„Komm ja nicht in die Schweiz!“

Warum syrische Flüchtlinge in Deutschland und Österreich Asyl beantragen

Eigentlich wollte Hamed Abboud in die Schweiz fliehen. Doch er wurde gewarnt, landete schliesslich in Österreich. Dort lebt er jetzt in einer lausigen Unterkunft. Ein Augenschein in Nickelsdorf, wo täglich mehr als 8000 Flüchtlinge die österreichisch-ungarische Grenze passieren – und in einer Asylunterkunft im Südburgenland. Reportage von Renate Metzger-Breitenfellner

Nickelsdorf, der „Hotspot“ an der österreichisch-ungarischen Grenze. (Foto: Metzger-Breitenfellner)
Polizist Helmut Marban bei Nickelsdorf, dem „Hotspot“ an der österreichisch-ungarischen Grenze. (Fotos: Metzger-Breitenfellner)

Hamed Abboud steht in Nickelsdorf, DEM „Hotspot“ an der österreichisch-ungarischen Grenze, wo im Schnitt 8000 Flüchtlinge pro Tag empfangen, verpflegt und dann mit Bussen nach Wien transportiert werden, mit Taxis nach Wien, Salzburg – oder wohin auch immer. Die Situation ist ruhig an diesem Morgen, die Einsatzkräfte von Polizei und Bundesheer sind entspannt, Oberstleutnant Helmut Marban sagt, 4000 Flüchtlinge hätten Nickelsdorf seit Mitternacht passiert, alles sei geordnet abgelaufen. „Wir warten jetzt auf den nächsten Zug.“ Wann der ankomme, sei unklar, die Kommunikation mit den ungarischen Behörden eben nicht gerade perfekt.

Die Flüchtlinge – aus dem Irak, aus Afghanistan und aus Syrien – stehen geduldig in der Schlange, knabbern noch am Gebäck, das sie im Zelt des Roten Kreuzes erhalten haben, das Wetter ist gut, die Stimmung auch. „Danke, allen vielen Dank“, ruft ein junger Mann, „wir sind in Europa, allen vielen Dank“. Ein Flüchtling aus Damaskus erzählt, in Serbien hätte er sich mit seinem sechsjährigen Jungen immer hinten anstellen müssen, weil zuerst Familien transportiert worden seien. Seine Frau und seine Tochter jedoch hätte er zurücklassen müssen. „Für alle hat das Geld nicht gereicht.“ Jetzt fährt er in die Niederlande, den Rucksack auf den Schultern, den Knaben an der Hand, er hofft auf die Anerkennung als Flüchtling – und darauf, dass Frau und Tochter bald nachkommen dürfen.

Die Zusammenarbeit mit Bundesheer und Rotem Kreuz funktioniere einwandfrei, sagt Helmut Marban, 180 bis 200 Polizisten und Soldaten seien pro Tag im Einsatz, Kräfte aus dem Burgenland, aber auch aus den restlichen Bundesländern. Mit Zügen und Bussen kommen die Menschen über die Balkanroute via Ungarn bis vier Kilometer vor die österreichische Grenze, diese passieren sie zu Fuss – und dann geht’s weiter. Irgendwie Richtung Westen oder Norden, vorwiegend nach Deutschland. Marban bezeichnet das Ganze als „humanitären Korridor“ und sagt, für Kontrollen oder gar Registrierung fehle schlicht die Kapazität. Anwesend ist hier in Nickelsdorf immer wieder auch der Burgenländische Polizeidirektor Hans Peter Doskozil, Polizist und ausgebildeter Jurist, Vater von zwei Kindern. Er wird mittlerweile als Anwärter auf eine Politkarriere gehandelt, weil er laut österreichischem Fernsehen „die Flüchtlingskrise mit Herz und Hirn vorbildlich meistert“.

