Karl-Josef Kuschel schreibt Gottesleidenschaft ganz gross. Der 75-jährige Theologe befasst sich mit dem Jesus der Literaten und plädiert im
interreligiösen Gespräch für die Einübung der Achtsamkeit auf die Präsenz des anderen.
Von Wolf Südbeck-Baur
aufbruch: Karl-Josef Kuschel, Gott ist für Sie der Unverfügbare. Wenn Gott als der Unverfügbare erfahren und beschrieben wird, ist es unmöglich, eine 1:1 Gotteserfahrung in Worte zu fassen. In welchen Momenten kommt Gott Ihnen am nächsten?
Karl-Josef Kuschel: Immer unter dem Vorbehalt, dass das meine Gotteserfahrung ist, und ich immer wieder neu reflektieren muss, dass sich mein Bild von Gott nochmals unterscheidet vom Unverfügbaren schlechthin. Ich muss mich stets aufs Neue dem Projektionsverdacht stellen, das heisst der entsprechenden Religionskritik seit den Zeiten von Ludwig Feuerbach: Ich mache mir einen Gott, weil ich Trost, Hoffnung und Sinn brauche, also schaffe ich mir etwas. Dem halte ich den prophetischen Zwischenruf entgegen: «Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, spricht der Herr». Dieses prophetische Zeugnis aus dem Alten Testament muss ich stets mitreflektieren. Damit habe ich genügend Distanz, Gott nicht mit meinen Ur-Bedürfnissen zu identifizieren und ihn zu meinem Privatgötzen zu machen. Er muss der Unverfügbare, Unbegreifliche, Unsagbare bleiben. Ein Wort von Kurt Marti, dem grosse Schweizer Lyriker und Pfarrer, habe ich mir für meine Arbeit gemerkt: «Vielleicht hält Gott sich einige Dichter, damit sie die Rede von ihm in jener heiligen Unverfügbarkeit bewahren, die den Priestern und Theologen abhandengekommen ist.» „Heilige Unverfügbarkeit“: ein treffendes Wort und eine Verpflichtung zugleich in einer Gesellschaft wie der unsrigen, die nach Verfügbarkeit, Kontrollierbarkeit, Verzweckbarkeit in allen Lebensbereichen giert.
aufbruch: Sie sind Literaturwissenschaftler und Theologe. Dass Sie keine Germanisten-Karriere eingeschlagen haben, hat mit dem Schweizer Tübinger Hans Küng zu tun. Wie ist es ihm gelungen, Sie für die Theologie zu gewinnen?
Kuschel: Ich fand meine literarischen Interessen bei Küng wieder. U. a. seinetwegen bin ich im WS 69/70 nach Tübingen gegangen. Besonders spannend war ein Seminar, das die damals neue „Frage nach dem historischen Jesus“ behandelte. Jesusbücher von Exegeten und jüdischen Autoren, aber auch gerade erschienene Jesus-Romane kamen zur Sprache. Ich merkte, dieser Theologe ist daran interessiert, auch im kulturellen, also nicht-theologischen Raum zu schauen, ob die christliche Botschaft dort eine Resonanz hat. Als ich mich als Hilfskraft an seinem Institut und in den Seminaren bewährt hatte, lud er mich ein in sein Haus und fragte mich direkt, ob ich mir vorstellen könnte zu promovieren? Das war 1972 nach meinem Staatsexamen in Germanistik und Theologie. Nein, habe ich gesagt, das kann ich nicht. Ich hatte viel zu grossen Respekt vor Menschen, die mit einem Doktorat in der Tasche unterwegs waren. Hinzu kam aber, dass Küng mir eine Assistentenstelle anbot, die für mich und auch für meine Eltern eine gewisse Entlastung bedeutete. Ich wollte endlich auch einmal finanziell unabhängig sein. Inhaltlich kam für mich dazu, dass Küng sagte, wir haben im Seminar feststellen können, dass es zum Jesus-Bild in der modernen Gegenwartsliteratur so gut wie keine Forschungen gibt. Würde Sie das nicht reizen, da Sie ja auch Literaturwissenschafter sind? Der Jesus der Literaten! Das war für mich in der Tat ein sehr verlockendes Angebot. Es ging ganz elementar darum, die kulturelle Kompetenz der Theologie zu präzisieren. Seither ist der Gespräch im Dreieck von Literatur, Literaturwissenschaft und Theologie ein Lebensthema von mir.
aufbruch: Inwiefern ist Literatur eine zeitgenössische Quelle für religiöse Erfahrungen?
