„Ich bin ein suchender Anfänger“

Mit seinem neuen Bestseller „Zu spät. Provokation für die Kirche. Hoffnung für alle“ trifft der Einsiedler alt Abt Martin Werlen OSB ins Schwarze der Seele vieler Menschen. Obwohl es eigentlich zu spät ist, fordert der Mönch die Kirche leidenschaftlich auf, veränderbare Traditionen wie etwa das Zölibat loszulassen. Fragen an Buchautor Martin Werlen

Martin Werlen, alt Abt (58).jpg

Pater Martin, in Ihrem neuen Buch „Zu spät. Eine Provokation für die Kirche. Hoffnung für alle“ unterscheiden Sie zwischen der Tradition und den Traditionen, die die Kirche getrost hinter sich lassen kann, wenn sie der Botschaft Jesu im Wege stehen. An welche Traditionen denken Sie?

Immer, wenn jemand sagt, eine Änderung liege nicht in der Kompetenz der Kirche, steigt die Frage nach der Unterscheidung von Tradition und Traditionen laut in mir auf. Betrifft unser Unbehagen das Glaubensgut, die Tradition, oder gewordene, menschengemachte Traditionen, die im Laufe der Geschichte wandelbar sind? Wir müssen den Mut haben, diese Traditionen loszulassen.

Erwarten Sie, dass sich in Sachen Zölibat demnächst etwas bewegt? Diese Möglichkeit hatte kürzlich der Wiener Theologe Paul M. Zulehner öffentlich geäussert.

Die Mitglieder der Amazonas-Synode wissen, dass wir den richtigen Moment verpasst haben, die Verknüpfung von Zölibat und Priesterweihe zu ändern. Jetzt mit Papst Franziskus im Rücken haben sie Freiraum und suchen eine Antwort auf die Frage, was es für die Kirche in der Amazonas-Region heisst, dass es zu spät ist. Wenn die Amazonas-Synode 2019 den Pflichtzölibat aufhebt und verheiratete Männer, viri probati, zum Priesteramt zulässt, wäre das ein sehr beeindruckender Schritt, der Vorbild und Vision für die ganze Kirche wäre. Dabei beeindruckt mich um so mehr, dass dieses Vorbild von einer kirchlichen Region käme, die in unserer Wahrnehmung sonst eher am Rande steht und jetzt möglicherweise in den Mittelpunkt rückt.

„Zu spät.“ heisst ihr Buch, das im Februar die Bestsellerliste anführte . Sie sagen, es ist bereits fünf nach zwölf für die Kirche, eben zu spät, postmodern aufgeklärte Zeitgenossen zu erreichen. Welchen Sinn macht es da noch, das Wort Gottes in die Welt zu rufen?

Das Buch heisst „Zu spät“. Punkt. Mir ist aufgegangen, dass die Heilige Schrift voll ist von Situationen, in denen es eigentlich zu spät ist. Wir sind in der Versuchung, diese Situationen nicht wahrzunehmen. Dem müssen wir uns gerade als Kirche stellen. Und dann passiert etwas…

… zum Beispiel:

Zum Beispiel können wir den Karfreitag leicht übergehen, indem wir sagen, ja, aber nachher ist ja noch die Auferstehung. So nehmen wir die Situation der Jüngerinnen und Jünger nicht ernst, denn für sie war der Aufbruch mit dem Mord an Jesus am Karfreitag definitiv vorbei. Das zeigt die Geschichte der Emmaus-Jünger deutlich. Sie hatten ihre Hoffnung auf Jesus gesetzt und nun ist er als Verbrecher hingerichtet worden. Jetzt ist es zu spät! Wir verkünden nicht die Hoffnung, dass alles wieder so wird, wie es war, sondern eine Hoffnung, die durch alles trägt, auch durch den Tod.

Der Schweizer Bischofskonferenz SBK, deren Mitglied Sie in ihrer Zeit als Abt des Klosters Einsiedeln bis 2013 waren, schreiben Sie ins Stammbuch, dass sie sich von ihrer ängstlichen fünf-vor-zwölf-Haltung verabschieden und Visionen entwickeln sollte. Wie könnten diese Visionen aussehen?

Die Schweizer Bischofskonferenz könnte ohne Probleme mit dem Anliegen, verheiratete Männer nach dem Vorbild der orthodoxen Kirchen zu weihen, in Rom vorstellig werden. Ich glaube, Rom wäre dankbar.

Warum tut die Bischofskonferenz es aber nicht?

Die neue Dynamik, die Papst Franziskus in die Kirche hineinbringen möchte, kommt mir in der Kommunikation der Schweizer Bischöfe noch nicht entgegen. Wenn es gilt, Perspektiven zu entwickeln, heisst es immer noch: die Bischofskonferenz habe für solche Änderungen nicht die Kompetenz. Die Bischöfe reden, als wenn in den letzten Jahren nichts passiert wäre.

Das klingt nicht gerade ermutigend…

… es macht mich traurig, dass die Schweizer Bischöfe, auch gelähmt durch die verfahrene Situation im Bistum Chur mit Bischof Huonder, vor allem abwarten. So nehme ich es wahr.

Wie sieht die Hoffnung aus, von der Papst Franziskus und auch Sie getragen werden?

Grossartig finde ich, dass der Papst nicht weiss, wie diese Hoffnung konkret aussieht. Miteinander müssen wir den Weg gehen, wie er das so verständlich und treffend in Evangelii Gaudium dargestellt hat. Er öffnet die Türen, aber die Leute bleiben stehen. Das ist die Situation des „Zu spät“ für die Kirche, obwohl sich Perspektiven für eine synodale Kirche des Miteinander-Suchens auftun. Der Papst weiss, dass sich Gott in jedem Menschen äussern kann – in jedem, und nicht nur in Getauften. Das ist eine hoffnungsvolle Sprache des Aufbruchs, die offen ist für die Menschen.                   

Interview: Wolf  Südbeck-Baur

Das Gespräch in ganzer Länge lesen Sie in der nächsten aufbruch-Ausgabe Nr. 231

 

2 Gedanken zu „„Ich bin ein suchender Anfänger““

  1. Wie wohltuend! Und nicht nur säuselnd! Werlen bringt es mit dem Wortpaar Tradition – Traditionen genau auf den Punkt. Was muss der Kirche wichtig sein?!? Dieselbe Frage beschäftigt zur Zeit ja z.B. auch die muslimische Welt. Was für eine grossartige Chance, vorwärts zu machen – jeder in seinem Bereich – und sich gegenseitig zu ermutigen.

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