Zwangsheirat ist eine Menschenrechtsverletzung

Die Fachstelle Zwangsheirat erhält wöchentlich fünf bis 14 neue Meldungen. In rund einem Drittel der Fälle sind Minderjährige betroffen. Dass so viele um Unterstützung anfragen, zeigt, dass Zwänge rund um Heirat und Partner:innenwahl auch in der Schweiz ein soziales Problem sind. Hierzulande sind es Mädchen und junge Frauen mit Wurzeln aus Ländern wie Sri Lanka, Irak, Kosovo, Libanon, Türkei, Syrien, Eritrea, Nordmazedonien, Pakistan oder kurdischen Gebieten. Das widerspiegle zu einem Teil das Einwanderungssetting in der Schweiz.

Von Christian Urech

Doch es seien nicht nur Mädchen oder Frauen, die bei der Fachstelle Hilfe suchten, sagt die Präsidentin der Fachstelle, Anu Sivaganesan. 19 Prozent seien junge Männer. Denn immer sei es ja auch ein Mann, der eine Frau heiraten müsse, die vielleicht nicht seine (erste) Wahl gewesen wäre. «Oft sind es homosexuelle junge Männer, die verheiratet werden, damit die ‹Schande› vertuscht werden kann. Ein Coming-out ist undenkbar», so Sivaganesan. Oder es betreffe einfach Männer, die die «falsche» Freundin hätten.

Sind die Verheirateten 18 Jahre alt, wird die Ehe in der Schweiz bislang rechtlich anerkannt, selbst wenn die Betroffenen bei der Eheschliessung minderjährig waren. Wenn einer der Ehepartner nicht in der Ehe bleiben möchte, muss der Weg der Scheidung eingeschlagen werden, ausser es kann bewiesen werden, dass es sich um eine Zwangsheirat gehandelt hatte. Da sich jedoch viele Minderjährige dem Diktat der Eltern unterwürfen und «freiwillig» Ja sagten, sei der Tatbestand «Zwangsverheiratung» oft schwierig zu beweisen. Fakt sei aber: Sei kein wirklich freier
Entscheid möglich, handle es sich um Zwangsverheiratung selbst dann, wenn Betroffenen erst später bewusst werde, unter welchem Druck sie gestanden hätten.
Doch es seien nicht nur Mädchen oder Frauen, die bei der Fachstelle Hilfe suchten, sagt die Präsidentin der Fachstelle, Anu Sivaganesan. 19 Prozent seien junge Männer. Denn immer sei es ja auch ein Mann, der eine Frau heiraten müsse, die vielleicht nicht seine (erste) Wahl gewesen wäre. «Oft sind es homosexuelle junge Männer, die verheiratet werden, damit die ‹Schande› vertuscht werden kann. Ein Coming-out ist undenkbar», so Sivaganesan. Oder es betreffe einfach Männer, die die «falsche» Freundin hätten.

Sind die Verheirateten 18 Jahre alt, wird die Ehe in der Schweiz bislang rechtlich anerkannt, selbst wenn die Betroffenen bei der Eheschliessung minderjährig waren. Wenn einer der Ehepartner nicht in der Ehe bleiben möchte, muss der Weg der Scheidung eingeschlagen werden, ausser es kann bewiesen werden, dass es sich um eine Zwangsheirat gehandelt hatte. Da sich jedoch viele Minderjährige dem Diktat der Eltern unterwürfen und «freiwillig» Ja sagten, sei der Tatbestand «Zwangsverheiratung» oft schwierig zu beweisen. Fakt sei aber: Sei kein wirklich freier
Entscheid möglich, handle es sich um Zwangsverheiratung selbst dann, wenn Betroffenen erst später bewusst werde, unter welchem Druck sie gestanden hätten.

«Von Minderjährigen geschlossene Ehen müssen bis zu einem Alter von 25 Jahren annulliert werden können.»

Anu Sivaganesan

Darum fordert Anu Sivaganesan: «Von Minderjährigen geschlossene Ehen müssen bis zu einem Alter von 25 Jahren annulliert werden können.» Entsprechende Bestrebungen seien derzeit auf Bundesebene im Gang. Ein weiterer Missstand sei, dass Verlobungen Minderjähriger in der Schweiz erlaubt seien. «Das kann dazu führen, dass Kinder in eine zukünftige Ehe gedrängt werden.»

