Zwangsheirat – «Heiratsbürde» zwischen Tradition und Religion

In überlieferten religiösen Traditionen ist die Ehe meist die einzige gesellschaftlich akzeptierte Form des Zusammenlebens von Frau und Mann:
Ein Single-Dasein ist nicht vorgesehen. Damit besteht ein Zwang zur Heirat, ein Heiratszwang. Die Sozialwissenschaftlerin Petra Klug interpretiert das Vorkommen von Zwangs- und Minderjährigenheiraten als eine intersektionale Thematik. Religion, Tradition und Kultur gelten ihr als Faktoren unter anderen, weitere wären etwa soziale Schicht, Einkommen, Bildungshintergrund oder Diskriminierungserfahrungen.

Von Christian Urech

Im letzten Dezember war folgende Meldung in den Medien zu lesen: «Das indonesische Parlament hat das Strafrecht verschärft, auch das Sexualstrafrecht. Ab 2025 wird Sex ausserhalb der Ehe verboten sein. Verstösse werden mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft. Weiter dürften Paare vor der Ehe auch nicht mehr zusammenleben. Hier werden als Strafe bis zu sechs Monate Haft möglich sein.» Der Gesetzesentwurf sei trotz Protesten und Kritik von Menschenrechtsorganisationen angenommen worden. Das verschärfte Strafrecht in Indonesien werde grundsätzlich auch für Touristinnen und Touristen gelten. Die Behörden könnten allerdings nur Ermittlungen aufnehmen, wenn ein Familienmitglied Anzeige einreiche.

Indonesien: Einschneidende Eingriffe in die Privatsphäre

Dieser weitreichende Eingriff in die Privatsphäre der Indonesier:innen ist dem wachsenden Einfluss islamistischer Gruppierungen in Parlament und Regierung in Indonesien geschuldet – wie zum Beispiel der einflussreichen islamistischen Front Pembela Islam (Front zur Verteidigung des Islam, FPI), die einer Umfrage zufolge starken Rückhalt bei etwa 20 Prozent der Befragten hat. Noch vor wenigen Jahren galt der indonesische Islam im internationalen Vergleich als gemässigt. Inzwischen gewinnen strenge, ja reaktionäre Deutungen dieser Religion an Einfluss. Dazu tragen
Einflüsse aus arabischen Ländern bei, aber auch die zahlreichen Wahlkämpfe, in denen konkurrierende Parteien und gesellschaftliche Organisationen die Religion politisch nutzen. Indonesien ist das grösste muslimische Land der Welt. 88 Prozent der rund 240 Millionen Einwohner bekennen sich zum Islam. Das südostasiatische Inselarchipel, das durch Händler vom indischen Subkontinent im 16. Jahrhundert erstmals islamisiert wurde, hat dennoch keine islamische Staatsform bzw. ist kein islamischer Gottesstaat, sondern erlaubt unter Bezugnahme auf die offizielle Staatsideologie der Pancasila ausdrücklich das Bekenntnis zu sechs Religionen: Islam, Protestantismus, Katholizismus, Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus. Seit der reformasi von 1998 hat das Land eine demokratische Staatsverfassung.

Was hat der eingangs erwähnte Parlamentsbeschluss denn nun für Folgen? Er ist gewissermassen ein Steilpass für die Zwangsheirat. Wenn er ausserehelichen Sex verbietet, müssen sich (junge) Menschen zwangsläufig verheiraten, wenn sie Sex haben wollen (vor- und ausserehelicher Sex ist in Indonesien selbstverständlich genauso verbreitet wiw überall), und er kriminalisiert gleichzeitig nichtheterosexuelle Sexualpraktiken. Die Durchsetzung eines solchen Gesetzes wäre nicht nur mit grossen Schwierigkeiten verbunden (wenn nicht gar unmöglich), sondern würde innerfamiliärer Denunziation Tür und Tor öffnen.

Zwangsheiraten sind auch in der Schweiz ein soziales Problem

Endogamiezwang heisst die Pflicht, im eigenen Kultur- oder Religionskreis heiraten zu
müssen. «In konservativen Auslegungen des Hinduismus, Christen- oder Judentums
oder im Islam gibt es ähnliche Muster», sagt Anu Sivaganesan, Präsidentin der Fachstelle Zwangsheirat. «In der indischen, jesidischen und sri lankischen Kultur spielt etwa die Kaste eine Rolle.»