„Die Polizei kann sich um den Taxitarif nicht auch noch kümmern.“ Oberstleutnant Helmut Marban

Renate Grenze taxi170 Euro für ein Taxi nach Wien. Der Flüchtlingsstrom bringt nicht nur Menschen nach Österreich, sondern auch Geld. Viel Geld. Die Busunternehmen werden vom Innenministerium bezahlt, die Besitzer von Lebensmittelgeschäften und Tante-Emma-Läden verbuchen Umsatzrekorde, Wohnungen und Häuser können plötzlich einträglichst vermietet werden. Und dann sind da noch die Taxifahrer. Für eine Fahrt nach Wien verlangen sie 170 Euro – in umgekehrter Richtung beträgt der Tarif rund 100 Euro. Die Nachfrage bestimmt den Preis und offensichtlich hat hier niemand Skrupel, sich die „Standzeit“ von den Flüchtlingen entschädigen zu lassen. Helmut Marban erklärt, ohne die Mitarbeit der Taxifahrer hätte der Ansturm in den letzten Tagen und Wochen gar nicht bewältigt werden können, im letzten Monat hätten an die 130‘000 Flüchtlinge von Nickelsdorf weitertransportiert werden müssen. Um den Taxitarif kann man sich also nicht auch noch kümmern, „obschon die Polizei natürlich eingreifen muss, wenn es sich offensichtlich um Wucher handelt“. Doch so offensichtlich ist das eben nicht, und manche der Flüchtlinge wollen so schnell wie möglich weiter. Sie bezahlen lieber ein Taxi, als in der langen Schlange auf den Bus zu warten.

Ein Iraker hat seine gesamte Familie mit, er hofft auf Arbeit, eine bessere Existenz, auf ein gutes Leben in Deutschland. „Bei uns ist kein Krieg“, sagt er. „Aber es geht uns schlecht, wir haben keine Zukunft. In Deutschland ist alles besser.“ Was er nicht weiss: Dass Deutschland genau in diesen Minuten darüber diskutiert, wenigstens vorübergehend die Grenzen zu Österreich dichtzumachen, um die Situation in Bayern wieder in den Griff zu bekommen, dass der Wiener Hauptbahnhof, wohin er jetzt mit Frau und Kindern fährt, hoffnungslos überfüllt ist, dass – und in deutschen Politsendungen, Internetforen und Talkshows heftig und ausladend über die Grenzen der deutschen Willkommenskultur – und über das Scheitern von Angela Merkels Politik – gestritten wird.

„Wir alle sind mit der Deutschen Welle aufgewachsen.“ Flüchtling Hamed Abboud

Aufgewachsen mit der Deutschen Welle. Hamed Abboud unterhält sich mit einem Landsmann aus Aleppo, übersetzt, wünscht eine gute Reise. Er hat Kommunikationstechnologie studiert, jetzt lebt er im südlichen Burgenland. Er spricht hervorragend Englisch, ein wenig Deutsch, ein wenig Türkisch. Und er stellt sich immer wieder gerne als Dolmetscher und Kulturvermittler zur Verfügung: für Privatpersonen, Schulen, Vereine. Für Hamed ist klar, warum so viele Syrer nach Deutschland fliehen. „Wir alle sind mit der Deutschen Welle aufgewachsen“, erzählt Hamed. Mit deutschem Radio und TV auf Arabisch, mit Informationen über Studienplätze, Jobs und Wirtschaftswunder, mit gratis Audiosprachkursen. Die Idee, dass gut ausgebildete Menschen aus Syrien nach Deutschland kommen sollen, stamme also von den Deutschen selbst, sagt Hamed. Viele seien diesem Ruf gefolgt, und diese Vielen ziehen jetzt viele nach. „Nicht nur wegen der syrischen Diaspora, sondern weil Deutschland das einzige europäische Land ist, das wir aus Radio, TV und Internet wirklich gut kennen.“

Hamed floh im August 2011, als der Krieg Aleppo erreicht hatte. Ein Jahr lebte er in Ägypten, arbeitete als Lehrer, es folgten vier Monate Dubai, ohne Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, danach ein Jahr in der Türkei. Er lernte die Sprache, fand Arbeit. Doch auch hier fehlte die offizielle Bewilligung – und so schloss er sich seinem Bruder Kasem an, der bereits dreimal erfolglos versucht hatte, das Land zu verlassen. Die Brüder machten sich zu Fuss auf die Reise: 14 Tage von der Türkei nach Griechenland, zwei Monate von Griechenland nach Mazedonien (mit vielen vergeblichen Versuchen, die Grenze zu passieren), zwei Wochen in Mazedonien, eine Woche in Serbien, danach über Ungarn nach Österreich.

„Komm ja nicht in die Schweiz“, lautete der einzige Rat, den Hamed Abboud bekam.