Religionen erlassen Normen und Regeln in Bezug auf Heirat und Sexualität, die zu Heiratsbürden werden können. Religiöse Traditionen vermitteln gesellschaftliche Werte, auch in Bezug auf die Positionen der Geschlechter. Religionen werden aktiv und situativ konstruiert: Auch kaum oder gar nicht praktizierende Familien können als Legitimierung für die Durchsetzung ihrer Vorstellungen religiöse Vorgaben und Verbote angeben.

Zwangsheiraten im «Haus der Religionen»

Im Herbst 2022 wurde bekannt, dass es im Haus der Religionen in Bern «durch einen unbekannten Imam» (Mustafa Memeti) zu Zwangsheiraten kam. Mustafa Memeti, der die Zwangsheiraten als «abscheuliche Verbrechen» bezeichnet, war bis Ende April dieses Jahres Leiter des Muslimischen Vereins Bern, der an dem interreligiösen Projekt Haus der Religionen in Bern beteiligt ist. Zudem ist Memeti Präsident des Vorstandes des Albanisch Islamischen Verbands Schweiz. Darüber hinaus ist er auch als Seelsorger in der Strafanstalt Thorberg tätig. 2014 wurde Memeti von der SonntagsZeitung zum «Schweizer des Jahres» ernannt, weil er gegen Extremismus und für friedliches Zusammenleben einstehe. Per Ende April 2023 trat Memeti infolge der Zwangsheiraten im Haus der Religionen auch als Imam des muslimischen Vereins Bern zurück; sein Sohn Vaxhid Memeti soll noch bis Mitte Jahr die Nachfolge seines Vaters im Muslimischen Verein Bern übernehmen.

Die aufgedeckten Fälle seien nur bekannt geworden, weil sich einige Opfer hilfesuchend an die Fachstelle Zwangsheirat gewandt hätten. «Es könnte aber noch mehr Fälle geben», sagte Anu Sivaganesan gegenüber der Tamedia. Doch die offizielle Klärung, ob es noch mehr Zwangsheiraten gegeben habe, gestalte sich schwierig. Mustafa Memeti behaupte bis heute, es gebe keine Dokumente. Laut dem abgetretenem Präsidenten seien die Heiratsurkunden nicht aufbewahrt worden und die Vorlagen im Computer habe man jeweils sofort gelöscht.

Kinder sind keine Brautleute

«Kinder und Jugendliche dürfen Hochzeit spielen – wenn das Spass macht. Aber im echten Leben sind Kinder keine Brautleute, sind minderjährige Mädchen keine Ehefrauen. Nur Erwachsene ab 18 dürfen heiraten – so will es das Schweizer Gesetz. (Art. 94 ZGB). Doch trotzdem verheiraten Eltern ihre minderjährigen Töchter – auch Söhne – und nicht selten wenden sie dabei Druck an und manchmal auch offenen Zwang. Warum handeln Eltern so? Warum tun sie das ihren Kindern an?», fragt Anu Sivaganesan in einem Video auf der Webseite zwangsheirat.ch.

Weil sie das 2E-Modell verinnerlicht hätten, erklärt sie. Zwischen der elterlichen Familie und der ehelichen Familie finde ein nahtloser Übergang – oder besser: eine Übergabe – statt. Von der Aufsicht durch die Eltern gehe es direkt in den Hafen der Ehe. Die Familie biete den Kindern einerseits Geborgenheit und Bindung, andererseits erwarte sie auch Anpassung, Gehorsam, sogar Unterordnung. «Doch Kinder brauchen auch Freiraum, Freiheit, um sich zu Persönlichkeiten zu entwickeln, die ihr Leben selber in die Hand nehmen können. Das bedingt eine gewisse Emanzipation von der Herkunftsfamilie, es bedingt die Möglichkeit, selbstbestimmt ausprobieren zu können: in der Ausbildung, im Beruf, in Liebe und Sexualität.» Das entspreche dem 3-E-Modell. Es bedeute, aus der elterlichen Familie herauszutreten, Eigenständigkeit zu entwickeln und in Sachen Beziehung einen eigenen Lebensentwurf zu wählen.

