Filmfestival in Locarno: Schrei nach Rebellion und Freiheit

Wieder einmal hat das Filmfestivals in Locarno gezeigt, warum es immer einen Besuch wert ist. Dabei mussten sich erfahrene Besucherinnen und Besucher diesmal in mancherlei Hinsicht umgewöhnen.

Von Wolfgang Kessler

Der Besuch des Filmfestivals von Locarno war schon immer ein tolles Erlebnis. Doch nach den Corona-Jahren kamen die starken Seiten dieses Festivals in diesem August wieder voll zur Geltung. Im Gegensatz zu Cannes oder Venedig gewährt Locarno Zugang zu allen Filmen, Zugang zu vielen Gesprächen. Stars und solche, die es werden wollen, werden nahbar. Und wenn die Auswahl der Filme und die Vergabe der Preise dann so mutig ausfällt wie in diesem Jahr, hat sich der Besuch allemal gelohnt.

Noch immer lebt die Grandezza des Festivals von der 26 Meter breiten und 14 hohen Leinwand auf der Piazza Grande. Doch wer von den fast immer 7000 Zuschauern auch 2023 vor allem auf dieses Urerlebnis setzte, blieb von Enttäuschungen nicht verschont. So mancher Piazza-Film war mittelmässig. Und wirklich gute Streifen wie das britische Sozialmärchen „The Grand Oak“ von Regisseur Ken Roach oder das Familiendrama „Anatomie eines
Falles“ wurden dem Anspruch eines Premierenfestivals nicht gerecht, denn sie liefen bereits in Cannes. Da war es gut, dass wenigstens bei Luc Jaquets poetischem wie klimapolitisch brisanten Film „Reise zum Südpol“ Stimmung aufkam. Plötzlich besetzten zwei Klimaaktivisten der Gruppe „Act Now“ die Bühne. Und dann zeigten die Verantwortlichen des Festivals wirklich Grandezza. Sie ließen die Aktivisten reden. Hut ab.

Beim Film Reise zum Südpol besetzten zwei Klimaaktivisten die Bühne (Foto: Paprika Films/ Aster Production/ Arte France Cinema/ Memento Production).

Während das Festival auf der Piazza Grande auf konventionellen Filmpfaden wandelte, bot der Wettbewerb in den Kinos durchweg mutige Filmkunst. Die Filme waren zwar selten direkt politisch, die Konflikte der Gegenwart leuchteten aber immer durch. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie die multiplen, existenziellen Krisen das Leben der Menschen verändern und wie sie darauf reagieren. Viele Filme gingen dieser Frage so originell nach, dass dies von den Juroren belohnt wurde.

So ging der Goldene Leopard an den Film „Critical Zone“ des iranischen Regisseurs Ali Ahmadzadeh. Auf den ersten Blick ist die Geschichte des Drogendealers Amir, der durch das nächtliche Teheran reist, um Stoff zu verkaufen, gar nicht politisch. Doch man spürt in jeder Minute die beklemmende Atmosphäre von Angst, Bedrohung und Gewalt in Teheran. Der Regisseur, der nicht nach Locarno reisen durfte, sieht in dem Film einen „Schrei im Namen der Rebellion und der Freiheit, nicht nur im Iran“. Dieses Statement verlas der Produzent auf der Bühne im Tessin. Bewegend war auch die einfühlsame Geschichte eines Mannes, der während des Krieges in die Ukraine zurückkehrt, um sich um seine sterbenskranke Mutter zu kümmern. Der Film „Stepne“ erhielt den Preis für die beste Regie. In ihrem Statement erinnerte die Regisseurin Maryna Vroda an den Kriegsalltag und an die Teammitglieder, die während der russischen Invasion getötet wurden.

Der Film Patagonia, ausgezeichnet mit dem Ökumene-Preis, gleicht einer Achterbahn der Gefühle (Foto: Filmfestival Locarno).

Um Existenzielles ging es auch der ökumenischen Jury. Mit den Theologen und Filmexperten Marie-Theres Mäder (Schweiz), Petra Bahr und Joachim Valentin (Deutschland) sowie Micah Bucey (New York) hochkarätig besetzt, vergab sie den Ökumene-Preis an den Film „Patagonia“. Er schildert die schwierige Beziehung zweier ungleicher Männer. Der unsichere 20-jährige Yuri trifft den Freigeist Agostino, der in der Welt der Schausteller und Artisten lebt. Juri zieht mit ihm weiter und muss dann erleben, dass dieser ihn ausnutzt, ihn zu beherrschen versucht, ihn aber auch beschützt. Der Film bewege sich auf einer Achterbahn der Gefühle zwischen Gewalt und Zartheit. „Er lässt aber auch Raum für Veränderung und Hoffnung“, so die Jury. Ein Schrei nach Rebellion und Freiheit, Menschlichkeit im Angesicht des Krieges, Gewalt und Zartheit im Leben , aber immer auch Raum für Veränderung und Hoffnung – ein mutiges Fimfestival auf der Höhe einer schwierigen Zeit.

Schreibe einen Kommentar