vor einer Beseitigung der letzten Demokratie im Nahen Osten wird in absehbarer Zeit wieder die Tagesordnung bestimmen.

    Weltweit wird man eine Zunahme radikaler Kräfte beobachten, die ihren Hass und ihre Abneigung gegenüber allem Westlichen verstärkt freien Lauf lassen werden. Diese Kräfte hassen nicht nur alles Westliche, sondern vor allem die in einer Demokratie geschützten Menschenrechte, Toleranz, das Recht auf freie Wahlen, das Recht auf freie Medien und freie Meinungsäußerung.

    Diese Kräfte haben nur ein Ziel: Sie wollen die Gesellschaft spalten und sich selber als Heilsretter präsentieren. Diese Kräfte – sei es in Amerika und vielen anderen europäischen Staaten – schüren Ängste und Vernichtungsvisionen (konkret bezogen auf Israel in muslimisch dominierten Staaten mit der Parole „From the river to the sea), um sich selber als „starke Führer“ bzw. als die Götter der Neuzeit anzuempfehlen.

    Das Gebot der Stunde kann man immer nur mantraartig wiederholen:

    Möglichst viele Bürger müssen immer wieder Flagge zeigen; gesendet werden müssen stets aufs Neue unmissverständliche Zeichen einer wehrhaften Demokratie gegenüber Neonazis und gegenüber all denjenigen Kräften, die die Abschaffung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu ihren Hauptzielen erklären.

    In Goethes „Faust“ heißt es:

    „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss.“

    All diejenigen Kräfte, die den Naziparolen hinterherlaufen, wollen Deutschland und möglichst viele andere Staaten in der Welt in einen autokratischen (Gottes-)Staat umwandeln, in dem dann nicht die Stärke und Härte der demokratisch entstandenen Gesetze zählen, sondern die Macht und die Stärke einer politischen Elite, die dann der Weltbevölkerung insinuiert, „im Namen des Volkes“ alle Gewalt auszuüben. Es darf nur die Kraft der Gesetze herrschen und nicht die Kraft des Stärkeren!!!

    Wir leben in einer Zeit, in der in allen demokratischen Staaten die Zivilgesellschaft herausgefordert ist, um nicht später das beklagen zu müssen, was Martin Niemöller in seinem Schuldbekenntnis wie folgt zusammenfasste:

    Als die Nazis die Kommunisten holten,
    habe ich geschwiegen;
    ich war ja kein Kommunist.

    Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
    habe ich geschwiegen;
    ich war ja kein Sozialdemokrat.

    Als sie die Katholiken holten,
    habe ich nicht protestiert;
    ich war ja kein Katholik.

    Als sie mich holten,
    gab es keinen mehr,
    der protestieren konnte.

    Heute ist es unsere Pflicht zu protestieren ; zu protestieren, wenn immer und wo immer Menschen :

    • Gewalt angetan wird
    • ausgegrenzt werden
    • gedemütigt werden
    • diskriminiert werden
    • geschlagen werden
    • gemobbt werden
    • ihrer Menschenwürde beraubt werden
    • ihrer Menschenrechte beraubt werden
    • als Minderheiten von der Mehrheit verachtet und verspottet werden

    Natürlich lehne ich – als Nachgeborener der Nazizeit – die Argumentation einer Kollektivschuld ab.
    Wofür ich jedoch immer wieder streiten werde ist, meiner Forderung nach einer Kollektivverantwortung ohne Wenn und Aber nachzukommen.

    Paul Haverkamp, Lingen

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