Lohngerechtigkeit 1:12

 

oder der verhüllte Klassenkampf in der heilen Schweiz. Ein Kommentar aus protestantischer Sicht

15000 Menschen gingen in Bern für eine sozuiale Wende in der Schweiz auf die Strasse (Foto: Südbeck-Baur
15000 Menschen gingen in Bern für eine sozuiale Wende in der Schweiz auf die Strasse (Foto: Südbeck-Baur)

von Peter Winzeler

Die offizielle Kirche hat sich bei dem Plebiszit vom  24. Novemberstill gehalten, um nicht bei mittelständischen Kirchensteuerzahlenden und inbesondere den juristischen Körperschaften in den Geruch der Parteilichkeit zu geraten oder öffentlichen Anschein zu erwecken, die Christenheit wolle mit gottverlassenen Jungsozialisten gemeinsame Sache machen: einer Minderheit von linken «Radikalen», die im Begeisterungstaumel der vom Volk angenommenen bürgerlichen «Abzockerinitiative» (zur betriebsinternen Beschneidung von exorbitanten Spitzengehältern und Gratifikationen durch die Aktionäre) nun auch mit der Lohngerechtigkeitsinitiative «1:12» das marktwirtschaftliche «Erfolgsmodell» der Schweizer Demokratie beschädigen würden.

Die Fronten im Vorlauf waren fliessend. Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) hielt eine betriebsinterne  Lohndifferenz 1 : 40 für Gottesreich-verträglich (im Sinne von Matthäus 25), nur darüber hinaus gehende Entgelte seien moralisch nicht mit der ethischen «Leistungsgerechtigkeit» zu vereinbaren. Die linksintelligente Wochenzeitung (WoZ) rechnete nach, dass dann auch der Schokoladenkönig von Lindt&Sprüngli (mit 1,5 Mio Jahresgehalt) moralisch unter dem kirchlichen Limit läge, im Verhältnis 1: 33 gegenüber der Reinigungskraft im niedersten Lohnsegment. Ein marxistischer Juso-Sprecher, der sich um das Theoriegerüst wie die Chance der Rückgewinnung politischer Hegemonie verdient machte – gegen den bleiernen Populismus finanzkräftiger Blockparteien – , brachte eine Erweiterung der gesetzlichen Spannweite nach realen Arbeitstunden bezahlter und unbezahlter Arbeit ins Gespräch – der freie Unternehmer, der doppelt so viele Wochenstunden ableistet, würde im ehrlichen Verhältnis  24 : 1 entschädigt werden dürfen. Die Leitartikel der NZZ wiesen anderweitige Umgehungsmöglichkeiten des moralisch verständlichen, aber faktisch «kontraproduktiven» Lohndiktates auf (durch Outsourcing von dienstleistenden Subunternehmen und selbständige Holdings für im Ausland abgeworbene Spitzenverdiener). Wirtschaftfreundliche Juristen bezweifelten diese Flexibilität der Verfassungsreform, die nur auf dem Neid der vom Segen des Reichtums profitierenden Sozialhilfeempfänger beruhe, von denen jeder weiss, dass sie sich lieber an Millionengewinnspiele des Schweizer TV halten. Junge und greise Professoren beschworen – wie in den verlorenen Dekaden der Entwicklungshilfe für verarmte Länder –  den altliberalen Trickle-down-Effekt, wonach eine extreme Scherenentwicklung der Einkommen der Umverteilung  für die am wenigsten Begünstigten diene (John Rawls). Der Arbeitgeberverband zeigte sich rührend um die Balance der bedrohten «Tarifauftonomie»  besorgt, obgleich die Gewerkschaften ohne politische «flankierende Massnahmen» den importierten  Marktverzerrungen längst nicht mehr gewachsen seien – ein selbst im «aufbruch»  verschwiegener Aspekt, als käme es den Initianten gar nicht auf den «genauen Inhalt» der ausgleichenden Massnahmen an, sondern nur auf die Initialzündung einer sozialen Protestbewegung (oder Piratenpartei).

Im Ergebnis wahrten alle Fraktionen das Stillhalteabkommen in Hinsicht auf die europäische Öffnung der Binnenmärkte, um nicht der fremdenfeindlichen (Anti-) Masseneinwanderungsinitiative Vorschub zu leisten, die der Bundesrat am Tag nach dem Plebiszit erst offen anzusprechen wagte.  Da gerade um den heissen Brei der auseinander dividierten working class herumgeredet wurde,  gab es freie Bahn für die primitivsten Parolen, um jeden regulativen Eingriff in den «freien» Arbeitsmarkt als Kommunismus oder «staatliches Lohndiktat» zu geisseln, das schon im Prinzip – erst recht im Mund der gleichgeschalteten Pressevielfalt – die logische Abwanderung der heimatlichen Grosskonzerne und den Bankrott der ganzen Eidgenossenschaft nach sich zöge.

 Wochenlang berieselt, verängstigt und verhetzt haben alle «Stände»  (urbane, grenznahe wie notleidende bäuerliche Kantone) die 1:12 –Initiative «bachab geschickt». Dennoch überschritt die Zustimmung die Schwelle des notwendigen Drittelmasses, das bei historischen Plebisziten noch stets eine unüberhörbare Mehrheit von Armutsbetroffenen und Empörten auch von christlichen, pazifistischen und passiven Wählerschichten signalisierte, um von den vom Bürgerrecht ferngehaltenen und nicht-stimmberechtigten Mitbürgerinnen zu schweigen (mit 65,3 % Nein gegen  34,7 % Ja). Auch von betriebsinternen Drohungen des «Klassenkampfes» von oben ist wenig übrig geblieben, dürfte sich doch manche Belegschaft der kleinen und mittleren Unternehmen, die das Lohngefälle 1:12 nicht überschreiten, sich an den hart erarbeiteten Wohlstand des Werkplatzes Schweiz erinnert haben, bevor die schrankenlose Liberalisierung der Finanzmärkte den Finanzplatz in den Abgrund riss. Der Tagesanzeiger (vom 26.11.) vermeldete recht zynisch einen linkspopulistischen «Achtungserfolg», der sich an den Langzeiterfolgen der vorbildlichen Armeeabschaffungsinitiative (mit 35,6 % Ja) aber nicht messen lassen dürfe. Eher werden ausländische und ökumenische Beobachter/innen die Nah- und Fernwirkungen dieses Exempels von direkter Demokratie (gegen die Übermacht der Finanzdiktatur)  nicht unterschätzen.

Umso peinlicher ist die seismografische Volksferne der «Volkskirche», die das Erste Gebot vergass und ihre Bibel den Anpassungszwängen des Götzen Markt aufgeopfert hat. Thomas Wipf, vormaliger  SEK-Präsident, vertröstete immerhin auf die nationale Mindestlohn-Initiative, die  – auch in Sicht des Gewerkschaftsbundes – das absehbare Scheitern der Lohngerechtigkeitsinitiative partiell ausbügeln könne. Für das neue Verfassungsmodell einer Evangelischen Kirche der Schweiz, deren Präsident eine Art nationales Bischofsamt versehen würde (als Kontaktperson der Bundesregierung wie der Banken und Verbände) kann dieser Testlauf nur ernüchternd eingeschätzt werden. Ohne konsequente Ämterteilung wird der Schweizer Protestantismus keinen «Volkstribunen» bekommen, wie Zwingli das Wächteramt des Guten Hirten (bzw. der Pfarrer/innen) definierte.

Peter Winzeler ist Honorarprofessor für Systematische Theologie an der Uni Bern. Der 65-Jährige ist zudem Pfarrer in Biel.

 

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