Kuschel: Weil in nicht-christlichen Texten religiöse Urfragen eine Rolle spielen, aber auch grosse anthropologische Themen. Und zwar in einer radikal kritischen und gleichzeitig anschaulichen Weise. In diesem doppelten Sinne ist zum Beispiel Albert Camus` Roman „Die Pest“ zu verstehen. Ungezählte haben ihn jetzt wieder während der Pandemie gelesen. Da geht es unerbittlich um die Frage, warum man sich für die Kranken und Sterbenden einsetzen
soll, obwohl man nicht an Gott glaubt. In die Krise kommt hier ein Priester, der meint, die Welt rasch gedeutet zu haben: die Pest sei Ausdruck der Sünde und Strafe Gottes. Doch seine theologischen Phrasen brechen zusammen, als er am Bett eines sterbenden Kindes steht. Oder denken Sie an Thomas Manns vierbändigen Roman „Joseph und seine Brüder“, das grösste literarische Kunstwerk zu einem biblischen Stoff in der Weltliteratur überhaupt oder an die Arbeiten mit biblischen Stoffen bei einem Autor der Gegenwartsliteratur: Patrick Roth. Literaten sind eigene Exegeten mit Sprach und Zeitsensibiltät. Ein Gewinn, ihnen zuzuhören.
aufbruch: Welche Rolle spielt Ihr Studienaufenthalt in Jerusalem 1979 für Ihre Theologie?
Kuschel: Die Entdeckung des real existierenden Judentum, von dessen Vielfalt ich vorher bestenfalls oberflächtliche Kenntnisse hatte. Ich bekam ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Hebrew University und studierte dort erstmals gründlich das orthodoxe Judentum auf der Basis seiner normativen Texte in Mischna und Tamud. Auch das Reformjudentum lernte ich jetzt besser kennen und zwar durch die
Schriften von Martin Buber und dessen „Schüler“ Shalom Ben Chorin. Von intensiven Studien der Hebräischen Bibel nicht zu reden. Unvergessen, wie oft ich auf der Jerusalemer Stadtmauer gesessen habe und mit grösster Spannung dieses Urdokument Israels erstmal gründlich gelesen habe – als Doktor der Theologie damals wohlgemerkt. Mir ging auf: Nur wenn du das orthodoxe Judentum in seiner Treue zum Gesetz verstehst, kannst du auch die Freiheit vom Gesetz wertschätzen, die Paulus für uns Heidenchristen „erkämpft“ hat. Zur Freiheit hat uns Christus befreit! Ja, welche Freiheit denn? Heute denkt jeder, Freiheit ist doch selbstverständlich. Nein, als orthodoxer Jude war Paulus auf diese göttlichen Gebote und Verbote verpflichtet. Der Christusglaube war für ihn folglich ein Freiheitserlebnis und für alle Heidenchristen wie mich seither.
aufbruch: Worauf kommt es im Dialog von Christen und Juden an?
Kuschel: Zunächst gilt für jeden interreligiösen Dialog die unbegrenzte wechselseitige Lernbereitschaft. Man muss die Welt des anderen wirklich kennenlernen wollen, um dann eine Glaubensentscheidung treffen zu können. So musste ich für mich zuerst herausfinden, welche Herausforderung das Judentum darstellt. Es geht letzten Endes um Antwort auf die ganz elementare Frage: Warum sind Juden Juden und wollen nichts anderes sein? Das gilt auch für mein Christsein. Ich brauche Gründe im Vergleich, um zu einer verantwortbaren Glaubensentscheidung zu kommen. Im Kern also geht es darum, Juden und Muslime (um nur diese als Beispiele heranzuziehen) in ihrer Andersheit, in ihrer Fremdheit überhaupt erstmal kennenzulernen und zu verstehen. Erst wenn man diese Andersheit und die Fremdheit des anderen einigermassen verstanden hat, kann man glaubwürdig sagen, ich möchte kein Jude, kein Muslim oder Buddhist werden. Ich halte mich weiterhin an die Urbotschaft, die mir überkommen ist.
aufbruch: In dem neuen Interview-Buch «Ich lerne durch Begegnung», das Sie und Matthias Dobrinski vorgelegt haben, sagen Sie, «Bibel-
Koran-Studien haben eine unmittelbare politische Relevanz». Wie meinen Sie das?
