Ein aufschlussreiches Seherlebnis

Jaakko liebt Filme, vor allem die von John Carpenter. Und so hat er sich im
Laufe der Zeit eine beeindruckende DVD-Sammlung aufgebaut, nur James
Camerons „Titanic“ hat er nie aus der Plastikverpackung geholt. Auch damals
nicht, als er noch sehen konnte. Jaakko leidet an einer ungewöhnlich
aggressiven Multiple Sklerose, die ihn erblinden liess und an den Rollstuhl
fesselt.

Filmkritik von Anna K. Flamm

Mehrmals täglich telefoniert er mit Sirpa, einer Frau, die er online
kennengelernt, aber noch niemals getroffen hat. Mit ihr teilt er seinen
„Murmeltiertag“: sein Erwachen aus dem immer wiederkehrenden Traum, die
gleichförmig ablaufenden Prozesse, die von regelmässigen Anrufen des
besorgten Vaters und abschätzigen Kommentaren der Nachbarn durchsetzt
sind. Die beiden flirten, teilen schöne Dinge, aber auch ihr Leid. Denn auch
Sirpa ist schwer krank. Als sie von den Ärzten eine erschütternde Diagnose
erhält, beschliesst Jaakko, sie auf eigene Faust zu besuchen. Dabei ist er auf die
Hilfe fremder Menschen angewiesen. Was soll da schon schief gehen?

Eindrückliche Kinoerfahrung
Mit seinem Film „The blind man who did not want to see Titanic” nimmt der finnische Regisseur Teemu Nikki sein Kinopublikum visuell eindrücklich mit in die Welt seiner Hauptfigur. Dabei vermitteln Nahaufnahmen die filmische Erfahrung, welche Gefühle es mit sich bringt, blind zu sein. Gesicht und Hände des Protagonisten bekommen hier eine besondere Intensität und Unmittelbarkeit verliehen, während seine Umwelt unscharf und extrem verschwommen gezeichnet wird. Auch die Zuschauenden müssen sich so auf ihre Ohren verlassen. Doch kann man Menschen trauen, deren Gesichter man nicht sieht? Nikkis Film wird mit Jaakkos Entschluss, Sirpa zu besuchen, zu einem von einer unüblichen Liebesgeschichte getragenen Roadmovie, zwischenzeitlich zum spannenden Krimi. Mit einem Drehbuch, das einen feinen Sinn für schwarzen Humor hat, aber die medizinische und gesellschaftliche Situation, mit der Jaakko und Sirpa konfrontiert sind, nicht auf die leichte Schulter nimmt, schafft es „The blind man who did not want to see Titanic“ eine aussergewöhnliche Erfahrung zu kreieren. Eine, die Jaakko warmherzig in frustrierenden, aber auch in freudigen Augenblicken begleitet. Eine, die ihn zwar verängstigt zeigt, aber nicht verängstigter als jeden anderen in seiner Situation und damit deutlich unterstreicht: Er ist kein „Opfer“. Bleibt zu hoffen, dass diese bewegende Erfahrung zu einer angemesseneren Einstellung gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen führt und lebendig hält, was Petri Poikolainen in seiner Rolle des Jaakko verkörpert: „Vergiss nie zu träumen, das ist die Grundvoraussetzung. Nichts wird geschehen, wenn man nicht zu träumen wagt. Schiebe die Dinge nicht auf später, denn du weisst nie, was passieren könnte. Das Leben ist hier und jetzt.“

Der inklusive Film „The blind man who did not want to see Titanic“ ist seit dem 13. Juli in den Kinos der Deutschschweiz. Er ist unter anderem zu sehen in:

Chur im Kinochur
St.Gallen im Kinok
Frauenfeld im Luna
Basel im kult.kino
Zürich im Riffraff
Bern im REX
Luzern im Bourbaki



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