Nicht „Distanzierte“, sondern „Offene und Kreative“ nehmen zu
Zur wachsenden Gruppe der „religiös Distanzierten“ (aufbruch Nr. 192, „Ein einig Volk von Distanzierten“)
Toll: Immer mehr Menschen in unserm Land fangen an, selber und individuell ihre religiöse Dimension zu ergründen und zu leben. Über Religion, Glaube Spiritualität kann man heute frei diskutieren in der Bar, am Stammtisch, im Büro, an einem Fest, zuhause; das ist kein Tabu mehr wie vor 40 Jahren. Eine Art von Freiheit, die seit langem ersehnt wurde. In und ausserhalb der Kirchen. Und weil das Thema neu und attraktiv ist, wird es auch immer häufiger in den Medien aufgegriffen. Sogar von der Universität, sogar vom Nationalen Forschungsprogramm NF 58.
Schade nur, dass das tolle und befreiende Phänomen immer noch mit Negativbegriffen benannt wird. „Die Distanzierten sind jetzt schon die grösste Gruppe und machen etwa zwei Drittel der Bevölkerung aus.“, schreibt Prof. Jörg Stolz in seinem Beitrag. Was ist denn mit Distanziertheit gemeint? Wohl Distanz zu den Kirchen, zu den etablierten Konfessionen, welche über (zu)viele Jahrhunderte die religiöse Landschaft unseres Landes definiert und geprägt hatten. Also etwas Negatives, ein Defizit.
Mir gefallen für dieses zwei Drittel der Bevölkerung positive Beschreibungen besser, wie etwa „Aufbrechende“, „Offene“, „Freigeistige“, „IndividualistInnen“ . Ihnen fehlt doch nichts, sie haben sich selbständig und freiwillig auf den Weg gemacht zu einer Art schlichten Ehrlichkeit, jenseits von Kirchensteuern und Bekenntnissen. Bekenntnisse hatte früher noch Sinn, aus vielerlei Gründen. Aber heute? Wir leben in einer Zeit der Ent-Dichtung, spirituell und in andern Lebensbereichen auch.
Diese Chance lässt sich nutzen. Ein Beispiel: Bei der Individualisierung des Feierns zu Lebensübergängen braucht es ein entsprechend breites Angebot von religiös ebenso offenen Fachleuten. Diese sind auch da, verschiedener Couleur. Nachfrage schafft Angebote. Doch auch dort ist noch viel Defizitäres – statt frisch Aufkeimendes – zu spüren. Und dies sogar bei den staatlichen Einrichtungen. Beim Anmelden eines Todesfalles auf dem Bestattungsamt werden vielerorts noch immer selbstverständlich die landeskirchlichen Angebote ungefragt angegeben, alle freien Angebote erst auf Anfrage, als „Notlösung“, genannt, oder gar verweigert.
Nach Bundesverfassung Art. 15 ist in der Schweiz Freiheit der Religion und Konfession garantiert, doch in der Realität geniessen etliche Kirchen Sonderrechte, finanzieller Art oder als Imagepflege in der Politik (leider noch immer). Auch das Wort „konfessionslos“ wirkt wie ein Defizit, wird leider aber noch immer in offiziellen Formularen verwendet. Richtig wäre KONFESSIONSFREI. Nach bald 20 Jahren freier Seelsorge- und Ritualarbeit ist mein Fazit heute: Einen religionslosen Menschen habe ich noch nicht getroffen, im Gegenteil: Da kommt mir ein Reichtum entgegen an spiritueller Wachheit, an religiöser Ehrlichkeit, sowie an angeborenem Symbolwissen, dass ich nur so staune!
Gisula Tscharner, Verband Freischaffender TheologInnen (SVFT)