«Kinder und Jugendliche dürfen Hochzeit spielen – wenn das Spass macht. Aber im echten Leben sind Kinder keine Brautleute, sind minderjährige Mädchen keine Ehefrauen.»

Anu Sivaganesan

«Warum aber folgen manche Eltern dem 2E-Modell? Warum drängen sie ihre minderjährigen Töchter vom heimischen Familientisch ins arrangierte Ehebett?» Unter anderem genau deswegen, weil sie das Gefühl hätten, sie müssten die Sexualität ihrer Kinder, vor allem der Töchter, kontrollieren – um zu vermeiden, dass diese sexuell aktiv würden, ihre sogenannte Jungfräulichkeit verlören. «Das Tabu der vor- beziehungsweise ausserehelichen Sexualität ist ein wichtiges Motiv für die Minderjährigenheirat. In manchen Ländern wie etwa Afghanistan wird Sexualität vor und ausserhalb der Ehe erheblich bestraft. Menschen, die mit solchen Gesetzen aufgewachsen sind, nehmen diese auch als ihre sittliche Orientierung an. Sie glauben deshalb, es sei richtig und nötig, ihre Töchter so früh wie möglich zu verheiraten – auch in der Schweiz.» Doch hier sei es gerade umgekehrt. Bereits Kinder dürften Sex haben – wenn sie unter sechzehn Jahre alt seien, dürfe ihr Gegenüber allerdings höchstens drei Jahre älter oder jünger sein. Heiraten sei jedoch erst ab dem 18. Altersjahr möglich.

Warum aber, wenn grundsätzlich nur Erwachsene heiraten dürften, komme es zu Minderjährigenheiraten in der Schweiz? «Indem manche Familien Umwege und falsche Auswege finden. Sie verheiraten ihre minderjährige Tochter in einer ausschliesslich religiösen Zeremonie. Damit verstossen sie dennoch gegen das Gesetz.» Denn in der Schweiz sei die Ziviltrauung obligatorisch und eine religiöse Trauung zuvor sei untersagt. Diese Regelung sei kein alter Zopf, sondern habe angesichts von Minderhjährigenheiraten neue Aktualität erhalten.

«Das allein aber genügt nicht, um zum Beispiel jene Betroffenen zu schützen, die im Ausland, etwa in den Sommerferien, minderjährig verheiratet wurden.» Bereits 1990 habe die afrikanische «Charta für das Wohlergehen der Kinder» klar definiert, die Verheiratung und Verlobung von Menschen unter 18 Jahren seien eine sozial und kulturell schädliche Praxis, die unbedingt überwunden werden müsse. Das gelinge letztlich durch Aufklärung und Sensibilisierung. Eltern sollten erkennen, dass sie ihren Kindern gegenüber in der Pflicht stünden, dass sie in der Verantwortung seien, ihren Kindern den Weg für ein gutes, ein würdevolles, ein selbstbestimmtes Leben zu ebnen. «Vor 100 Jahren, 1923, hat der aus dem Libanon stammende Dichter Khalil Gibran die elterliche Verantwortung poetisch beschrieben. Sein Appell an die Eltern für die Entfaltung der Rechte der Kinder gilt heute wie damals:

Eure Kinder

Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht
des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.

Ihr dürft ihnen eure Liebe geben,
aber nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben,
aber nicht ihren Seelen,
Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen,
das ihr nicht besuchen könnt,
nicht einmal in euren Träumen.

Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein,
aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts
noch verweilt es im Gestern.

Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder
als lebende Pfeile ausgeschickt werden.
Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
und er spannt euch mit seiner Macht,
damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.
Lasst eure Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;
Denn so wie er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.

Khalil Gibran

Kontakt: Fachstelle Zwangsheirat www.zwangsheirat.ch. Migration & Menschenrechte, CH–8000 Zürich | info@zwangsheirat.ch | Helpline 0800 800 007

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