Männer im Islam hätten etwas mehr Spielraum, sie dürften auch Frauen aus
sogenannten Buchreligionen heiraten, aus dem Juden- und Christentum, erklärt die Juristin und Menschenrechtsaktivistin. Frauen hingegen nur Moslems. Juden dürften nur Juden heiraten, jedoch keine Blutsverwandten. Für Kurden, Afghanen, Pakistani oder Türken sei es hingegen nicht unüblich, mit dem Cousin, der Cousine verheiratet zu werden. Ehen von Minderjährigen, die im Herkunftsland geschlossen wurden, könnten aktuell nur bis zur Volljährigkeit annulliert werden.

Fachstelle Zwangsheirat leistet wichtige Aufklärungsarbeit

Die Fachstelle Zwangsheirat ist Teil der Organisation Migration & Menschenrechte, die die Trägerschaft ausübt, und wird von Anu Sivaganesan präsidiert, die sich selbst als «Juristin, Menschenrechtlerin und Kosmopolitin» bezeichnet. Ein Schlüsselerlebnis war für sie, dass während ihrer Zeit am Gymnasium in Zug eine gute Schulfreundin in den Ferien in ihrem Heimatland zwangsverheiratet wurde. Weitere ähnlich gelagerte Fälle folgten. Dagegen wollte sie etwas unternehmen: Gemeinsam mit Gleichgesinnten entschied die damals 14-Jährige 2001, sich mit der Organisation zwangsheirat.ch gegen diese menschenrechtswidrige Praxis zu wehren, zunächst einmal, indem man die Öffentlichkeit sensibilisieren und informieren wollte. Das Thema war in der Schweiz bis dato kaum ein Thema. Gewisse Kreise versuchten, das Problem herunterzuspielen, indem behauptet wurde, «das sei bei manchen Nationalitäten nun einmal Teil der Kultur». Aus der Bundesverwaltung legte man der Fachstelle sogar nahe, doch lieber von «Heiratspraktiken unter Migrantinnen und Migranten» zu sprechen – ein Relativierung, die die Mitarbeitenden der Fachstelle nicht akzeptierten.

«In konservativen Auslegungen des Hinduismus, Christen- oder Judentums
oder im Islam gibt es ähnliche Muster»

Anu Sivaganesan
Die Juristin Anu Sivaganesan präsidiert mit grossem Engagement die Fachstelle Zwangsheirat.
Mehr Infos unter zwangsheirat.ch.

Anu Sivaganesan ist in Sri Lanka aufgewachsen. Als sie zwei Jahre alt war, flohen erst ihr Vater und später ihr sechs Jahre älterer Bruder vor dem Bürgerkrieg in die Schweiz. Jahrelang hatten sie nur telefonisch Kontakt, erst zehn Jahre später konnten Anu Sivaganesan und ihre Mutter über den Familiennachzug ebenfalls in die Schweiz kommen. Die Ankunft in der Schweiz erlebte die damals Zwölfjährige als Schock – als Klimaschock, aber auch als «Bildungssturz», musste sie doch, die in Sri Lanka Bestnoten geschrieben hatte, zunächst einmal eine Kleinklasse besuchen, um Deutsch zu lernen, und danach in eine 6. Primarklasse einsteigen. Doch ihr eiserner Wille ermöglichte es ihr, schliesslich ins Gymnasium überzuwechseln und an der Uni Zürich einen Master of Law zu erwerben. In ihre Gymnasialzeit fiel auch der Beginn ihres politischen Engagements. Der Bruder nahm die kleine Schwester mit zu Veranstaltungen gegen Rassismus und für Integration, das Feuer sprang schnell über und sie wurde in verschiedenen Vereinen im Bereich Integration und Menschenrechte aktiv, während Rupan Sivaganesan in die Politik einstieg und für die Linke im Zuger Gemeinde- und Kantonsrat Einsitz nahm. Mit 17 Jahren wurde Anu jüngstes Mitglied der Zuger Integrationskommission. Zu Hause sorgt das Engagement der Geschwister auch mal für Diskussionen, etwa wenn die beiden gegen das in Sri Lanka verbreitete Kastensystem anreden. «Unsere Eltern sind nicht besonders liberal. Aber sie sind sehr offen, wie wir unser Leben gestalten», sagt Anu Sivaganesan. Das hat wohl auch mit deren persönlicher Lebensgeschichte zu tun. In Sri Lanka, wo Ehen im Normalfall von den Eltern arrangiert werden, haben sie aus Liebe geheiratet.

Kontakt: Fachstelle Zwangsheirat www.zwangsheirat.ch. Migration & Menschenrechte, 8000 Zürich | info@zwangsheirat.ch | Helpline 0800 800 007

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