Kuschel: Es gibt kaum eine Vortragsveranstaltung zum Thema Islam von mir, wo ich nicht höre: «Aber die Gewalt im Koran, da werden doch Muslime aufgefordert, Christen zu töten». Ich nehme das ernst, aber folgere daraus: Bedenkt man all die Sterotypen, die über den Koran im Umlauf sind, sind vertiefte Kenntnisse über die religiöse Welt erste und selbstverständliche Voraussetzung dafür, den anderen in seiner Andersheit zu verstehen. Gemäss dem Gebot der Aufklärung, «Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen». Das heisst ganz praktisch: Studiere dieses Buch, den Koran, in seiner Komplexität von mehr als 6000 Versen. Und bedenke immer: Für mehr als eine Milliarde Menschen auf diesem Globus ist der Koran das heilige Buch schlechthin. Es gehört damit zu den einflussreichsten Büchern der Menschheitsgeschichte und der heutigen Weltkulturen. Daher meine die Aufforderung: Verschafft euch ein komplexes Bild von dieser heiligen Schrift, um auf Augenhöhe diskutieren zu können. Das gilt natürlich für alle „heiligen Bücher“, die Bibel inklusive.
aufbruch: Was bedeutet diese Profilierung des interreligiösen Dialogs für das interreligiöse Gespräch konkret in den Gruppen und Organisationen, die sich in der Schweiz fast in jeder Stadt interreligiös auf den Weg gemacht haben?
Kuschel: Im interreligiösen Gespräch geht es um die Einübung der Achtsamkeit für die Präsenz der Anderen. Meine erste Empfehlung an meine Student:innen war immer: Besorgen Sie sich einen interreligiösen Kalender und hängen Sie sich den über ihren Schreibtisch. Schauen Sie jede Woche nach, was für ein Fest in einer der anderen Religionen gefeiert wird. Informieren Sie sich darüber. Denken Sie immer die Präsenz der Anderen mit. Deren Feste, die Herzstücke der jeweiligen Glaubensgemeinschaft sind, haben meist eine lange Tradition.
aufbruch: Was ist für Sie die Mitte des Islams?
Kuschel: Das ist eine sehr prekäre Frage, weil man als Antwortender zur Komplexitätsreduktion gezwungen ist. Nach vielen Jahren intensiver Koranstudien meine ich, für mich darauf eine mögliche Antwort gefunden zu haben. Zur Mitte des Koran gehört die doppelte Schöpfungstheologie. Zum einen: Sei dir stets bewusst, du bist Gottes Geschöpf, du darfst dankbar sein für dieses Leben, du hast eine Verantwortung in diesem Leben. Im Koran geht es also um ein andauerndes Einüben in Schöpfungsbewusstheit und Schöpfungsdankbarkeit. Zum zweiten: Nach deinem Tod erschafft Gott dein Leben neu und zieht dich am Tag des letzten Gerichts zur Verantwortung. Es geht also auch immer um Einübung in Schöpfungsverantwortung. Diese zweite Botschaft war es wohl, die im Mekka des 7. Jahrhunderts auf scharfe Ablehung gestossen ist, denn die damalige Gesellschaft war der Meinung, mit dem Tod sei alles aus. Und bis heute, meine ich, ist dies für viele eine sperrige, unbequeme Botschaft. Dabei verstärkt diese muslimische Botschaft zugleich die christliche: Er wird kommen zu richten die Lebenden und die Toten. Heisst es nicht so im Credo jeder Messe? Man überhört das gerne oder nimmt es nicht ernst. Ich schon.
aufbruch: Bis 2009 waren Sie an der Seite Küngs Vize-Präsident der Weltethos-Stiftung. Welche Bedeutung hat das Projekt Weltethos für den interreligiösen Dialog der Religionen heute?
