1 Gedanke zu „Nicht sehen, hören, sprechen“

  1. Grüessech zäme
    Der amüsante Bericht wirkt wie ein Spiegel unserer Gesellschaft. Der Begriff Esoterik befasst sich mit dem Weg der menschlichen Wesen nach innen. Diese Art der Definition wird jedoch im Artikel leider nicht vorgestellt, vielmehr bedient sich der Autor etwas abschätzig unserer alten, verstaubten Vorurteile: So wird das Wort esoterisch dann gerne gleichgesetzt mit versponnen oder abgehoben. Diese Eigenschaften finden sich jedoch bei Menschen aller Geschlechter, Alter und Gesinnungen. Der „Esoterik“ kann man sich annähern, indem man in sein eigenes, innerstes Wesen abtaucht, indem man die Dinge innerlich er-lebt, statt sie nur von aussen her zu betrachten, wie es nüchterne Rationalisten wie der „Guru“ unter den Sekten- und Esoterikkritikern, Hugo Stamm, oder der Autor anscheinend tun. Diese ängstlich-abgehobene, nur aus dem sicheren Abstand beurteilende Haltung beschreibt im Artikel – wenn ich jetzt die richtigen Schlussfolgerungen daraus ziehe – die „aufgeklärte, offene, diskurs- und vernunftorientierte Gesellschaft. Es wird von der „Abhängigkeit Leichtgläubiger von Gurufiguren und elitären Gruppen“ gewarnt. Da stimme ich voll und ganz zu: Gerade dann, wenn immer wieder die gleichen „Expertengurus“ in der Öffentlichkeit zum Wort kommen, wenn Vertreter unserer Bildungselite uns mit neuen, wissenschaftlichen Binsen-Forschungsergebnissen an der Nase herumführen (Stichworte: gesunde Ernährung oder Vorsicht – wenig Schlaf kann müde machen), wenn gewiefte Vertreter der freien Marktwirtschaft uns die neuesten Apps und Games aufschwatzen, gerade dann wird die „Abhängigkeit Leichtgläubiger“ und ihre „Flucht aus der Welt des Realen“, nämlich die Flucht aus dem Kontakt zu unserem ureigensten Wesen in eine uns aufgedrängte Nice-to-have-Aussenwelt, besonders schmerzlich ersichtlich. Fälschlicherweise unterstellt der Autor der „Esoterik“ zudem, dass sie uns zum Narzissmus verführt. Etwas mehr Bodenständigkeit und Differenziertheit wären hier durchaus angebracht; man darf nicht einfach so behaupten, dass zuerst das Ei und dann das Huhn da war – ein häufiger Fehler in Schlussfolgerungen, nicht nur von den rationalen Wissenschaften begangen. Die „Esoterik“ ist ebenso wenig Ursache von Narzissmus wie der Hang zum Narzissmus uns in die „Esoterik“ führt. Es gibt da zudem interessantere Korrelationen: Man denke an Instagram, an politische, berufliche oder musikalische Karrieren, wirtschaftliches Wachstumsstreben, architektonische Superlative… Auch der im Artikel erwähnte Johannes Fischler tappt bedauerlicherweise in die gleiche Falle des Im-Kreise-Denkens: Er meint, die esoterische „kuschelige Welt voller Liebe, Licht und Harmonie“ sei es, welche die Menschen an normalem Empfinden von Wut, Angst und Zweifel hindere. Doch so einfach ist es nicht: Alle Menschen, die leiden, die den Weg aus einer vermeintlich kalten, brutalen Welt – also aus dem Disstress – suchen, verkörpern zuerst die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden. Man findet diese Suchenden wohl in der Welt der Klangschalen und Farbprismen, aber auch auf Bergwanderungen und in Möbelgeschäften; wir trinken, rauchen, kiffen, joggen, kämpfen oder brutzeln krebsrot an Meeresstränden. Die im Artikel „esoterisch“ angehauchten Werte wie „Elite, Ideologie und innere Reinheit“ wurden im Dritten Reich hoch gehalten; von diesen Attributen lebt unsere heutige „Scheinwelt“ der Bildungs- und Putzmittelindustrie nun ebenso, wie himmlisches Glück vom richtigen Getränk oder vom richtigen Auto kommt, und zwar so lange, bis der Mensch den Mut findet, aus seinem ängstlich-rationalen, stets diskursiven und sich im Kreis drehenden Denken und gleichzeitig aus dem blinden Gauben an Gebote hinauszuwachsen und sich auf die Suche nach seinen inneren Werten begibt. Früher oder später wird jeder dann mit seinen eigenen Kriegsmonstern wie Wut, Angst und Zweifel konfrontiert und kann – in welcher „Religion“ auch immer – auf dem inneren Weg der Versöhnung Schritt um Schritt Erkenntnis erlangen. Das ist Kraft; das ist Mystik, das ist Esoterik pur!

    Claudia Brunner Buckson, Ittigen

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