Ziel war die Schweiz. Das eigentliche Ziel sei die Schweiz gewesen, erzählt Hamed Abboud. Ein Kollege von ihm lebe seit Jahren dort, erzählt er. „Die Schweiz bedeutet für mich Sicherheit, humanitäre Tradition, Rotes Kreuz, Menschenrechte und Genfer Konvention“, sagt er und schmunzelt. Deshalb habe er seinen Kollegen angerufen, ihn um Rat gefragt. „Komm ja nicht in die Schweiz“, lautete der einzige Rat, den er bekam. Denn: „In der Schweiz ist die Situation für Flüchtlinge prekär, die Stimmung schlecht. Geh irgendwohin – aber komm bitte nicht hierher!“

Hamed entschied sich also für Österreich, kam ins Erstaufnahmezentrum Traiskirchen bei Wien – und wurde danach in eine Unterkunft im südlichen Burgenland geschickt, wo er auf den Asylentscheid warten muss. Gemeinsam mit 24 anderen Flüchtlingen aus dem Irak, aus Pakistan, Afghanistan und Somalia lebt er in einem ehemaligen Gasthaus unter prekären Bedingungen. 25 Personen teilen sich eine winzige Küche (maximal sechs Quadratmeter, wenn überhaupt), eine Waschmaschine (wenn etwas kaputt geht, bleibt die Waschküche zur Strafe zwei Wochen geschlossen), der Zutritt zur Unterkunft ist für Aussenstehende strengstens verboten. Die Vermieterin – sie kassiert 21 Euro pro Person und Tag (das ergibt bei Vollbelegung 15750 Euro pro Monat), muss dafür das Haus sauber halten (und die von Maden bewohnten Teppiche ersetzen) und die Flüchtlinge „verköstigen“. Dass sie für Essen und Getränke viel Geld in die Hand nehmen muss, bezweifelt Hamed. Das Burgenland ist günstig, die Vermieterin kauft das Günstigste vom Günstigen im Grosshandel: Konserven, Aktionen, wenig Gemüse, wenig Früchte, billige Kekse. Fleisch essen Hamed und sein Bruder ohnehin nicht.

„Die Organisation ‚Islamischer Staat‘ ist keine syrische Erfindung, wir sind keine Extremisten.“ Hamed Abboud

Doch Hamed beklagt sich nicht. Sein Bruder und er haben beschlossen durchzuhalten und sich eine günstige Wohnung zu suchen, sobald ihr Verfahren abgeschlossen ist. Bis dahin lernen sie Deutsch, nehmen an den Veranstaltungen teil, die von Freiwilligen organisiert werden, freuen sich über Kontaktmöglichkeiten – und darüber, dass es Menschen gibt, die keine Angst vor Moslems haben. Das ist Hamed wichtig: „Auf unserem Weg von Syrien nach Österreich haben wir mit vielen Menschen gesprochen: Die meisten wissen nichts über unsere Kultur neben dem islamischen Horror und sie wissen nicht, dass wir Hunderte von Jahren mit dem Christentum gelebt haben. Die Organisation ‚Islamischer Staat‘ ist keine syrische Erfindung, wir sind keine Extremisten. Und wir sind nicht gekommen sind, um die Einheimischen zu töten, ihnen unsere Religion oder unsere Kultur aufzuzwingen. Wir wollen überleben und unsere Familien in Sicherheit bringen.“ Und noch etwas erzählt der Syrer: „Die Menschen in Europa haben Angst, Flüchtlingen würden ihnen ihre Arbeitsplätze stehlen. Das Gegenteil ist der Fall: Es wird neue Arbeitsplätze und wirtschaftlichen Aufschwung geben. Ich bin sicher, die Deutschen wissen das aus ihren bisherigen Erfahrungen mit syrischen Einwanderern.“

Train for hope. Hamed setzt sich in den nächsten Tagen gemeinsam mit jungen Schweizerinnen am Hauptbahnhof in Wien als Freiwilliger für die Organisation „train of hope“ für die Flüchtlinge ein, schreibt Gedichte über Krieg und Heimat und über Männer, die nicht wiederkehren, hat vielleicht deshalb seinen Humor behalten, weil er sich Gram und Unsicherheit und Verzweiflung von der Seele schreiben kann. Irgendwann möchte er gerne die Schweiz besuchen, schreibt Hamed. Wenn er seine Papiere hat. Als Tourist ist er ja jederzeit herzlich willkommen!

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