Kuschel: Küng hatte aufgrund seiner internationalen Erfahrungen erkannt, dass der Faktor Religion in der Weltgesellschaft trotz aller Ambivalenzen eine prägende Rolle spielt. Und dass es ein Trugschluss ist, zu meinen, man könne grosse Ideale wie Weltfrieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung ohne Beteiligung der Religionen oder gar gegen sie erreichen. Grosse Institutionen wie die Unesco etwa vertraten diese Auffassung. Das ist allerdings ein spezifisch westeuropäischer Blickwinkel, den man nicht für den Nabel der Welt halten darf. In Afrika, Asien,
Lateinamerika sieht das ganz anders aus. Dort hat Religion nach wie vor grossen Einfluss auf die Lebenseinstellung von Millionen von Menschen. Vor diesem Hintergrund war Küng der Meinung, wenn man zum Beispiel Menschenrechts-Programme durchsetzen will, muss man die führenden Repräsentanten der Religionen integrieren und zeigen, dass die grossen religiösen Traditionen entsprechende Ressourcen anzubieten haben. So fing das Projekt Weltethos 1989 mit einem Symposium der Unesco über Menschenrechte und Weltreligionen in Paris an. Und Küng dachte einen Schritt weiter: Wenn in Sachen Menschenrechte in den Religionen wichtige Ressourcen vorliegen, gilt das auch darüberhinaus. Er machte sich an die Arbeit, herauszufinden, wo die grossen religiösen Traditionen in ethischen Kernforderungen übereinstimmen. So enstanden zwei Schlüsseldokumente: sein Buch „Projekt Weltethos“ (1990) und die von ihm entworfene „Erklärung zum Weltethos“ (1993) des Parlaments der Religionen der Welt. Heute kann man nicht oft genug unterstreichen, dass der Faktor Religion in der Weltpolitik nicht länger unterschätzt werden
darf. Dieser Gedanke hat sich gerade heute wieder in tragischer Weise bestätigt, weil wir den religiösen Faktor für Russland völlig ignoriert haben. Fassungs- und verständnislos sehen wir den russischen Patriarchen den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine segnen und wissen nicht, dass er damit ein uraltes Muster aus der russischen Geschichte revitalisiert und politisch neu instrumentalisiert hat: Die Idee der Einheit des «heiligen Russland», welche die orthodoxe Kirche jetzt wieder wie eh und je gleichsam metaphysisch untermauert, nachdem sie in der postsowjetischen Zeit wieder eine staatstragende Rolle spielen darf. Das Projekt Weltethos nimmt den Faktor Religion ernst, um ihn in ein Programm von Weltfrieden und weltweiter Gerechtigkeit einzuspannen. Das ist Küngs grosse Leistung.
Der Friede zwischen den Religionen als eine Voraussetzung für den Weltfrieden!
Von Martin Buber stammt die Überlegung, dass „Dialog“ im Tiefsten nicht aus dem bloßen Austausch von Informationen besteht, sondern auf Momenten der Begegnung, die einen Menschen ergreifen, verwandeln, verändern können. In seiner später weltberühmten Schrift „Ich und Du“ von 1923 wird er den Satz niederlegen: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“. Um aber diese Erfahrung wirklichen Lebens zu machen, muss man durch Erfahrungen von „Vergegnungen“ hindurch. Muss sie durchschauen lernen. Muss wissen, was man vermisst.“
Gewiss muss es noch zu vielen dieser „Vergegnungen“ kommen, um bei den Vertretern der Weltreligionen die Einsicht zu verfestigen, dass es keine Monopolansprüche bezüglicher „göttlicher Wahrheiten“ gibt und geben darf und dass allen Religionen – unauslöschbar in ihrer jeweiligen DNA – die Verpflichtung obliegt, für das friedliche und gerechte Zusammenleben von Menschen und für den Erhalt der göttlichen Schöpfung sich immer und immer zu engagieren.
So hat z.B. die kath. Kirche im Konzilsdokument „Nostra aetate“ hinsichtlich ihrer Beziehung zu anderen Religionen mit dem Hinweis, dass auch andere Religionen das Ziel verfolgen, ihre Mitglieder zum Heil zu führen, eine grundlegende Erneuerung in ihrem Verhältnis zu anderen Religionen formuliert:
Im Konzilsdokument „Nostra aetate“ heißt es u.a. in Artikel 2:
„Im Zusammenhang mit dem Fortschreiten der Kultur suchen die Religionen mit genaueren Begriffen und in einer mehr durchgebildeten Sprache Antwort auf die gleichen Fragen.
…..
Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet.
Unablässig aber verkündet sie und muß sie verkündigen Christus, der ist “der Weg, die Wahrheit und das Leben” (Joh 14,6), in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat. Deshalb mahnt sie ihre Söhne, daß sie mit KIugheit und Liebe, durch Gespräch und Zusammenarbeit mit den Bekennern anderer Religionen sowie durch ihr Zeugnis des christlichen Glaubens und Lebens jene geistlichen und sittlichen Güter und auch die sozial-kulturellen Werte, die sich bei ihnen finden, anerkennen, wahren und fördern.”
Der in Warschau 1907 geborene, in Berlin als Rabbiner ausgebildete und schließlich in Amerika lehrende jüdische Religionsphilosoph Abraham Joshua Heschel (verst. 1972), ist davon überzeugt, dass es die Religionen endlich lernen müssen, ihr Konfrontationsdenken durch ein Beziehungsdenken abzulösen. Heschel sieht die dringende Notwendigkeit, in Kategorien der Wechselseitigkeit statt des Dualismus zu denken und statt isolierendes ein vernetztes Denken einzuüben. Zusammenfassend in Form einer Metapher bringt es Heschel auf den Punkt:
„Keine Religion ist eine Insel. Wir alle sind miteinander verbunden. Verrat am Geist auf Seiten eines von uns berührt den Glauben aller. Ansichten einer Gemeinde haben Folgen für andere Gemeinden. Religiöser Isolationismus ist heute eine Illusion.“
Der Schweizer Theologe und Konzilsberater Hans Küng, der Pionier auf dem Themengebiet einer Weltökumene der Religionen, der mit seinem Projekt „Weltethos“ 1990 das bedeutsamste Grundlagenwerk zu einer Ökumene der Weltreligionen vorgelegt hat, weist mit eindringlichen Worten auf die Notwendigkeit eines ökumenischen Dialogs hin: „In unserer heutigen pluralistischen Welt kann keine einzelne Religion, Philosophie oder Ideologie allein ein solches Ethos der ganzen Gesellschaft auferlegen. Und doch ist es möglich und wichtig, einige elementare (nicht minimale) gemeinsame Werte, Maßstäbe und Haltungen in den verschiedenen Religionen und Philosophien zu entdecken. Sie sollten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ins Bewusstsein gerufen werden.“
Die im September 1993 in Chicago verabschiedete Erklärung zum Weltethos enthalten u.a. vier umfassende uralte Richtlinien, die sich in den meisten Religionen dieser Welt finden. Die „vier unverrückbaren Weisungen“ der Charta formulieren diese Richtlinien, die in sehr wesentlichem Umfang auch von Küng mit ausgestaltet wurden, wie folgt:
„Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben
Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung
Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit
Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau“
Am Ende der Charta heißt es dann – formuliert als eindringlicher Appell – zusammenfassend: „ Unsere Erde kann nicht zum Besseren verändert werden, ohne dass das Bewusstsein des Einzelnen geändert wird. Wir plädieren für einen individuellen und kollektiven Bewusstseinswandel, für ein Erwecken unserer spirituellen Kräfte durch Reflexion, Meditation, Gebet und positives Denken, für eine Umkehr der Herzen. Gemeinsam können wir Berge versetzen! Ohne Risiko und Opferbereitschaft gibt es keine grundlegende Veränderung unserer Situation! Deshalb verpflichten wir uns auf ein gemeinsames Weltethos: auf ein besseres gegenseitiges Verstehen sowie auf sozialverträgliche, friedensfördernde und naturfreundliche Lebensformen.“
Hans Küng hat die Bedeutsamkeit der Religionen für Menschen und den Erhalt der Schöpfung wie folgt zusammengefasst:
„Kein Friede zwischen den Nationen ohne Friede zwischen den Religionen!
Kein Friede zwischen den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen!
Keinen Dialog zwischen den Religionen ohne globale ethische Standards!
Kein Überleben unseres Globus ohne ein globales Ethos, ein Weltethos, gemeinsam getragen von religiösen und nichtreligiösen Menschen!”
Paul Haverkamp, Lingen
Dieser lange Kommentar auf den Artikel von K-J. Kuschel ist für mich eine argumentative Zustimmung. Hervorragend. – Den letzten Absatz von Kuschel finde ich nebulös, irritierend. Was will er denn sagen?
Umso mehr bin ich dankbar, ergänzend die Grundlagen nachlesen zu können bei P. Haverkamp. Immer wieder frage ich mich, wie kann ich „ganz einfach“ religiös sein: für mich und meine Mitmenschen.
Aus dem vorstehenden Beitrag bleiben grundlegende Fragen betreffend „Weltethos“, die aus den folgenden Stellen erwachsen.
Zitat 1: „Unsere Erde kann nicht zum Besseren verändert werden, ohne dass das Bewusstsein des Einzelnen geändert wird. “
Überlegung, Frage: Wer ändert? Meint, wer oder was bringt die Menschen in eine gewünschte Spur, wer formuliert diese und setzt sie mit welchen Mitteln durch?
Zitat 2: „Keinen Dialog zwischen den Religionen ohne globale ethische Standards! „Kein Überleben unseres Globus ohne ein globales Ethos, ein Weltethos, gemeinsam getragen von religiösen und nichtreligiösen Menschen!”
Überlegung, Frage: Forderungen lassen fragen nach einer Hierarchie zwischen Religion(en) und dem „Weltethos“. Ordnen sich die Religionen einem „Weltethos“ unter oder steigt eine Religion, leicht variiert, zu einem „Weltethos“ auf? (Letzteres scheidet nach der Vorgabe „von religiösen und nichtreligiösen Menschen!” wohl aus.)
Fernere Überlegung / Sorge: Die Utopie „Weltethos“ könnte auf ihrem Weg zu einer „Eine-Welt-Regierung“ leicht von zwei anderen Utopien (Dystopien) abgehängt werden: die eine, „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley, die andere, „1984“ von George Orwell. Beide wären versklavend, wobei ich „1984“ der „Schönen neuen Welt“ vorzöge, weil sie noch Trotz zuließe.
„Gott ist unverfügbar“ und „Denke den Anderen mit“
Das sind ja zwei sehr klare Sätze, die Orientierung geben können.
Vielen Dank dafür!
Ja, der wahre Gott ist „unverfügbar“, absolut unverfügbar.
Das könnten inzwischen auch die Hohen Herren in der römisch-katholischen Kirche gemerkt haben. Das war lange Zeit nicht so, denn sie regierten und kutschierten, als hätte Gott ihnen die Macht dazu verliehen. Bei aller Einsicht stellte sich, und für viele noch immer, die Frage: Wie austeigen? Es war lange nicht möglich, auch wenn man merkte, dass man im falschen Zug sitzt, weil der in voller Fahrt dahin sauste. In voller Fahrt ist er nicht mehr, darum wird auch ausgestiegen, schmerzhaft, aber nicht zerschmettert, weil da Engel zur Verfügung stehen, die ihe Flügel ausbreiten für eine sanfte Landung.
Das sind grossartige und schlüssige Überlegungen, danke! Nur: Bedeuet ein solcher „kategorische Imperativ“ zum Umgang mit Religion und Glaube nicht letztlich, dass – wer nicht thologisch hochintellektuell und gebildet ist und die Zeit findet, die eigene und die anderen Religionen mit der nötigen Sorgfalt kennen zu lernen – sich lieber gar nicht auf Gott einlassen sollte, weil das Risiko des Irrtums (vgl. die genannten Projektionen) viel zu gross ist? Wie soll denn ein „normaler Mensch“ Gott „korrekt“ erfahren? Die römische Kirche hat dafür mit dem Lehramt schon ein Konzept, aber dieses hat offensichtlich in eine Sackgasse geführt.
Ich habe unglaublich viele Wunder in Erinnerung. Sie haben mich am Leben erhalten, oder vor einem schweren Unfall bewahrt, und deshalb weiss ich, es gibt eine höhere Macht und eine ausserirdische Welt. Sie ist uns ganz nahe. Es ist bezeugt durch Menschen mit der Fähigkeit, ein wenig Einblick zu bekommen, und ich selbst bekam aus dieser Welt fünf lebensrettende Worte zu hören. Wenn ich von Glück rede, dann sage ich: Der gute Gott ist mein Glück. Ich spürte sie, diese Nähe. Mir war, als freue sich der ganze Himmel darüber, dass dem Teufel ein Strich durch die Rechnung gemacht war. Es braucht kein theologisches Studium und keine Religion, um eine solche Erfahrung machen zu können, aber es braucht höchstwahrscheinlich den Glauben: Es gibt einen guten Gott und Jesus ist die Verbindung zu ihm. Mir ist bewusst: Ich lebe, weil Jesus lebt.
Da es in diesem Interview im Hintergrund immer auch um die Unverfügbarkeit Gottes geht, überlege ich, ob man für das Gottesbild eines jeden Menschen nicht auch eine Unverfügbarkeit annehmen darf; Unverfügbarkeit insofern, dass man darüber nicht urteilt.
Das geschieht auf dem hohen philosophischem Niveau aber mit dem Begriff „Götze“, hier „Privatgötze“, denn ein solcher Ausdruck hat immer einen festen je unterschiedlichen Ausgangspunkt und urteilt somit.